3. KAPITEL

Sobald Zacharel sich in die Lüfte erhob, wurde der Riss in seiner Brust länger, und er hätte schwören können, er hörte Eis knacken. Wären ein paar Worte an den Arzt wirklich eine Einmischung? Er flog langsamer. Danach würde er in seine Wolke zurückkehren, die Frau vergessen und weitermachen, wie er es immer getan hatte. Allein, unbeeindruckt und unbewegt. So, wie er es mochte. So, wie es vermutlich auch seiner Gottheit am liebsten war.

Sehr gut. Er hatte sich entschieden.

Zacharel kehrte in den Raum zurück und materialisierte sich vor den Augen des Menschen. Eines Menschen, der für seine Untaten den Tod verdiente. Doch Zacharel würde ihm keinen Schaden zufügen. Er konnte sich nur mit dem Wissen begnügen, dass der Arzt eines Tages all das Übel ernten würde, das er gesät hatte. Wie es jedem am Ende erging.

Bevor der Mann in Panik geraten konnte, blickte Zacharel ihm tief in die Augen und sagte kalt: „Du hast etwas Besseres zu tun.“

Der Arzt erschauderte. Gefesselt vom Klang der Wahrheit in Zacharels Stimme erwiderte er: „Was Besseres. Genau. Hab ich.“

Na also. Was Zacharel hier machte, war gar nicht so sehr Einmischung – vielmehr half er dem Arzt, sich zu erinnern an … was auch immer er als wichtiger empfand, als eine seiner Patientinnen zu misshandeln. „Du wirst diesen Raum verlassen. Du wirst nicht zurückkommen. Du wirst dich an diese Nacht nicht erinnern.“

Der Arzt nickte, machte auf der Stelle kehrt und klopfte an die Tür.

Während Zacharel sich in einer Luftfalte verbarg, entriegelte die Wache mit überraschter Miene von draußen die Tür und warf einen Blick auf das Mädchen. „Schon fertig, Dr. Fitzherbert? Ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie brauchen eine Weile.“

„Ja, ich bin schon fertig“, ertönte monoton zur Antwort. „Ich werde jetzt gehen. Ich hab was Besseres zu tun.“

„O-kay.“

Erneut quietschten die Scharniere, und dann war Zacharel wieder allein mit dem Mädchen.

„Ich dachte, du wolltest mich nicht retten“, presste sie heiser hervor, während sie immer noch irgendwo in die Ferne außerhalb des Raums blickte. Was sah sie mit diesen Augen?

Schöne Augen, zumindest, wenn er sich für solche Dinge interessiert hätte – was er nicht tat. „Du hast mich gefragt, ob ich gekommen sei, um dich zu retten, und das war ich nicht. Ich bin aus einem anderen Grund hergekommen.“

„Oh.“ Jetzt räusperte sie sich und schluckte. „Na ja, trotzdem danke. Dass du ihn weggeschickt hast, meine ich.“

Hm. Es gefiel Zacharel, ein Danke aus ihrem Mund zu vernehmen, denn so eingerostet, wie sie dabei geklungen hatte, hegte er den Verdacht, dass sie das nicht oft sagte. Vielleicht einfach, weil ihr niemand Grund dazu gab – und warum schmerzte seine Brust schon wieder so? „Was hätte er mit dir gemacht?“

Stille.

„Also hätte er dir Leid zugefügt.“ So viel hatte Zacharel bereits erraten. „Hat er dir schon einmal Leid zugefügt?“

Wieder Stille.

„Das ist ein Ja.“ Menschen zu töten war nichts, das Zacharel normalerweise genoss, doch er verabscheute es auch nicht. Er konnte jedem alles antun, ohne auch nur einen Funken Reue zu verspüren. Doch diesem Arzt das Herz aus der Brust zu reißen, hätte ihm möglicherweise zu einem kleinen Adrenalinschub verholfen. „Korrekt?“

Noch mehr Stille.

Ich werde mit voller Absicht ignoriert. Winzige Schocks ratterten wie Sprengsätze durch seinen Körper. Noch nie war er einfach nicht beachtet worden. So verwildert seine Männer auch sein mochten, selbst sie hörten ihm zu – bevor sie unverfroren gegen jeden seiner Befehle verstießen. Und sein früherer Anführer, Lysander, hatte jedes seiner Worte in seine Entscheidungen mit einbezogen. Und darüber hinaus hatten ihn sogar die einzigen Wesen außerhalb seiner Art, die er als … was betrachtete? Nicht als Freunde, aber auch nicht als potenzielle Vernichtungsziele. Die dämonenbesessenen Unsterblichen, die als die Herren der Unterwelt bekannt waren, hatten an seiner Seite gekämpft und sich seinen Respekt verdient für die Kraft und Verbissenheit, mit der sie dem Bösen in ihren Körpern die Stirn boten. Und selbst sie hatten ihn immer voll gebannter Faszination betrachtet. Die wenigen Menschen, die ihn über die Jahrhunderte erblickt hatten, waren vollkommen hypnotisiert gewesen.

Dass dieser Zwerg von einem Mädchen ihn so einfach abservierte, warf ihn völlig aus der Bahn.

Bevor er beschließen konnte, wie er damit umgehen sollte, spazierte Thane durch die gegenüberliegende Wand herein und nahm die Szene mit seinem saphirfarbenen Blick in Sekundenbruchteilen auf. Zorn loderte in seinem Gesicht auf beim Anblick des verletzten Mädchens, das dort an den Tisch gefesselt lag. Doch er stellte Zacharel keine Fragen. Wenigstens etwas.

„Die Dämonen sind eliminiert, Eure Majestät, und der eine, nach dem Ihr verlangt habt, wurde in Eure Wolke gebracht. Lebendig.“ In seiner rauchigen Stimme flackerten Flammen auf.

Langsam wandte die Frau den Kopf, wobei ihr dicke, zerzauste Locken ins Gesicht fielen und die Sicht versperrten. Sie blies die Strähnen fort und betrachtete Thane.

„Sieh an, ich bin ja echt gefragt heute Nacht. Bist du auch ein Engel?“, fragte sie und ließ den Blick über seine immer noch schwarzen Flügel wandern.

Zacharel konnte nicht umhin, zu bemerken, dass Thane nicht solche Zweifel zu wecken schien wie er.

„Ja.“ Thane schnupperte in die Luft, runzelte die Stirn und richtete dann einen bohrenden Blick auf Zacharel. „Habt Ihr vor, sie zu befreien?“

„Nein.“ Wie kam er darauf?

Der Blick wurde missbilligend. „Aber warum … Egal. Wenn Ihr Eure Meinung über sie geändert habt, werde ich sie mitnehmen.“

Obwohl sie nicht wussten, warum sie hier war oder was sie getan hatte? „Nein“, wiederholte er.

Thane verbeugte sich, wie ein Sklave, der von seinem Herrn auf seinen Platz verwiesen worden war. „Natürlich nicht, Eure Majestät. Wie unerhört von mir, ein so albernes Verlangen zu verspüren. Niemand an einem Ort wie diesem verdient Mitgefühl, nicht wahr?“

Würden seine Männer ihm jemals fraglos gehorchen? „Wurden während des Kampfs Menschen verletzt?“, wollte er wissen. Das Mädchen war nicht die Einzige, deren Fragen er ignorieren konnte.

Mit erhobenem Kinn erwiderte Thane durch zusammengebissene Zähne: „Eine der Wachen. Ein Feuerschwert hat ihn in der Mitte durchtrennt.“

Zum zweiten Mal an diesem Tag spürte Zacharel, wie seine Hände sich zu Fäusten ballten. Direkter Ungehorsam – schon wieder. „Ein Feuerschwert durchtrennt nicht aus Versehen einen Menschen.“ Während ein Engel auf der spirituellen Ebene handelte, konnten nicht einmal seine Waffen von Menschen wahrgenommen werden – geschweige denn berührt. Der Engel, der diese Tat begangen hatte, musste also in voller Absicht ins Reich der Sterblichen übergetreten sein.

„Der Wächter war besessen und musste sterben“, erklärte Thane.

„Und trotz des Dämons in seinem Inneren war er immer noch ein Mensch. Wer hat meine Befehle missachtet?“

Thane fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Vielleicht war ich es.“

Doch so vertraut, wie Zacharel mit den Tricks zur Umgehung des Klangs der Wahrheit war, wusste er, dass Thane nicht der Schuldige war. „Wer? Du wirst es mir sagen, oder du wirst dabei zusehen, wie ich Björn und Xerxes bestrafe.“ Die Wahrheit. Er würde es ohne die geringsten Gewissensbisse tun.

Wieder eine Pause, diesmal einen Moment länger. „Jamila.“

Jamila. Eine von vier Frauen in seiner Armee, doch sie war diejenige, der er am meisten vertraut hatte. Sie war die Einzige, die niemals seine Autorität infrage gestellt hatte. Und doch würde er jetzt ihretwegen zum neunten Mal ausgepeitscht.

„Du da“, meldete sich die Frau auf der Krankenhaustrage, und Verärgerung klang aus ihrem Ton. „Neuer. Engelchen. Käpt’n Locke, oder wie auch immer du genannt werden willst. Ich hab das Fragen satt, das ist jetzt ein Befehl: Befrei mich.“

Zacharel musste allen Ernstes gegen den Drang ankämpfen, zu lächeln. Er. Lächeln. Die Absurdität war nicht zu fassen. Doch soeben hatte sie seinen Krieger mehrfach beleidigt, genau wie dieser Krieger Zacharel immer wieder beleidigte.

Thane entspannte sich, und ihm entschlüpfte ein leises Lachen. „Käpt’n Locke. Das gefällt mir. Aber, mein schönes Menschenkind, du hast mich gebeten, dich zu retten, nicht, dich zu befreien.“

„Ist doch dasselbe“, gab sie entnervt zurück.

„Da gibt es einen großen Unterschied, lass dir das gesagt sein. Aber was willst du tun, wenn ich deinen Befehl missachte, hm?“

Und sie gurrte ein seidiges „Glaub mir, das willst du nicht wissen“.

Zacharel presste die Lippen zusammen. Langsam amüsierte ihn das nicht mehr. Flirteten die etwa? Er konnte nur für sie hoffen, dass dem nicht so war. Er und Thane waren im Einsatz.

„Weil dieses Wissen mich nicht aufhalten würde?“, erwiderte Thane ebenso seidig.

„Weil es so widerwärtig ist, dass du allein von der Vorstellung kotzen wirst.“

Thane hustete – oder vertuschte ein Prusten. Schwer zu sagen. „Hast du das gehört?“, fragte er Zacharel und sprach zum ersten Mal seit Beginn ihrer Bekanntschaft mit ihm, als wären sie Freunde. Als teilten sie einen Moment der Gemeinsamkeit. „Sie hat mir gerade befohlen, ihr zu gehorchen, und dann gedroht, mir wehzutun, wenn ich mich nicht füge.“

„Ich habe Ohren“, erwiderte er trocken. „Ich habe es gehört.“ Aber warum hatte sie das nicht auch mit Zacharel gemacht?

„Und sie glaubt tatsächlich, dass sie Erfolg haben wird“, fuhr Thane erstaunt fort.

„Du musst nicht gleich so beeindruckt klingen“, wies Zacharel den Engel zurecht. Der Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht. Wenn Thane beeindruckt war, würde er die Frau begehren … und vielleicht vor nichts zurückschrecken, um sie zu bekommen.

Thane blickte ihn finster an. „Ich bin einfach nur neugierig. Und wenn’s sein muss, frage ich eben doch, obwohl es mich nichts angeht. Warum hast du Anspruch auf sie erhoben, wenn du sie hier zurücklassen willst?“

„Ich habe keinen Anspruch auf sie erhoben.“ Die Worte konnten gar nicht schnell genug aus seinem Mund purzeln.

„Warum hast du sie dann von oben bis unten mit deiner Essenzia bedeckt?“

„Ich habe sie nicht angefasst.“

„Und doch trägt ihre Haut dein Zeichen.“

„Das ist nicht meins.“ Essenzia war eine Substanz, die durch ihre Körper floss. Manchmal drang sie durch die Poren ihrer Hände nach außen und nahm die Form eines feinen Puders an, mit dem sie Besitzansprüche auf jedes Objekt sichtbar machen konnten, das sie als ihr alleiniges Eigentum betrachteten. Dämonen produzierten eine ähnliche Substanz, nur verdorben, besudelt.

Verblüfft musterte Zacharel die Frau. „Ich habe niemals Anspruch auf einen Menschen erhoben.“ Er hatte noch nicht einmal das Verlangen danach verspürt. „Sie schimmert nicht.“ Er konnte nichts Ungewöhnliches an ihrer Haut entdecken.

Schamlos erwiderte sie seine Musterung, und er trat von einem Fuß auf den anderen. Er. Herumzappeln. Unfassbar!

„Ganz im Ernst“, erklärte Thane, „das Schimmern ist ganz matt, aber es ist da, und eine unmissverständliche Warnung an jeden anderen Mann, die Finger von deinem Eigentum zu lassen.“

Seinem Eigentum? Unmöglich. „Du irrst dich, das ist alles.“

„Argh!“, unterbrach das Mädchen sie. „Ich hab’s satt, mir dieses schwachsinnige Gelaber anzuhören. Ihr Flattermänner seid echt das Letzte! Vergesst einfach, dass ich hier bin. Oh, Moment. Habt ihr ja schon. Dann hab ich ’ne andere Idee für euch: Verschwindet.“

Sie hatte mehr Temperament, als selbst Zacharel gedacht hatte. Jetzt musste er aufpassen, dass er nicht selbst beeindruckt war. Oder erstaunt. „Geh“, befahl er seinem Krieger. „Ich will, dass du mit meinen anderen Ratgebern“ – was Jamila einschloss – „in meiner Wolke auf mich wartest. Nein, vergiss das. Du nicht. Geh und finde jedes Detail über diese Menschenfrau heraus, das es zu wissen gibt.“ An ihm nagte das Bedürfnis, mehr über sie zu erfahren. Besser, er schenkte dem Gehör, als nachher zu bereuen, es nicht getan zu haben.

„Was immer Ihr befehlt. Majestät.“ Thane stapfte aus dem Raum. Kurz bevor er verschwand, warf er dem Mädchen einen letzten Blick zu, und wieder ballten sich Zacharels Hände ohne sein Zutun zu Fäusten. Wie oft sollte das an einem einzigen Tag denn noch geschehen, wo er es doch zuvor über Jahre nicht getan hatte?

„Wenn du etwas über mich wissen willst“, warf sie Zacharel scharf an den Kopf, sobald sie allein waren, „hättest du mich auch einfach fragen können.“

„Und dir damit Gelegenheit geben, zu lügen?“

Verletzt sah sie ihn an, aber eine Sekunde später war der Ausdruck verschwunden. An seine Stelle trat Stolz, und der blieb. „Du hast recht. Ich bin eine nichtsnutzige Lügnerin und du bist Mr Wahrheit. Also, warum bist du hier, Mr Wahrheit? Mir ist ziemlich klar, dass es nicht ist, um mich zu retten oder zu befreien.“

Es gab keinen Grund, es ihr nicht zu sagen. „Ich wurde beauftragt, die Dämonenhorden zu töten, die versucht haben, in das Gebäude einzudringen.“

Ein Moment der Panik. „Horden? So wie eine Armee? Da draußen sind noch mehr?“

„Ja, aber sie stellen keine Bedrohung mehr dar. Meine Armee war siegreich.“

Langsam atmete sie aus. „Die wollten mich, nicht wahr?“

„Ja.“

Und wieder ein Anflug von Panik. „Aber warum? Warum gerade mich?“

Sie hatte keine Ahnung, was mit ihr geschehen war. Nicht im Geringsten. Und doch müsste sie sich erinnern, betrogen … oder verführt worden zu sein. Also wie war es dem Dämon gelungen, sie zu zeichnen?

„Hallo?“

Statt ihr zu antworten, nahm Zacharel die Akte auf, die immer noch am Boden lag – wo sie der Arzt hatte fallen lassen –, und blätterte sie durch.

Sie hämmerte den Kopf auf ihr Kissen, einmal, zweimal. „Meinetwegen. Dann ignorier mich eben wieder. Mir egal. Ich bin’s gewohnt. Aber bitte, Eure Majestät, erlaubt mir, Euch die Mühe zu ersparen, die kleinen Details zusammenzusuchen. Selbst eine Lügnerin wie ich hätte keinen Grund, die zu fälschen.“ Ohne ihm Zeit für eine Antwort zu lassen, setzte sie hinzu: „Für den Anfang: Mein Name ist Annabelle Miller.“

Die Wahrheit, so stand es in den Notizen. Annabelle. Abgeleitet vom lateinischen Wort für lieblich. „Ich heiße Zacharel.“ Nicht, dass das eine Rolle spielte.

„Tja, Zachie, ich …“

„Majestät“, platzte er dazwischen, als er augenblicklich seine Meinung änderte. Zachie war schlimmer. „Du darfst mich Majestät nennen.“

„Auf keinen Fall nenne ich dich Majestät, aber genug von deiner überhöhten Meinung von dir selbst. Ich bin hier, weil ich meine Eltern umgebracht habe. Ich habe sie erstochen, das hat man mir jedenfalls gesagt.“

Als er aufblickte, sah er wieder ein Zittern durch ihren Körper laufen. Vielleicht sollte er ihr eine Decke besorgen. Ihr eine Decke holen? Ernsthaft? Sein Stirnrunzeln kehrte zurück. Ihr Wohlergehen bedeutete ihm nichts.

„Das hat man dir gesagt? Du erinnerst dich nicht?“, hakte er nach und blieb an Ort und Stelle.

„Oh, und wie ich mich erinnere.“ Die Bitterkeit schlich sich wieder in ihre Stimme, wurde deutlicher. „Ich habe gesehen, wie eine Kreatur … ein Dämon es getan hat. Ich habe versucht, ihn aufzuhalten, versucht, sie zu retten. Und als ich der Polizei erzählt habe, was wirklich geschehen war, wurde ich für geistesgestört befunden und hier auf Lebenszeit eingesperrt.“

Wieder wusste er, dass sie die Wahrheit sprach. Nicht nur, weil die Dinge, die sie erzählte, sich überall auf den Seiten in der Akte getippt und gekritzelt wiederholten – auch wenn keiner ihrer Ärzte ihr geglaubt hatte –, sondern vor allem weil er nur Rosen und Bergamotte in der Luft schmeckte. Beides feine, zarte Gerüche, die ihm gefielen. Seltsam. Für Gerüche oder Geschmäcker hatte er sich noch nie interessiert. Sie waren, wie sie waren, und er hatte keine Vorlieben.

„Warum hatten diese Dämonen es auf mich abgesehen?“, wollte sie wieder wissen. „Warum? Und nur dass du’s weißt, ich höre erst auf, dich damit zu nerven, wenn du es mir erzählst.“

„Das ist nicht ganz richtig. Ich könnte gehen, dann könntest du mich mit nichts nerven.“ Statt sie jedoch wieder zu ignorieren, entschied er, dass es auch bei dieser Information keinen Grund gab, sie vor ihr zurückzuhalten. Ihn interessierte, wie sie reagieren würde.

Bei allen Feuern der Hölle, irgendetwas konnte nicht mit ihm stimmen. Ihn interessierte nichts.

„Irgendwann vor dem Tod deiner Eltern“, erklärte er, „hast du einen Dämon in dein Leben eingeladen.“

„Nein. Auf keinen Fall.“ Heftig schüttelte sie den Kopf, und die blauschwarzen Strähnen an ihren Schläfen verfingen sich ineinander. „Diese Dinger würde ich nirgendwohin einladen. Außer vielleicht zu ’ner Abrissparty mit anschließender Hausverbrennung.“

Wie konnte sie so unbestreitbar Zweifel an etwas äußern, das er gesagt hatte? Obwohl der Klang der Wahrheit in seiner Stimme so klar und rein war wie eh und je? Nur sehr wenige Menschen fühlten so starke Zweifel, dass sie diesem Klang widerstehen konnten. Aber Annabelle passte irgendwie nicht dazu.

„Menschen unterschätzen, wie leicht es ist, einen Dämon willkommen zu heißen. Die negativen Worte, die ihr sagt, die gehässigen Dinge, die ihr tut. Sprich eine Lüge aus, und du winkst sie heran. Spiele mit dem Gedanken, Gewalt auszuüben, und du öffnest ihnen Tür und Tor.“

„Mir egal, was du sagst. Ich habe niemals einen Dämon willkommen geheißen.“

Wie konnte er es ihr begreiflich machen? „Stell es dir einmal so vor: Dämonen sind die Entsprechung von spirituellen Paketboten. Deine Worte und Handlungen können von ihnen als Bestellung interpretiert werden. Für einen Fluch. Sie kommen an deine Tür und klingeln. Es ist deine Entscheidung, ob du diese Tür öffnest und das Paket annimmst, das sie dir bringen. Du hast es getan.“

„Nein“, wiederholte sie hartnäckig.

„Hast du jemals bei einem Ouija-Spiel mitgemacht?“, versuchte er ihren sturen Kern mit einem anderen Ansatz zu erreichen.

„Nein.“

„Eine Wahrsagerin aufgesucht?“

„Nein.“

„Einen Zauber ausgesprochen? Irgendeinen?“

„Nein, okay? Nein!“

„Gelogen, betrogen oder einen Nachbarn bestohlen? Jemanden gehasst? Irgendjemanden? Etwas gefürchtet? Irgendetwas?“

Das nächste Zittern, das sie überlief, war stärker als zuvor. Ihr Kiefer verkrampfte sich und zwang sie, zu schweigen. Das Bett ratterte. Als der Krampf nachließ, war auch jeglicher Zorn aus ihr gewichen, und sie strahlte eine Trostlosigkeit aus, die den Riss in seiner Brust irgendwie um eine Winzigkeit vergrößerte.

„Es gibt nichts mehr zu bereden“, sagte sie leise.

Also lautete die Antwort auf eine seiner Fragen Ja. Furcht und Zorn hatte er bereits mit eigenen Augen bei ihr gesehen. „Für mich schon. Auf spiritueller Ebene gestatten all die Dinge, die ich aufgezählt habe, deinen Feinden, dich anzugreifen.“

„Aber wie soll man sich denn dazu zwingen, keine Angst zu haben?“

„Nicht was du fühlst, ist wirklich wichtig, sondern was du sagst und wie du handelst, während du so fühlst.“

Einen Moment lang nahm sie seine Worte in sich auf. Schließlich seufzte sie. „Okay, hör zu. Ich bin müde, und du hast freundlicherweise dafür gesorgt, dass Fitzpervers nicht wiederkommt, also ist das hier meine einzige Gelegenheit, mich auszuruhen, ohne dass sich jemand an mich heranmacht. Kannst du jetzt endlich einfach verschwinden?“

Wenn du nicht tun kannst, was ich von dir brauche, dann lass mich in Frieden. Ich hasse es, dass du mich so siehst. Geh bitte. Dieses eine Mal, hör mir zu und tu, was ich dir sage. Geh!“

Er knirschte mit den Zähnen. Kein Gedanke mehr an seinen Bruder.

„Ich werde gehen, ja“, sagte er. „Aber du – was wirst du tun?“

„Das Gleiche wie immer.“ Ihr Tonfall war so emotionslos wie der seine, und auch da war er sich nicht sicher, ob ihm das gefiel. Ihren Kampfgeist zog er definitiv vor. „Ich überlebe.“

Aber wie lange noch?

Mehrere Minuten lang überlegte Zacharel hin und her, was er mit ihr machen sollte – und kam ins Schlingern ob der Tatsache, dass er überhaupt überlegen musste. Wenn er sie mitnahm, würde sie Ärger machen. Daran gab es keinen Zweifel. Er hätte in ein menschliches Leben eingegriffen, in viele menschliche Leben, und dafür würde er mit Sicherheit bestraft werden. Und schon jetzt hing eine Strafe wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf. Die für Jamilas Verfehlung. Doch wenn er Annabelle zurückließ, würde sie irgendwann zerbrechen. Die Vorstellung, wie sie weinte und bettelte wie sein Bruder damals, verstörte ihn.

Vielleicht könnte er sie einmal die Woche besuchen. Nach ihr sehen, sie bewachen. Außer natürlich, er würde zur Schlacht gerufen. Oder verletzt. Und in der Zwischenzeit? Während er fort war? Was würde dann mit ihr geschehen?

Schließlich gewann die Logik die Oberhand. Wenn er ihr half, wäre das kein Eingriff. Nicht wirklich. Es wäre zu ihrem Schutz, und dazu war er schließlich hier. Das war es, was seine Gottheit von ihm erwartete: Menschen zu beschützen. Dafür würde Zacharel belohnt werden, nicht bestraft. Ganz sicher.

Na also, da hatte er seine Entscheidung.

Als er an das Krankenhausbett trat, nahm er nun auch den Schimmer wahr, von dem Thane gesprochen hatte. Ein sanftes, weiches Licht in der Farbe von Zacharels Augen ging von ihr aus, überflutete sie, badete sie in einem zarten Strahlen.

Aber … Er hatte sie nicht angefasst. Nicht ein einziges Mal.

„Hattest du schon einmal mit einem anderen Engel Kontakt?“, fragte er, obwohl keine zwei Engel eine Essenzia von genau der gleichen Farbe besaßen. Doch ein Dämon hätte das nicht hervorrufen können. Auf keinen Fall konnte das Sinnbild alles Bösen eine so berauschende Farbe erschaffen.

„Nein.“

Wieder nichts als die Wahrheit. Es musste eine Erklärung geben. Vielleicht … vielleicht gehörte der Glanz zu ihr, war angeboren. Nur weil er noch nie davon gehört hatte, musste es nicht unmöglich sein.

„Was hast du mit mir vor?“ Fordernd hob sie die Augen seinem Blick entgegen und überraschte ihn mit der Wildheit, die dort lauerte, die ihn herausforderte … etwas … zu tun.

„Wir werden es gemeinsam herausfinden.“ Er streckte die Hand aus, um eine ihrer Fesseln zu lösen. Sie zuckte zusammen.

„Nicht!“, rief sie.

Langsam dämmerte es ihm. Sie war misshandelt worden, und von ihm erwartete sie das Gleiche.

Mit dem Versprechen, ihr niemals Schaden zuzufügen, riskierte er, sie zu belügen, und das konnte er nicht. Menschen waren empfindliche Wesen, nicht nur ihre Körper, auch ihre Gefühle waren verletzlich. Unfälle konnten immer passieren. Es war unmöglich, vorauszusehen, was ihr an seinem zukünftigen Umgang mit ihr missfallen mochte.

Wie lange genau willst du mit ihr zusammenbleiben?

„Im Augenblick habe ich nur vor, dich zu befreien und von diesem Ort fortzubringen“, erklärte er. „In Ordnung?“

Hoffnung flackerte in diesen kristallenen Augen auf. „Aber du hast gesagt …“

„Ich habe meine Meinung geändert.“

„Wirklich?“

„Wirklich.“

„Danke“, sprudelte es aus ihr hervor. „Danke, danke, danke, tausendmal danke. Das wirst du nicht bereuen, ich versprech’s. Ich stelle für niemanden eine Gefahr dar. Ich will bloß irgendwo hingehen und für mich sein. Ich werde keinen Ärger machen.“

Er löste die erste Fessel, eilte auf die andere Seite und tat dort dasselbe.

Tränen traten ihr in die Augen, als sie die Hände an die Brust zog und sich die Gelenke massierte. Nicht vor Schmerz, das glaubte er nicht, sondern vor Freude. „Wohin bringst du mich?“

„In meine Wolke, wo du vor den Dämonen in Sicherheit sein wirst.“

Ein kurzes Kopfschütteln, als sei sie sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. „Deine … Wolke? So in der Art von Wolke am Himmel?“

„Ja. Dort kannst du baden, deine Kleider wechseln, essen. Was auch immer du willst.“ Und dann … Noch immer hatte er nicht den geringsten Schimmer.

„Aber – bitte unterbrich mich, wenn das verrückt klingt – ich will lieber auf festem Boden bleiben, wo ich nicht kilometerweit durch die Luft falle und dann beim Aufprall platze wie eine überreife Melone.“

Er lockerte die Riemen um ihre Fußknöchel. „Sollte ich dich irgendwo auf der Erde unterbringen, würde dein Volk dich jagen … ganz zu schweigen von weiteren Dämonen. In meiner Wolke wirst du sicher sein, das verspreche ich dir.“

Sobald sie frei war, richtete sie sich ruckartig auf, schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Obwohl sie kurz schwankte, gelang es ihr, auf den Beinen zu bleiben. „Bring mich einfach aus dem Gebäude, und dann können wir beide getrennter Wege gehen. Du hast eine gute Tat vollbracht, und ich bleibe auf ewig verschwunden.“

Sie weigerte sich, ihm zu gehorchen, und das, wo er sich endlich entschlossen hatte, ihr zu helfen. Versuchte sie, ihn mürbe zu machen, bis er ihr jeden Wunsch von den Augen ablas? „Ich kann dich nicht ohne Aufsicht auf freien Fuß setzen, denn dann würde die Schuld für jeglichen Schaden, den du anrichtest, bei mir liegen.“

„Ich werde keinen …“

„Du willst es nicht, ich weiß. Aber das wirst du.“

„Gib mir doch wenigstens eine Chance!“

Das versuchte er gerade. „Dir bleiben zwei Möglichkeiten, Annabelle. Hierbleiben oder mit mir in meine Wolke kommen. Etwas anderes kommt nicht infrage.“

Sie hob das Kinn, ein Musterbeispiel von Sturheit. „Kann ich dann bei dem anderen Engel wohnen? Dem blonden.“

Thane? „Warum?“, verlangte er zu wissen.

Und ihr Kinn wanderte noch einen Tick höher. „Versteh mich nicht falsch, aber den mag ich lieber als dich.“

Gab es einen Weg, das nicht falsch zu verstehen?

Ehrlichkeit war immer zu befürworten, und doch kämpfte er plötzlich mit dem unerklärlichen Bedürfnis, sie zu schütteln. „Du kannst nicht wissen, wen du lieber magst. Du hast bloß ein paar Sekunden in seiner Gegenwart verbracht.“

„Manchmal braucht es nicht mehr.“

Der Riss in seiner Brust ging immer weiter auf. Diesmal war es nicht Schuld, die er spürte, sondern eine kräftige Prise … Zorn? Oh ja, Zorn. Zacharel war es, der den Arzt davon abgehalten hatte, sie zu missbrauchen. Zacharel war es, der sie befreit hatte. Ihn sollte sie am liebsten mögen. „Ich bin ein ebenso gefährlicher Krieger wie er. Sogar noch gefährlicher.“

Ein Beben überlief sie.

Einen Moment lang dachte er nach. „Vielleicht ist Gefahr nicht das, worauf es dir ankommt“, setzte er nach, mehr zu sich selbst. Vielleicht sehnte sie sich nach dem, was sie an diesem Ort offensichtlich nicht erfahren hatte. Güte.

„Hör mal, du geflügeltes Wunder. Bring mich hier raus und lass uns die Details meiner Wohnsituation später klären, okay?“

„Geflügeltes Wunder“, wiederholte er und nickte bedächtig. „Ich stelle fest, dass ich diesen Namen nicht schlecht finde. Er passt.“

„Mr Bescheiden würde es eher treffen“, murmelte sie.

„Dem kann ich nicht zustimmen. Geflügeltes Wunder ist offensichtlich der bessere Name für einen Mann wie mich, und die Details werden wir jetzt klären.“ Er konnte kaum fassen, dass er eine Unterhaltung wie diese überhaupt führte. „Ich will nicht, dass du dich später beschwerst, weil wir uns missverstanden haben.

Mit so etwas habe ich schon genug zu tun.“ Eindringlich hielt er ihren Blick fest. „Sag mir, warum du bei Thane wohnen willst.“

Sie schluckte, doch dann gestand sie: „Bei ihm fühle ich mich sicherer, das ist alles. Davon mal abgesehen: Aus seinen Flügeln schneit es nicht. Warum aus deinen?“

„Die Antwort auf diese Frage hat für dich keine Bedeutung. Was deine Sicherheit angeht, habe ich dir bereits versprochen, dass du in meiner Wolke unversehrt bleiben wirst. Deine Bedingungen sind also erfüllt, die Details geklärt. Du wirst bei mir wohnen. Komm. Ich werde keine weitere Zeit mit Diskussionen vergeuden.“

Sie konnte nicht fliegen, sich nicht Kraft ihrer Gedanken von einem Ort an den anderen teleportieren, und das bedeutete, er würde sie berühren müssen. Jede Sekunde des Kontakts würde für ihn abscheulich sein, da war er sich sicher, doch trotzdem würde er es über sich ergehen lassen. Er streckte die Hand aus und winkte sie zu sich. „Letzte Chance. Bleibst du oder kommst du mit?“

Bald bin ich aus diesem Höllenloch raus, dachte Annabelle und wollte lachen und weinen zugleich. Am liebsten hätte sie getanzt vor Erleichterung und sich dann panisch irgendwo verkrochen. Die Flucht … endlich … aber würde es so himmlisch werden, wie sie es sich erträumt hatte – oder bloß eine andere Version der Hölle?

Spielt das eine Rolle? Du wirst Fitzpervers los sein, diesen Käfig, die Medikamente und die anderen Patienten und die Wärterdie Dämonen.

Während all der Jahre hatte sie böse Höllenwesen bekämpft. Keiner von ihren Eltern hatte an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Auch Annabelle hatten sie zu einer Skeptikerin erzogen. Tja, sie hatten falsch gelegen, genau wie Annabelle, und jetzt gab es für sie eine Menge zu lernen.

„Annabelle“, brachte Zacharel sich in Erinnerung und krümmte wieder die Finger.

Dieser Mann konnte ihr vieles beibringen. Dieses Wesen des Himmels, das so teuflisch wirken konnte; wie ein dunkler, verführerischer Traum, dafür geschaffen, jede Frau zu mitternächtlichen Versuchungen zu verlocken.

Gefährlich … dieser Mann ist gefährlich …

Wie ein leises, erotisches Flüstern strichen die Worte über ihre Haut. Ein Flüstern, das sie gehört und gespürt hatte, seit er hier aufgetaucht war.

Und trotzdem sagte sie: „Ich … entscheide mich fürs Mitkommen.“ Länger als nötig bei ihm zu bleiben, war jedoch eine ganz andere Geschichte. Sosehr er sie an den dunklen Märchenprinzen erinnern mochte, von dem sie vor so langer Zeit geträumt hatte, in der Nacht vor ihrem Geburtstag – dieser Mann war einfach kein Traumprinz.

Bebend legte sie die Hand in seine. Als sie sich berührten, sog er plötzlich den Atem ein, als hätte sie ihn verbrannt. Fast wäre sie zurückgezuckt. Ruhig.

Zacharel behauptete, er sei ein Engel, aber sie hatte keinen Schimmer, was das bedeutete oder was es mit sich brachte – abgesehen von dem üblichen Kram mit ‚gut und rechtschaffen‘. Außerdem wusste sie nicht einmal ansatzweise, wohin er sie brachte – in eine Wolke? Im Ernst? – oder was er mit ihr vorhatte, wenn sie dort ankamen.

„Alles in Ordnung?“

„Ich … brauche einen Moment, um mich daran zu gewöhnen“, gestand er mit angespannter Stimme ein.

Gut, denn sie würde auch einen Moment brauchen. „Lass dir alle Zeit der Welt, Mr Bescheiden.“

„Das werde ich, aber ich bin das geflügelte Wunder. Beweg dich nicht.“

„Äh, das könnte schwierig werden.“ So kalt ihr auch sein mochte, seine Haut war kälter. Bald würde sie am ganzen Leib zittern.

Er gab keine Antwort. Blickte einfach nur aus zusammengekniffenen Augen auf sie hinab, als gäbe er ihr die Schuld an etwas Katastrophalem.

Konnte sie ihm trauen? Vielleicht ja, vielleicht nein. Aber sie wollte ihre Freiheit, und er konnte sie ihr geben. Und ja, sie wollte außerdem allein sein, auf niemanden sonst angewiesen. Eines Tages wäre es so weit. Fürs Erste würde die Flucht von hier jedoch ausreichen.

Wenn er versuchte, ihr wehzutun, wenn sie … wo auch immer ankamen, würde sie kämpfen, wie sie es immer getan hatte – dreckig. Ob er nun ein Engel war oder nicht.

„Dieser Kontakt“, setzte Zacharel an. Finster blickte er zu ihr hinab. Diese heruntergezogenen Mundwinkel mussten sein Standard-Gesichtsausdruck sein. Als hätte er gar keine Kontrolle mehr darüber. Nicht ein einziges Mal hatte sie ihn lächeln sehen.

Gab es überhaupt irgendetwas, das ihn amüsieren oder wenigstens aus der Reserve locken würde?

„Was ist damit?“, zwang sie sich zu fragen.

„Ich hatte erwartet, dass gewisse Empfindungen nachlassen, aber das haben sie immer noch nicht.“ Sein Griff um ihre Hand wurde fester, als ahnte er, dass sie kurz davorstand, sie zurückzuziehen. Dann zog er sie an sich, immer enger, bis sie von oben bis unten an ihn gepresst war. Als er den freien Arm um ihre Taille schlang, blickte er mit smaragdgrünen Augen auf sie hinunter. Ihr Geburtsstein. Früher ihr liebster Edelstein, bis ihr Geburtstag zum Sinnbild für Tod und Zerstörung geworden war. Seitdem fand sie Smaragde, na ja … scheiße.

Doch sie konnte nicht leugnen, dass seine Augen betörend waren. Lange, dichte Wimpern rahmten diese juwelenfarbenen Iriden ein, denen jeder Funke von Emotion fehlte, und milderten seine Züge von unglaublich grausam zu vielleicht-bring-ich-dich-nur-ein-bisschen-zum-Schreien-bevor-ich-dich-hinrichte.

Sein seidiges Haar erinnerte sie an eine sternenlose Nacht. Und, oh, wie lange war es her, dass sie in den Himmel geblickt hatte? Seine Stirn war weder zu hoch noch zu breit, seine Wangenknochen wie von einem Bildhauermeister geformt. Und ein einziger Blick auf seine vollen roten Lippen reichte aus, um jeder Frau für den Rest der Ewigkeit heiße Träume zu bescheren.

Wenn er denn wenigstens klein gewesen wäre. Aber nein, er war ein Riese, mindestens eins achtundneunzig, mit breiten Schultern und den herrlichsten Muskeln, die ihr je unter die Augen gekommen waren. Und seine Flügel? Un-fass-bar. Wie eine Fontäne ragten sie über seinen Schultern empor, um sich rauschend bis knapp über dem Fußboden zu ergießen. Federn in reinstem Weiß schimmerten, als wäre der Regenbogen selbst in ihnen gefangen, und Spuren von Gold bildeten ein hypnotisches Muster darin, das sich bis in zarte Daunen hinein zog.

Der andere Typ, der Blonde, war ebenfalls köstlich anzusehen gewesen. Trotz des verdorbenen Glitzerns in dessen himmelblauen Augen hatte sie gedacht, mit ihm könnte sie umgehen. Jedenfalls besser als mit diesem hier.

Dafür ist es jetzt zu spät. Und vielleicht war es auch besser so. In ihr brodelten so viel Hass, Zorn, Verzweiflung und Hilflosigkeit – anscheinend schon jedes für sich ein Aphrodisiakum für Dämonen aller Art –, dass Zacharels Kälte eine erfrischende Abwechslung sein würde.

„Also, äh, was hast du dir vorgestellt?“, fragte sie nach einer Weile.

„Nichts, wovon ich dir erzählen werde. Jetzt leg deine Arme um meinen Hals“, befahl Zacharel, und aus seiner Stimme klang raue Erwartung.

Hat ihm je irgendwer etwas verweigert? fragte sie sich, als sie die Finger in seinem Nacken verschränkte.

„Gut. Jetzt schließ die Augen.“

„Warum?“

„Du und deine Fragen.“ Er seufzte. „Ich habe vor, dich durch die Wände in den Himmel zu transportieren. Der Anblick könnte dich beunruhigen.“

„Das krieg ich schon hin.“ Mit geschlossenen Augen wäre sie weit verletzlicher, als sie es so schon war.

Wenn ihre Tapferkeit ihn beeindruckte, ließ er es sich nicht anmerken. Seine Lippen, diese betörenden roten Lippen, wurden schmal, während er mit einer kraftvollen Bewegung die Flügel ausbreitete und sie dann auf und ab gleiten ließ, langsam, so langsam. Fesselnd. „Außerdem möchte ich nicht in deine Augen sehen und das Mal des Dämons erblicken.“

Sie hatte die Augen eines Dämons? Deshalb war ihre Iris blau geworden? „Aber ich kann kein Dämon sein“, platzte es aus ihr hervor. „Das kann nicht sein.“

„Das bist du auch nicht. Du bist von einem gezeichnet. Wie ich sagte.“

Ein kleines bisschen beruhigte sie sich. Trotz der Tatsache, dass sein Ton schrie: Hättest du zugehört, wüsstest du das. „Wo liegt der Unterschied?“

„Menschen können von Dämonen beeinflusst, beansprucht oder besessen werden, aber sie können nicht selbst zu Dämonen werden. Auf dich wurde Anspruch erhoben.“

„Von wem?“ Von dem, der ihre Eltern getötet hatte? Wenn das stimmte, würde sie … was? Was konnte sie schon tun?

„Ich weiß es nicht.“

Wenn er es nicht wusste, gab es für sie keine Hoffnung. „Tja, mir egal, wenn du meine Augen hässlich findest.“ Es war ihr so was von nicht egal. Sie fand es furchtbar, dass ein Teil von ihr dämonisch aussah. „Damit musst du klarkommen.“

Mehrere Sekunden verstrichen unter Schweigen. Dann nickte er und meinte: „Nun gut. Das hast du nur dir selbst zuzuschreiben.“

Ein seltsames Gefühl rauschte durch ihren Körper, kühlte ihr Blut noch weiter herunter und schien ihre Haut mit Eis zu überziehen. Die Fliesen unter ihren Füßen verschwanden. Plötzlich befand sie sich in der Luft, sah Raum um Raum an sich vorbeirasen, dann das Dach des Gebäudes, dann den Himmel, übersät von kleinen Lichtpunkten, wohin sie auch blickte.

Grundgütiger. Ihr brannten Tränen in den Augen. Sie war frei. Frei von einem Leben, das ihr wie eine einzige unaufhörliche Folter erschienen war. Wahrhaftig frei. Zum ersten Mal seit Jahren konnte sie sich auf etwas freuen, anstatt sich vor der Zukunft zu fürchten. Eine Freude, wie sie sie nie zuvor gespürt hatte, durchströmte sie, verschlang sie. Das war … es war … zu viel.

Die majestätische Nacht, die sie umgab, überwältigte sie, und die Tränen ergossen sich auf ihre Wangen. Die bezauberndsten Düfte erfüllten die Luft. Wildblumen und Minze, Tau und frisch gemähtes Gras. Milch und Honig, Schokolade und Zimt. Eine bloße Spur von Rauch, die in einer zarten Brise vorüberzog.

„Ich hatte vollkommen vergessen …“, flüsterte sie, während ihr das Haar um die Wangen flatterte. Und selbst das versetzte sie in Entzücken. Sie war frei, sie war frei, endlich war sie frei.

„Was hattest du vergessen?“, wollte Zacharel wissen, und in seiner Stimme lag etwas Seltsames. Vielleicht das erste Anzeichen von Emotionen.

„Wie wunderschön die Welt ist.“ Eine Welt, die ihre Eltern viel zu früh verlassen hatten. Eine Welt, die ihre Eltern nie wieder genießen würden.

Trauer mischte sich in die Freude.

Sie hatte nie Gelegenheit gehabt, um sie zu trauern. Viel zu schnell war sie vom hilflosen Opfer zur Mordverdächtigen und dann zur gefolterten Gefangenen geworden. Automatisch fragte sie sich, wie sie wohl auf diesen Moment reagiert hätten. Ihnen wäre Zacharel vermutlich ein Rätsel gewesen. Nicht bloß aufgrund dessen, was er war, sondern weil sie ein emotionales, aufbrausendes Paar gewesen waren. Sie hatten sich genauso leidenschaftlich gestritten wie geliebt. Seine Kälte hätten sie nicht einordnen können. Aber das hier … das hätte ihnen gefallen. Ein Flug zwischen den glitzernden Sternen, während sie den Duft der Freiheit tief einsog und auf eine plötzlich hoffnungsfroh leuchtende Zukunft zuschoss.

Fort mit der Trauer. Damit würde sie sich später befassen. Erst einmal würde sie es einfach in vollen Zügen genießen. Zum ersten Mal seit vier Jahren warf Annabelle den Kopf in den Nacken und lachte lauthals.