26. KAPITEL

Mühsam versuchte Annabelle, zu atmen. Ihre Kehle war furchtbar geschwollen, die Atemwege teilweise blockiert. Der wenige Sauerstoff, den sie einzusaugen vermochte, scheuerte ihr den Hals auf und machte die Schwellung noch schlimmer.

Wie die Fliegen kamen Dämonen vom Himmel gestürzt, spürten sie auf wie Wärmesuchraketen. Wo sie sich auch versteckte – in Büschen, in Baumkronen, in Löchern im Boden –, jedes Mal fanden sie sie, als blinkte über ihrem Kopf ein Neonschild. Hier. Sie ist hier.

Sie hatte mehr Verletzungen, als sie zählen konnte, und die Flügel … Diese abartigen Flügel, nichts als dürre Knochen mit schlaffer, blasiger Haut statt Federn, brachten sie aus dem Gleichgewicht. Dazu hielt sie auch noch der Dämonenleichnam auf, den sie über der Schulter schleppte. Aber ohne ihn konnte sie nicht weiter.

„Wasss du machssst? Meissster ruft.“

Annabelle zuckte zusammen, als sie den Sprecher entdeckte. Auf einem Ast direkt über ihr lauerte ein Dämon, der halb Mann, halb Schlange war, wie der, den Zacharel in der Nacht ihrer ersten Begegnung getötet hatte. In hypnotischen Schlingen wand sich sein Schwanz um den Baum, während er vorwärts glitt.

Immer wieder machten die Dämonen das – sie sprachen mit ihr, als wäre sie eine von ihnen. Andererseits … Vielleicht war sie das auch. Anstelle von Haut hatte sie jetzt Schuppen, Klauen statt Fingernägel, und was mit ihrem Gesicht geschehen war, konnte sie nicht einmal erahnen, spürte nur die grotesk verformten Knochenstrukturen.

Die Verwandlung hatte begonnen, als sie mit dem Dämon in der Wolke gekämpft hatte, eine Veränderung nach der anderen hatte sich von dem Brennen in ihrer Brust ausgebreitet. Einem Brennen, das mit ihrer Angst gewachsen war, mit ihrem Zorn schärfer geworden war. Sie hatte versucht, sich zu beruhigen, auch noch nachdem sie den Dämon besiegt hatte. Doch als sie schließlich auf den Zusammenhang zwischen ihrer Gestalt und ihren negativen Emotionen gekommen war, war es zu spät gewesen.

„Komm. Und warum du ssschleppssst Kadaver?“ Ungeduldig streckte er den Arm nach ihr aus. „Zzzum Essssen? Ich helfe essssen.“

„Wag es ja nicht, noch näher zu kommen“, schrie sie, und für eine Sekunde wurde die Welt schwarz. Eigentlich sogar weniger als eine Sekunde.

Doch als sie wieder zu sich kam, besudelte frisches Blut ihre Hände, tropfte aus ihrem offenen Mund. Sogar ihre Zunge war von dem widerwärtigen Geschmack überzogen. Und die Schlange … Sein Körper lag in Stücken zu ihren Füßen verstreut.

Ruckartig krümmte sie sich zusammen und übergab sich. Immer wieder passierte ihr so etwas. Dämonen näherten sich ihr und sie hatte einen winzigen Blackout – nur um ihre Leichen vorzufinden, sobald sie ihre Umgebung wieder wahrnahm. Ich sehe nicht bloß wie ein Dämon aus, ich werde zu einem.

Was würde geschehen, wenn Zacharel sie so fand? Würde er sie von sich stoßen? Töten? Oder würde sie das Bewusstsein verlieren und ihn umbringen?

Ein Schluchzen verstopfte ihr die Kehle, als sie ihre Last wieder auf ihre Schultern hievte. Ich kann keine von denen sein, ich kann einfach nicht.

Eine dicke Baumwurzel verfing sich in ihrem Fuß, und ihr Fuß verlor den Kampf. Bäuchlings stürzte sie auf den mit Zweigen und Dreck übersäten Boden und beim Aufprall erschienen Sterne vor ihren Augen. Irgendwie schaffte sie es trotzdem, ihre Last festzuhalten.

Hastig rappelte sie sich auf. Hart klatschte der kopflose Torso des Dämons gegen ihren Rücken, drückte auf neu gewachsene Sehnen und verbog ihre Flügel, entriss ihr einen Schmerzensschrei. Sie war sich nicht sicher …

Etwas anderes rammte sie, etwas Härteres. Sie verlor den Boden unter den Füßen und landete klatschend im Dreck. Diesmal entglitt der Dämonenleichnam ihrem Griff und wurde Hals über Kopf davongeschleudert. Krachend prallte er gegen einen Baumstamm.

Bevor Annabelle reagieren oder sich auch nur aufrichten konnte, gruben sich ebenso harte Finger in ihre Kopfhaut, rissen sie hoch, wirbelten sie herum. Dann starrte sie in glühende smaragdene Augen, ein so wutverzerrtes Antlitz, dass die Züge tatsächlich aussahen, als wäre er jemand anders. Seine Wangenknochen schienen schärfer, seine Lippen schmaler. Selbst sein Körper wirkte größer, das Gewand spannte über seinen Muskeln.

„Zacharel, bitte. Lass mich los, bevor ich …“

„Schweig.“ Er schlug sie so heftig ins Gesicht, dass sie in den nächsten Baum gekracht wäre, hätte er sie nicht mit der anderen Hand am Kleid gepackt. „Du sprichst nur dann, wenn ich es dir befehle. Verstanden?“

Tausend weitere Sterne wirbelten durch ihre Sicht. Er schüttelte sie und sie schrie auf.

„Was hast du mit dem Menschenmädchen gemacht?“ Er brachte sein Gesicht direkt vor ihres, Nase an Nase. „Ich weiß, dass du irgendetwas mit ihr gemacht hast, denn du riechst nach ihr.“

Bleib ruhig. „Ich – ich bin sie. Ich bin Annabelle.“ Schon jetzt war ihr Kiefer angeschwollen, Ober- und Unterkiefer griffen nicht mehr richtig ineinander. Konnte er sie überhaupt verstehen? „Ich bin Annabelle.“

Mit gefährlich verengten Augen starrte er sie an. „Bist du nicht.“

Oh ja, er konnte sie verstehen. Er glaubte ihr bloß nicht.

Mit einem grausamen Würgegriff hob er sie von den Füßen, dass ihre Beine in der Luft baumelten. Mehrere furchtbare Augenblicke lang hielt er sie so hoch, während sie verzweifelt nach ihm trat. Er würde sie töten. Hier und jetzt würde er ihr den Garaus machen, weil er glaubte, sie sei ein Dämon. Und er würde es nicht kurz und schmerzlos machen, würde es ihr nicht erleichtern.

„Schmeck …“, röchelte sie. Schmeck die Wahrheit.

Ein paar Meter hinter ihm knackte ein Zweig. Als er herumwirbelte, ließ er sie fallen. Nach Luft schnappend krabbelte sie rückwärts von ihm weg. Wenn sie es schaffte, aufzustehen, könnte sie weglaufen. Wenn sie weglief, könnte sie sich irgendwo verstecken, bis sie einen Weg gefunden hatte, zu ihm durchzudringen. Doch ihre Beine ließen sie im Stich, die Muskeln fühlten sich an wie tonnenschwere Felsbrocken.

Hilflos beobachtete sie, wie Zacharel sein Feuerschwert hervorholte und zuschlug, eine Flammenschneise durch einen Strauch schlug. Ein scharfer Aufschrei ertönte – und verstummte dann abrupt. Eine plötzliche kalte Brise trug den Gestank von verbranntem Laub und verwesendem Fisch mit sich. Ein Plumpsen, ein rollender Dämonenkopf, gefolgt von einem weiteren Plumpsen, als die Leiche vornüber kippte.

Er fuhr zu ihr herum, das Schwert noch immer in der Hand. Kam auf sie zu, einen Schritt, noch einen.

„Zacharel. N-nicht. Ich. Annabelle. Schmeck. Wahrheit.“

Immer noch schritt er auf sie zu.

Annabelle blinzelte, als sich an den Rändern ihres Blickfelds Dunkelheit sammelte. „Bitte … koste …“

„Ich werde niemals einen Dämon kosten.“

„Worte … koste … Worte …“ Suchend hielt sie seinen Blick fest, solange sie konnte, wartend, hoffend … bis sie in die Dunkelheit sank.

Zacharel sah zu, wie die Dämonin sich auf plötzlich sicheren Beinen erhob. Als sie die Augen nach dem nächsten Blinzeln wieder öffnete, war ihr Blick glühend rot statt eisblau. Das lange blauschwarze Haar stand ihr zu Berge, als sei sie gerade von einem Blitz getroffen worden. Fingernägel wurden zu dolchartigen Krallen und …

Eisblaue Augen. Wie Annabelle.

Blauschwarzes Haar. Wie Annabelle.

Ich bin’s, Annabelle.

Er hielt inne, musterte die Kreatur noch intensiver. Sie trug ein rotes Kleid, ähnlich wie das, was Driana in dem Club angehabt hatte. Der Stoff war zerfetzt, hing blutbesudelt an ihr herab. Dunkelgrüne Schuppen bedeckten ihren Körper – dessen Kurven seinen Händen aufs Intimste vertraut waren. Ihre Schultern waren gekrümmt und monströse Flügel ragten aus ihrem Rücken hervor, an den Spitzen zu scharfen kleinen Knoten und Spitzen verdreht.

Schmeck die Wahrheit.

Dämonen waren Lügner und Betrüger, doch als er die Zunge an den Gaumen drückte, waren es nicht Lüge und Betrug, die er schmeckte. Herrlich strömte der süße Geschmack der Wahrheit durch seinen Mund.

Das Wesen vor ihm war Annabelle.

Wie hatte das passieren können? Und, oh Gottheit, was hatte er getan? Sie fortgeschleudert. Geschlagen. Gewürgt. Zacharel ließ sein Feuerschwert los, das sofort verlosch. Scham breitete sich in ihm aus, drückte ihn in die Knie.

Kein Wunder, dass er Annabelles Duft an ihr wahrnahm. Sie war Annabelle. Und er hatte ihr wehgetan. Furchtbar wehgetan. Das würde er sich niemals verzeihen können.

Wie festgewachsen blieb er stehen, als sie auf ihn zukam. „Es tut mir leid, so furchtbar leid, Annabelle.“ Würde er denn niemals in der Lage sein, vernünftig für sie zu sorgen? Würde er ihr immer Leid zufügen?

Sie neigte den Kopf zur Seite, als hörte sie ihn, verstünde ihn, doch das Glutrot ihrer Augen brannte nur heller, als wären ihr seine Entschuldigungen egal. Und in den folgenden Minuten stellte sie genau das unter Beweis. Mit ihren Krallen schlug sie nach ihm, mit ihren kleinen Fäusten prügelte sie auf ihn ein. In ihren wirbelnden Bewegungen lag eine Geschicklichkeit, die sie zuvor nicht besessen hatte. Hart trafen ihn ihre Flügelspitzen, schnitten in sein Fleisch.

Kein einziges Mal versuchte er, sie aufzuhalten. Er hatte es verdient. Das und so viel mehr. Und wenn sie seinen Kopf wollte, würde sie ihn kriegen.

Ich bin schlimmer als jeder Dämon.

Doch dann wich sie mit einem Satz fort von ihm und hörte auf. Blieb einfach stehen und blinzelte.

„Annabelle?“

Sie schwankte, schloss die Augen. Es dauerte einen Moment, doch als sie die Lider hob, erkannte er, dass ihre Iris wieder in diesem erstaunlichen Eisblau schimmerte.

„Annabelle!“ Er sprang auf.

„Zacharel?“ Jedenfalls glaubte er, dass sie seinen Namen gesagt hatte. Das Wort war vernuschelt gewesen, fast unhörbar.

„Ich bin hier.“ Mit langsamen, vorsichtigen Schritten ging er auf sie zu. Er wollte sie nicht verschrecken.

Als hätte ein plötzlicher Windstoß sie gepackt, stolperte sie zurück, fiel hin.

Blitzartig war er bei ihr, fing sie auf, bevor sie auf den Boden traf, und legte sie sanft hin. „Es tut mir so leid, Liebste. Ich wusste nicht, dass du es bist.“

Tränen traten in ihre Augen und strömten über. „Zacharel“, wiederholte sie, und ihre Stimme wurde schwächer.

„Ja, Liebste. Ich bin hier.“

Ein panisches Gurgeln drang aus ihrer Kehle. Hatte sie jetzt Angst vor ihm?

Fest presste sie die Lider zusammen. „Hab ich … dich umgebracht?“

Ihr gebeutelter Geist konnte Realität und Albtraum nicht mehr unterscheiden. „Nein, Liebste.“ Zärtlich strich er mit einer Fingerspitze über den Bluterguss, der sich über ihren Kiefer zog. Hadrenial hatte ihn um seinen Tod angefleht. Annabelle hatte um ihr Leben gefleht. Ich bin ein Monster.

Wie viele Stunden, wie viele Tage und Wochen hatte er sich mit der Entscheidung herumgequält, den Wunsch seines Bruders zu erfüllen und ihm den Todesstoß zu versetzen? Und danach, als die Entscheidung getroffen und die Tat ausgeführt war, wie furchtbar hatte er geweint? So sehr, dass er sich fast sämtliche Rippen gebrochen hatte. So sehr, dass er Blut gekotzt hatte. Doch selbst damals hatte er nicht selbst sterben wollen. Er hatte leben und Rache nehmen wollen. Jetzt hätte er den Todesstoß dankbar angenommen.

„Du hast mich nicht umgebracht. Ich lebe.“

Sie hustete, und aus ihrem Mundwinkel lief ein schmales Rinnsal Blut. Als der Hustenanfall sich legte, flüsterte sie beschämt: „Etwas … stimmt nicht … mit mir.“

Mit leiser, sanfter Stimme erwiderte er: „Ich weiß, Liebste, aber wir werden einen Weg finden, dich wieder in Ordnung zu bringen.“

„Dämon … in deiner Wolke … hat gewartet, wollte deinen Bruder … Aber ich …“

„Schhh. Mach dir darüber jetzt keine Sorgen.“

Doch sie ließ nicht locker. „Hab ihn nicht … gelassen. Hab … gekämpft.“

„Ich weiß, Liebste, ich weiß, also erzähl mir später, was passiert ist, in Ordnung? Im Moment möchte ich, dass du schläfst, ja? Ich werde dich beschützen, das schwöre ich.“

„Nein! Hör zu!“, drängte sie mit einem plötzlichen Energieschub. „Du darfst den Dämon nicht zurücklassen …“ Kraftlos sackte ihr Körper zusammen. „Musst ihn … mitnehmen …“ Sie erschlaffte. „Seine Leiche … bitte.“

Und schließlich begriff er. Der getötete Dämon musste Hadrenials Essenzia in sich tragen. Und sie hatte diese schwere Last mit sich herumgeschleppt, versucht, zu entkommen, um ihr Leben gekämpft, weil sie geschworen hatte, Zacharels kostbarsten Besitz zu beschützen.

„Ich werde ihn nicht zurücklassen, Liebste. Schlaf jetzt“, bat er sie wieder. Im Schlaf würde sie die Schmerzen nicht spüren. Sie würde heilen.

Sie sollte lieber heilen.

„Danke“, sagte sie seufzend, bevor ihr Kopf zur Seite rollte. Doch mühsam blinzelnd hielt sie die Augen offen, als vertraute sie nicht darauf, dass er wirklich tun würde, was sie gesagt hatte.

Danke, hatte sie gesagt.

Danke.

Ein Wort, das ihn bis in alle Ewigkeit verfolgen würde. Durch nichts hatte er sich ihren Dank verdient, und er war sich sicher, dass er ihn nicht noch einmal erhalten würde, wenn sie erwachte und erst wieder bei Sinnen war.

Er tat das Einzige, was ihm übrig blieb; drückte ihr die Halsschlagader ab und unterbrach die Sauerstoffzufuhr zu ihrem Gehirn, zwang sie, in Ohnmacht zu fallen. Eine Gnade, und doch drohte die Scham ihn zu ersticken.

Wie sehr wollte er ihr das verbleibende Wasser des Lebens einflößen. Alles tun, um sie zu retten. Doch das konnte er nicht. Er war sich nicht sicher, was ihr angetan worden war, und hatte zu große Angst davor, die Flüssigkeit könnte sich als Gift für sie erweisen, wie es bei anderen Dämonen der Fall war.

Sie ist kein Dämon! schrie sein Instinkt ihm entgegen.

Vorsichtig legte er sie gerade lange genug auf dem Boden ab, um sich den Dämon auf den Rücken zu binden. Als er zu ihr zurückkehrte, nahm er sie auf die Arme, hielt sie an seine Brust gedrückt und erhob sich, wobei er aufpasste, ihre Flügel nicht noch weiter zu beschädigen. Ihr Gewicht nahm er kaum wahr, sie war so ein schlankes Ding.

Mit bedächtigen Bewegungen flog er zur Wolke seines ehemaligen Anführers und verlangte nach Einlass. Während er wartete, begann Annabelle zu zittern. Ihre Körpertemperatur war zu niedrig – weil sie so viel Blut verloren hatte?

Vor ihm öffnete sich die Wolke, und er glitt hinein. Zu seiner Verzweiflung war es nicht Lysander, der ihn in Empfang nahm, sondern Bianka, Lysanders Frau – eine Harpyie mit einer Vorliebe für Ärger und Durchtriebenheit.

Kaugummi kauend musterte sie ihn und Annabelle von oben bis unten, während sie sich eine Strähne ihres langen schwarzen Haars um den Finger wickelte. „Wird auch Zeit, dass du mir ein Geschenk bringst, um mich in der Nachbarschaft zu begrüßen. Aber musstest du dir unbedingt einen der hässlichsten Dämonen aussuchen, die ich je gesehen habe?“

„Du bist so was von unhöflich, das Geschenk dieses Kriegers so runterzumachen“, ertönte eine weitere Frauenstimme. Lässig stolzierte Biankas Zwillingsschwester Kaia herüber, in der Hand eine halb leere Flasche billigen Apfelwein. Als er sie vor einer gefühlten Ewigkeit in Bürdes Büro gesehen hatte, war sie in voller Kampfmontur aufgetaucht. Jetzt trug sie ein Engelsgewand und sah aus wie die Entspannung in Person. „Außerdem hab ich schon wesentlich hässlichere gesehen.“

„Genug“, knurrte er. Normalerweise faszinierte es ihn, den Zwillingsschwestern bei ihrem Wir-zwei-gegen-den-Rest-der-Welt-Geplänkel zuzuhören, weil es ihn an das erinnerte, was er mit seinem Bruder hätte haben können. In diesem Augenblick jedoch zählte nur Annabelle.

Die Mädchen blickten einander an und kicherten, und da begriff er. Sie waren betrunken.

„Warum legst du’s nicht da hinten hin“, schlug Bianka vor und deutete unbestimmt über ihre Schulter, dann neben sich und schließlich auf den Boden zu ihren Füßen. „Gleich neben den Teppich aus Dämonenhaut, den ich dir wahrscheinlich zu Weihnachten schenken werde. Oder unter den Tisch. Oder, noch besser, auf die Veranda, wo es zufällig absichtlich mit einem Tritt auf die Erde befördert werden könnte.“

Wie hielt sein Anführer es mit ihr aus? „Wo ist Lysander?“

Warnend bleckte sie die Zähne. „Jemand, und ich werde nicht deinen Namen erwähnen, Zach, hat seinen Posten am Tempel der Gottheit verlassen, was bedeutet, dass mein Mann einspringen und die Kuh vom Eis holen musste. Also hab ich beschlossen, einen Mädelsabend zu veranstalten.“

Ein weiteres Verbrechen, für das Zacharel sich würde verantworten müssen, doch damit würde er sich später befassen. „Meine Frau braucht Hilfe. Wenn ihr mich zu einem Schlafzimmer bringen würdet …“

„Ich hab’s dir doch gesagt“, fuhr Kaia dazwischen. „Unser großer böser Z ist verknallt.“

„Und ich hab dir gesagt, du kannst mich mal. Ich wette, er hat sich gerade bloß unglücklich ausgedrückt.“ Bianka stemmte die Fäuste in die Hüfte. „Sag meiner Schwester, dass du nicht in eine Frau verknallt bist. Oder einen Dämon. Oder überhaupt irgendwas mit einem Herzschlag.“

„Sie ist kein Dämon“, brüllte er, und die Wolke erbebte bei der Intensität seines Zorns.

Die schwarzhaarige Harpyie zuckte zusammen und hielt sich die Ohren zu. „Äh, möchtest du vielleicht deine Lautstärke runterschrauben, bevor ich dir die Zunge herausreiße und um die Ohren haue? Man hat mir gesagt, drinnen reden die Leute tatsächlich leiser als auf dem Schlachtfeld. Ich bin da noch skeptisch, aber tu mir den Gefallen und probier’s mal aus.“

Er zwang sich, ruhiger zu sprechen. „Annabelle ist ein Mensch. Mein Mensch. Sie braucht Hilfe. Jetzt.“

„Und jetzt noch mal ganz von vorn. In meinem überwältigenden Meisterhirn hat sich soeben etwas zusammengefügt. Das ist Annabelle?“ Kaia trat vor, offenbar in der Absicht, Annabelles Haar zur Seite zu streichen und ihre Züge zu betrachten.

Er schnappte mit den Zähnen nach ihr. Auch wenn er keine Reißzähne hatte, an drohenden Absichten mangelte es ihm nicht. „Du fasst sie nicht an.“

Kaia benahm sich, als hätte sie ihn nicht gehört, und tat genau, was sie vorgehabt hatte. Typisch Harpyie. „Okay, wow. Sie ist es wirklich. Was ist mit ihr passiert?“

„Ich bin mir nicht sicher.“ Aber ich werde es herausfinden, und ich werde es in Ordnung bringen. Wie versprochen. „Schlafzimmer. Jetzt. Bitte“, fügte er hinzu und hoffte gegen alle Hoffnung, das würde funktionieren. Bei Harpyien standen die Chancen immer fünfzig zu fünfzig, dass man bekam, was man wollte – oder starb.

„Mach lieber, B“, riet Kaia ihr und seufzte. „Du weißt doch, wie Lysander immer gleich rumjammert, wenn du dir auch bloß das Knie aufschürfst, oder? Tja, unser Zach hier ist noch viel schlimmer mit seiner kleinen Prinzessin. Vielleicht weil sie ’n Mensch ist und somit unterlegen oder so. Obwohl – ich glaube, das Wort ‚Mensch‘ können wir aus ihrer Beschreibung streichen.“

„Sie ist nicht unterlegen“, brüllte er. „Und sie ist ein Mensch.“

Für einige lange Minuten musterte Bianka ihn stumm. „Hast recht, Kye. Zach ist schlimmer. Also gut, komm schon, Engelchen. Hier lang.“ Sie tänzelte in einen Flur.

Er folgte ihr und zog eine Spur aus Schnee hinter sich her.

„Hey, Zach“, rief Kaia. Dann folgten eine kurze Pause, ein feuchtes Gluckern und Schluckgeräusche. Sie musste direkt aus der Flasche trinken. „Dir ist schon bewusst, dass du einen kopflosen Dämon auf dem Rücken trägst, oder?“

„Natürlich. Ich habe ihn dort festgebunden.“

Bianka blieb stehen und wedelte mit der Hand durch den pastellblauen Nebel neben ihr, in dem jetzt eine Türöffnung erschien. Schnell schob Zacharel sich an ihr vorbei und ging hinein.

In der Mitte wartete ein riesiges Bett, perfekt für einen Krieger mit überdurchschnittlicher Flügelspannweite, und jetzt auch perfekt für Menschen mit Dämonenschwingen. Vorsichtig legte er Annabelle auf die Matratze, strich ihr das Haar aus dem Gesicht und deckte sie zu. „Wir bleiben nicht lange. Dämonen spüren ihre Gegenwart, wo sie auch ist, und greifen jedes Mal an.“

„Kye und ich brauchen zufällig sowieso gerade mal wieder einen anständigen Kampf. Bleibt, solange ihr wollt.“

So war das mit den Harpyien. Sie mochten ihm auf die Nerven gehen, aber sie würden sich immer hinter ihn stellen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, waren sie auch noch unfassbar gute Kämpferinnen. Und trotzdem, Bianka und Kaia einer gefährlichen Situation auszusetzen – und zwar betrunken –, war eine Garantie, sich den Zorn von Lysander und jedem einzelnen Herrn der Unterwelt zuzuziehen.

„Danke, aber wir werden noch vor Ablauf einer Stunde verschwinden.“

„Mann, du verpasst die besten Nunchaku-Moves, die du je gesehen hast, aber wie du meinst. Ich hab’s angeboten, mehr kann ich nicht tun – bevor ich so tue, als hättest du nichts gesagt, und genau das mache, was ich will.“ Dann hörte er Schritte, ein gegrummeltes „Lass mir auch noch was über, du Luder“ und schließlich nur noch Annabelles schweren Atem.

Er band den Dämon von seinem Rücken los und leblos purzelte der Leichnam zu Boden. Der Bastard musste die Urne geöffnet haben, und als er ins Innere gegriffen hatte, war die Essenzia in seine Haut eingedrungen.

Zacharel ließ seine Hand körperlos werden, griff in die Brust der Kreatur und – ja, warm fühlte er die Essenzia seines Bruders unter seiner Handfläche dahinströmen, das Prickeln von etwas, das mehr als bloß Blut war, das nach ihm suchte und fortwollte aus der körperlichen Hülle des Dämons.

Einen Moment lang war Zacharel wieder in jener Nacht, als er in die Brust seines Bruders gegriffen hatte. Damals wie heute griff er fest zu, und als er die Hand aus dem Dämonenkörper zog, bedeckte eine klare, dicke Flüssigkeit seine Haut. Die letzten Überreste seines Bruders. Darauf werde ich nicht reagieren.

Bevor auch nur ein Tropfen davon in seinen Leib eindringen konnte, befahl er der Wolke, eine Urne zu erschaffen. Mit der freien Hand hielt er die Urne bereit, und mit der anderen streifte er die Flüssigkeit am Rand ab, von den Fingerspitzen bis zum Ellenbogen, bis jeder Tropfen in das Behältnis geglitten war. Nachdem er den Deckel versiegelt hatte, versteckte er die Urne in einer Luftfalte. Engel und Dämonen gleichermaßen würden ihm folgen, angezogen von diesem Wunder, doch nie wieder würde er jemand anderem die Verantwortung dafür übertragen.

Schließlich wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Annabelle zu. Er machte sie sauber, verband ihre Wunden und hüllte sie in ein warmes pelzgefüttertes Gewand. Währenddessen drohten ihn immer wieder Emotionen zu überwältigen. Noch mehr Scham, noch mehr Zorn, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Er konnte sich nicht vorstellen, was ihr angetan worden war, um sie so zu verwandeln. Selbst wenn ein Dämon Besitz vom Körper eines Menschen ergriff, veränderte sich niemals das Erscheinungsbild dieses Menschen.

Annabelle war die Gemahlin eines Dämons – theoretisch, nicht wirklich, dachte er, als eine besitzergreifende Hitze durch sein Inneres strömte –, doch hätte das Einfluss auf ihre Gestalt haben sollen, wäre die Verwandlung schon vor vier Jahren eingetreten. Also … Was blieb dann noch? Nicht dass ihr Aussehen für ihn eine Rolle spielte. Vorher war sie wunderschön gewesen, doch das war sie auch jetzt. Sie war einfach seine Annabelle. Doch sie würde es stören, und den Gedanken konnte er nicht ertragen.

Zacharel glitt neben sie und strich mit dem Daumen über ihren geschuppten Wangenknochen. Ein leises Seufzen wich von ihren Lippen, als sie sich seiner Liebkosung entgegenreckte. Wenn sie aufwachte, würde sie das vielleicht nicht mehr tun. Sie würde sich an das erinnern, was er mit ihr gemacht hatte, wie er sie verletzt hatte. Wahrscheinlich würde sie sogar vor ihm fliehen.

Ein Protestschrei stieg in ihm auf, doch er schluckte ihn hinunter. Wenn sie vor ihm fliehen wollte, würde er sie lassen müssen. Was er ihr angetan hatte, könnte er nie wiedergutmachen. Niemals. Doch er würde ihr folgen und sie beschützen, für den Rest seiner Tage. Wenn das bedeutete, seinen Platz im Himmel aufzugeben, dann sollte es so sein.

Sie würde einen bedeutenden Platz in seinem Leben einnehmen müssen, hatte Haidee gesagt.

Und das tat sie. Sie war um ein Vielfaches bedeutender als seine Arbeit, sein Zuhause.

Unwillkürlich berührte er sie, wollte ihre Nähe genießen, solange er konnte. Und je länger er sie streichelte, desto – himmlische Gottheit, ihre Wunden begannen zu heilen, die Schuppen zu verblassen, bis nichts zurückblieb als gebräunte Haut. Die Flügel verwelkten, verschwanden schließlich.

Seine menschliche Annabelle war wieder da. Wie oder warum, wusste er nicht, doch er sandte ein Dankgebet nach oben, etwas, das er seit Jahrhunderten nicht mehr getan hatte.

Hinter ihm ertönte das Rascheln von Kleidung. Er fuhr herum und zog sein Schwert.

Lucien, jener der Herren der Unterwelt, der den Tod in sich trug, hob die Hände, Handflächen nach vorn. Schwarzes Haar hing ihm in die Stirn und seine Mundwinkel waren herabgezogen, an einer Seite von einer breiten, gezackten Narbe verzerrt. „Hey, ganz ruhig, Engel. Ich bringe Neuigkeiten.“ Erschöpfung klang aus jedem Wort.

Zacharel ließ das Schwert los, nahm kaum wahr, wie es verschwand. Angespannt wartete er. „Sag schon.“

„Amun hat sich durch die Geheimnisse von Bürde gewühlt. Der Hohe Herr, den ihr sucht, der, der Annabelle gezeichnet hat, heißt Unversöhnlichkeit.“

Unversöhnlichkeit. Der Name hallte durch seinen Kopf. Endlich eine Antwort, und doch brachte sie keine Erleichterung. „Ich habe nie mit ihm gekämpft.“ Von ihm gehört, ja. Wer hatte das nicht? Der Böseste der Bösen, der Schlimmste der Schlimmen. Die paarmal, als der Dämon von einem Menschen auf die Erde gerufen worden war, hatte Zacharel Jagd auf ihn gemacht, doch jedes Mal hatte Unversöhnlichkeit es schon vor seiner Ankunft geschafft, unterzutauchen.

„Danke“, sagte er zu Lucien, während er die Information schon an Thane weitergab.

Wir konnten drei weitere Lakaien gefangen nehmen, ertönte Thanes Stimme in seinem Kopf. Sie hatten sich am Tempel versteckt. Wir werden herausfinden, was sie über diesen Unversöhnlichkeit wissen.

Höflich beugte Lucien den Kopf. „Gern geschehen. Und jetzt hoffe ich, wir sind quitt und müssen nie wieder zusammenarbeiten.“ Mit diesen Worten verschwand Lucien.

Zacharel wickelte Annabelle in die Decke und hob sie vom Bett. Noch weniger als die Dämonen zu Biankas Wolke zu locken wollte er, dass Annabelle aufwachte und auf irgendjemanden außer ihm losging.

Oh, Annabelle. Wirst du mir je verzeihen können, wenn ich mir nicht einmal sicher bin, ob ich es kann?