16. KAPITEL

Nie zuvor hatte Annabelle eine ganze Nacht in den Armen eines Mannes verbracht. Sie war nicht einmal auf die Idee gekommen – schließlich hatte Heath immer aus dem Fenster steigen müssen, damit ihre Eltern ihn nicht bei ihr erwischten. Doch in der vergangenen Nacht hatte sie sich an Zacharel geschmiegt und war dort geblieben. Warm und stark hatte er sie in den Armen gehalten. Hatte sie getröstet und beruhigt, wenn böse Träume es wagten, ihren Schlaf zu stören.

Frisch und erholt – und frei von Drogen – erwachte sie, bereit für alles, was da kommen mochte. Zumindest hatte sie das geglaubt. Als sie mit dem Zähneputzen und Duschen fertig war und ihre nächste Begegnung mit Zacharel bevorstand, hätte sie fast die Nerven verloren.

Die Dinge, die er mit ihr angestellt hatte … Er war ein Mann, der ihr größere Wonnen bereitet hatte als jeder andere. Er hatte das Grauen der Vergangenheit fortgebrannt und neue, berauschende Erinnerungen in ihrem Inneren verankert. Erinnerungen, bei denen sie noch jahrelang sehnsüchtig seufzen würde.

Das will ich wieder erleben. Aber… will er das auch?

Wohl nicht, dachte sie, als sie wieder in der HausmädchenUniform aus dem Bad kam. Er sah nicht so aus, als würde er sich freuen, sie zu sehen. Obwohl sein Ausdruck der Unzufriedenheit ziemlich genau mit jedem anderen seiner Gesichtsausdrücke übereinstimmte, wenn man mal ehrlich war. Ausgenommen sein Lächeln mit diesen großartigen Grübchen.

Diese Grübchen will ich verdammt dringend wiedersehen.

Er stand mit verschränkten Armen vor dem Bett, das weiße Gewand makellos, ohne eine einzige Knitterfalte. Ein Duft nach Morgenhimmel und Sonnenschein ging von ihm aus, sein Haar glänzte seidig.

„Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen? Kein einziger Dämon hat uns letzte Nacht angegriffen“, versuchte sie es auf die vorlaute Tour, anstatt das schüchterne Mäuschen zu geben.

„Mit meiner Leber ist alles in Ordnung“, erwiderte er. „Vielleicht bin ich einfach nur überwältigt von meiner ersten sexuellen Erfahrung.“

Oh … ach ja. Also gut. Sie spürte Hitze in ihre Wangen steigen. Warm durchrieselte die Erkenntnis sie, dass sie die Erste war, die ihm auf diese Art Vergnügen bereitet hatte. „Wie ein Anfänger hast du dich nicht gerade benommen“, stellte sie fest.

„Vielen Dank. Außerdem“, fuhr er ruhig fort, „bin ich zufrieden. Ich hatte recht. Du bist schwieriger aufzuspüren, wenn du von anderen Menschen umgeben bist, was bedeutet, dass ich jetzt weiß, wie ich dich beschützen kann.“

„Themenwechsel akzeptiert“, murmelte sie.

„Das war nicht mein Ziel.“ Er runzelte die Stirn, und sein Blick ging an ihr vorbei, als wäre hinter ihr jemand aufgetaucht.

Suchend drehte sie sich um, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Als sie sich ihm wieder zuwandte, galt sein Stirnrunzeln ihr.

„Der Schimmer auf deiner Haut ist stärker geworden“, stellte er fest, „und das liegt nicht am Kunstlicht. Ich habe meine Spuren auf dir hinterlassen. Meine Essenzia.“

Mit pochendem Herzen hob sie einen Arm ins Licht, drehte ihn nach links, dann nach rechts. „Ich sehe nichts.“

„Du schimmerst bereits seit unserer ersten Begegnung, aber die Tatsache, dass der Schimmer jetzt deutlicher ist, bestätigt für mich, dass er nicht natürlichen Ursprungs ist.“

„Mich hat nie ein anderer Engel angefasst, falls du das andeuten willst.“

„Das will ich nicht. Keine Essenzia gleicht der anderen, und du trägst eindeutig meine. Ich frage mich … Könnte es sein, dass du mit meiner Essenzia geboren wurdest? Von Anfang an allein für mich bestimmt? Ich habe zwar noch nie davon gehört, dass das Zeichen auftaucht, bevor jemand Anspruch erhoben hat, aber … Alles ist möglich, nehme ich an.“ Bei den letzten Worten schüttelte er die Flügel aus. „Ich werde mich vergewissern …“

In diesem Moment konnte sie seinen Worten nicht mehr folgen, so gefesselt war sie von der Schönheit seiner Flügel … so stark, so majestätisch, so prächtig golden. „Ich habe dir bereits gestattet, meine Flügel zu berühren, Annabelle.“ Jetzt klang er verärgert.

„Ich weiß.“

„Warum hast du dann die Hände zu Fäusten geballt hinter dem Rücken und nicht auf mir?“

„Weil der Gedanke dich anscheinend in helle Begeisterung versetzt.“

Er öffnete den Mund und schloss ihn gleich darauf wieder. „Sarkasmus?“

„Klug erkannt.“

Schicksalsergeben seufzte er.

Schließlich streckte sie die Finger aus und strich über den Bogen der goldenen Flügel. An den Kanten waren sie stahlhart und rau – bis man auf die Federn traf. Herr im Himmel, die waren weicher als Gänsedaunen. Mit den Fingerspitzen fuhr sie darüber; staunte, als sich eine Feder löste und in ihre Handfläche segelte.

In diesem Augenblick packte Zacharel sie am Handgelenk, doch er schob sie nicht weg, noch verlangte er die Feder als sein Eigentum zurück. Ohne die geringste Spur seiner vorherigen Belustigung befahl er: „Sieh mich an, Annabelle.“

Sie gehorchte, ein schlechtes Gefühl in der Magengrube. Hatte sie etwas falsch gemacht?

„Das wirst du niemals mit einem anderen Engel tun. Verstanden?“

Verwirrt runzelte sie die Stirn. „Ist das gegen die Regeln?“ Aber … Sex war nicht verboten. Offensichtlich. Also hätten Berührungen auch kein Problem darstellen sollen.

„Jene von uns, die kein sexuelles Verlangen kennen, lassen sich ungern berühren, vor allem von Menschen. Jene, die bereits Verlangen erfahren haben, werden deine Berührung als Einladung zum Sex interpretieren.“

Dahin war die gute Stimmung, die sie sich mühevoll aufgebaut hatte. „Ich fasse niemanden außer dir an, versprochen.“

Einen Moment lang herrschte ein bedeutungsschwangeres Schweigen. „Dieser Mann, Dr. Fitzherbert, hat dich ohne deine Erlaubnis berührt. So, wie ich dich letzte Nacht berührt habe?“

Und augenblicklich versuchte sich eine düstere, klebrige Wolke um sie zu legen. Unwillkürlich zog sie die Schultern ein, als all die Emotionen, die sie in der Anstalt erfahren hatte, auf sie einstürmten. Angst, Scham, Hass, Schuld, Hilflosigkeit, Kummer, tiefe Trauer. Doch ebenso schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden sie wieder. Entschlossen weigerte sie sich, diese Gefühle zuzulassen, und schoss jedes einzelne mit einer geistigen Kugel ab, machte sie kalt. Diese Emotionen waren für Dämonen wie ein Neonschild, und sie würde diese Biester nicht zu sich locken.

„Ja“, antwortete sie.

„Vielleicht wird es Zeit, dass er erntet, was er gesät hat.“

„Was … soll das heißen?“

„Ich werde ihm etwas Grauenvolles zufügen.“

Statt mit Begeisterung erfüllte sein Schwur sie mit Sorge. Ja, sie wollte Fitzpervers weit entfernt von jeder Verantwortungsposition wissen. Dass es ihm nicht möglich wäre, noch jemandem Leid zuzufügen. Doch noch viel mehr wollte sie Zacharel in Sicherheit wissen. Sie hatte ihm schon genug Ärger bereitet.

„Ist das dein Job?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.

„Nein.“ Ein bloßes Grummeln.

„Dann würdest du dafür riesige Schwierigkeiten bekommen. Und versuch nicht, es abzustreiten. Ich erinnere mich haargenau, wie du mir erzählt hast, dass es euch nicht erlaubt ist, Menschen zu schaden.“

„Manche Taten sind die Schwierigkeiten wert, die sie nach sich ziehen.“

Wohl kaum! „Ich verstehe ja den Sinn dahinter, Dämonen allen nur möglichen Schaden zuzufügen. Die sind das pure Böse, kennen keine Reue für die furchtbaren Dinge, die sie tun. Die ändern sich nie, werden auf ewig versuchen, Leuten wehzutun. Aber einen Menschen zu verletzen ist nicht notwendig. Damit wärst du nicht besser als, na ja, Fitzpervers. Er hat mich leiden lassen, bloß weil er es konnte.“ Feuer loderte in seinen Augen auf, doch sie gab nicht nach. „Eines Tages werde ich tun, was nötig ist, damit die Welt erfährt, was für ein Monster Fitzpervers ist. Also nimm diesen Schwur auf der Stelle zurück, Zacharel … wie auch immer du mit Nachnamen heißt. Hast du überhaupt einen Nachnamen?“

„Komm“, sagte er und ignorierte ihre Behauptung, ihre Forderung und ihre Frage. Er ließ sie los und trat mehrere Schritte zurück.

„Zacharel Komm. Das ist ein echt beschissener Nachname. Solltest du mal heiraten, tut mir deine Zukünftige jetzt schon leid.“

Seine Mundwinkel zuckten, und sie dachte: Das war ich. Irgendwie hab ich ihn gerade ein winzig kleines bisschen zum Lächeln gebracht.

„Wir haben heute viel zu tun, Annabelle.“

„Na und? Ich hab’s dir gesagt: Ich beweg mich nicht vom Fleck, bis du das zurücknimmst.“

Er strich mit der Hand ihren Rücken hinauf und spielte mit ihrem Haar. „Gib mir wenigstens etwas Zeit, darüber nachzudenken“, forderte er. „Ich werde dich nicht anlügen, was bedeutet, dass du mir Zeit geben musst, all meine Möglichkeiten abzuwägen.“

Klang logisch. Und außerdem nervig und unwiderlegbar. „Na gut.“ Aber ich werde hartnäckig bleiben, da kann er machen, was er will, beschloss sie, während sie sich die Feder ans Revers steckte. Das Gold schimmerte hübsch auf der blauen Uniform.

In Zacharels Augen flammte eine andere Hitze auf als zuvor.

Zorn? „Was haben wir denn vor?“, fragte sie. Wenn er sauer war, sollte er eben sauer sein. Er würde schon damit klarkommen.

„Zuerst gehen wir einkaufen.“ Seine Stimme knisterte förmlich, so eisig war sie.

Okay, offensichtlich war er mehr als sauer auf sie. Woher kamen diese ständigen blitzschnellen Stimmungswechsel? Annabelle trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hab noch eine Bedingung, damit ich mitkomme“, erklärte sie, während sie die Messerscheiden an ihre Knöchel band. „Du musst mir sagen, was dir so gegen den Strich geht.“ Du willst also einem Kriegerengel Befehle erteilen, Miller? Na, da bin ich ja mal gespannt, wie du das durchsetzen willst.

„Ich muss dir nicht gehorchen, Annabelle.“

Schon einmal hatte er auf die Unterschiede zwischen ihnen hingewiesen. Er herrschte mit der Macht des Schwerts. Sie war eine aufmüpfige kleine Kämpfernatur, die die Klappe aufriss. Für ihn wäre es kein Problem, sie zu zwingen, mit ihm zu kommen – sie könnte nichts dagegen tun.

Aber letzte Nacht hatte er ihr das Recht zugestanden, ihn zu hinterfragen – und ihm die Stirn zu bieten. „Aber das wirst du“, erklärte sie mit all der Entschlossenheit, die sie fühlte.

Aufgebracht fletschte er die Zähne und ließ sich auf die Bettkante fallen. Er legte die Hände flach auf seine Oberschenkel. Damit er sie nicht packte und schüttelte? „Dir wird nicht gefallen, was ich zu sagen habe.“

Furcht bildete einen Knoten in ihrer Magengrube. „Sag’s trotzdem. Ich bin ein großes Mädchen. Ich werd’s schon verkraften.“ Vielleicht. Nein. Nein, würde sie nicht. Er sah viel zu ernst aus.

„Du erwartest jetzt Sanftheit von mir, aber ich kann sie dir nicht geben. Wir müssen einen dämonischen Hohen Herrn aufspüren, und dieser Aufgabe muss ich meine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen. Und doch kann ich selbst jetzt, während ich bewusst Abstand zu dir halte, an nichts anderes denken als daran, wie weich du dich anfühlen würdest, könnte ich dich in die Arme schließen. Wie wundervoll deine Lustschreie in meinen Ohren geklungen haben. Wie leicht es wäre, dich jetzt auszuziehen und auf der Stelle zu nehmen.“

Grund…gütiger. „Aber Zacharel, das gefällt mir.“ Es machte ihr weiche Knie.

„Wirklich?“ Er begegnete ihrem Blick und sie entdeckte das Feuer, das in seinen Augen loderte. „Denn heute wirst du es nicht mit deinem Liebhaber zu tun haben, sondern mit deinem Ausbilder. Wenn ich dir einen Befehl erteile, erwarte ich, dass du ohne Zögern gehorchst.“

„Hallo? Natürlich werde ich …“ Moment. Auf den ersten Blick wirkte seine Forderung vernünftig. Doch wenn sie länger darüber nachdachte, begriff sie, dass die Art, wie sie heute miteinander umgingen, die Weichen für die Zukunft stellen würde. Es würde immer einen Dämon zu jagen geben. Und solange ihr … Gemahl da draußen war, würde sie immer in Gefahr schweben.

Was nicht heißen sollte, dass sie immer zusammen sein würden.

So oder so. Wenn sie heute die brave kleine Soldatin spielte, würde Zacharel das von nun an immer von ihr erwarten. Vielleicht sogar im Bett. Sie wären einander niemals ebenbürtig.

„Okay, hör zu“, forderte sie schließlich. „Vier Jahre lang hat man mir gesagt, was ich zu tun habe, was ich anzuziehen oder zu essen habe, welche Medikamente ich zu nehmen habe, wann ich mein Zimmer zu verlassen und wann ich drinzubleiben habe. Wann immer ich nicht gehorchte, wurde ich bestraft und dann gezwungen, das zu tun, wogegen ich mich gewehrt hatte. Diese Art von Beziehung möchte ich mit dir nicht haben. Lieber habe ich überhaupt keine Beziehung.“

„Siehst du? Das ist genau das, womit ich gerechnet habe.“ Seine Knöchel wurden weiß, und sie hatte den Verdacht, dass er noch tagelang Blutergüsse haben würde, so heftig krallte er sich in seine Oberschenkel. Diesem Druck könnten auch seine Selbstheilungskräfte nichts entgegensetzen. „Wenn einer meiner Männer es wagen würde, mir den Gehorsam zu verweigern, würde ich …“

„Was? Ihn schlagen?“, fiel sie ihm ins Wort. „Tja, ich bin aber keiner von deinen Männern.“

„Schlagen, ja. Das habe ich schon mal getan. Genau wie Schlimmeres. Und du willst einer meiner Männer sein. Du hast mich gebeten, dich auszubilden.“

„Und bisher hast du mir nicht das geringste bisschen beigebracht.“

Schwer senkte sich Stille zwischen ihnen.

„Also gut. Bringen wir das in Ordnung.“ Schon war er auf den Beinen, und einen Augenblick später legte er die Arme um ihre Taille und hob sie von den Füßen. Wieder spürte sie diese seltsame Empfindung völliger Schwerelosigkeit, als er sie durch eine Wand nach der anderen bis nach draußen in den Park flog.

Ohne Vorwarnung ließ er sie auf den Hintern plumpsen. Zischend wich die Luft aus ihren Lungen und ihr Gehirn knallte gegen die Schädeldecke. Überall auf den Kieswegen waren Menschen unterwegs, aber niemand achtete auf sie und Zacharel.

„Das ändert nichts daran, wie ich dich behandle“, grollte sie leise. „Wenn überhaupt, hast du dir gerade zusätzlich noch eine zähnefletschende Weiberhorde an den Hals geholt.“

„Sie können uns weder sehen noch hören“, erklärte er.

Konnten sie nicht? „He, Sie“, rief sie und blickte sich um. Niemand zuckte auch nur mit der Wimper. Wow, sie nahmen sie tatsächlich nicht wahr.

„Übrigens, sollte ich mich noch nicht klar genug ausgedrückt haben: Ich finde, du bist ein Arsch“, murrte sie und sprang auf die Füße.

„Du wolltest trainieren, also trainieren wir.“ Bei seinen Worten verwandelte sich sein Gewand in eine lockere schwarze Hose. Ohne Oberteil. „Aber zuerst …“

Seine sonnengebräunte Haut wurde dunkler … dunkler … nahm einen tiefroten Ton an. Hörner sprossen aus seinen Schultern hervor, seine Flügel zerflossen zu abstoßenden knotigen Hautlappen, die sich über dürre Knochen spannten, und aus seinem Steißbein trat ein Schwanz hervor, an dessen Ende eine metallisch glänzende Spitze drohend hin und her zuckte.

Ein Schrei brach aus Annabelles Kehle hervor. Aus purem Instinkt zog sie die Messer hervor, die sie sich an die Beine geschnallt hatte, und stürzte sich auf die Kreatur aus den Tiefen ihrer Albträume, hieb mit dem Messer nach ihr. Eine Mischung aus Entsetzen, Verrat und Schock ließ ihr Blut zu einem giftigen Schleim gerinnen. Dieses Ding war ein Dämon, und er hatte sie hereingelegt. Die ganze Zeit über hatte er sein Spielchen mit ihr gespielt, hatte sie sogar ins Bett gekriegt.

„Du widerst mich an!“, schrie sie und stach nach seiner Kehle.

Mühelos packte er sie bei den Handgelenken, wirbelte sie herum und presste sie an seinen harten Körper. „Beruhig dich und denk nach, Annabelle.“

Trotz seiner abartigen Erscheinung war seine Stimme immer noch die von Zacharel, und bei dieser Erkenntnis wich etwas von ihrer Panik.

„Du fühlst dich immer noch sicher in meiner Gegenwart“, fuhr er fort. „Kein Hauch von Bösartigkeit liegt in der Luft. Ich habe mich nicht verwandelt; ich habe einfach nur deine Wahrnehmung beeinflusst.“

Immer noch wehrte sie sich, versuchte verzweifelt, freizukommen.

Unentrinnbar hielt er sie fest. „Beruhig dich“, wiederholte er. „Denk nach. Du hast gesehen, wie ich mein Gewand von einer Sekunde auf die andere verwandelt habe. Du hast gesehen, wie ich genauso schnell die Erscheinung meiner Flügel verändert habe. Ich bin es, Zacharel. Ich habe dich in meinen Armen gehalten, dich geküsst und berührt.“

Der Rest ihrer Panik verschwand, und schließlich dämmerte es ihr. Ihr Zappeln wurde langsamer … hörte auf … Tief holte sie Luft … atmete aus …

Wenn die Dämonen auftauchten, strömte ein widerwärtiger Verwesungsgestank von ihnen aus, dazu eine Bösartigkeit, die sich wie ein klebriger Film auf Annabelles Haut legte, den sie nicht abschrubben konnte. Doch in Zacharels Armen nahm sie nur jenen Morgenhimmel-Duft und die warme Nähe eines Mannes wahr.

„Warum … hast du … dein Aussehen verändert?“ Ihr Kopf mochte es begriffen haben, doch ihr Körper hinkte etwas hinterher. Sie atmete immer noch schwer und hektisch.

„Ich kann dir nicht beibringen, nach einem Schwanz Ausschau zu halten, wenn ich keinen Schwanz habe. Und erinnerst du dich, wie ich dir erzählt habe, dass es möglich ist, Angst durch Handeln zu überwinden? Dass es wichtiger ist, was du tust, als wie du dich fühlst? Ich will, dass du lernst, gegen einen Dämon vorzugehen, auch wenn dein Herz hämmert und dir die Knie wackeln.“

Okay. Okay, sie konnte das schaffen. „Du kannst mich jetzt loslassen. Ich werde mich benehmen.“

„Warum solltest du?“ Er stieß sie fest genug von sich, dass sie ins Stolpern geriet. Blitzschnell drehte sie sich um, sodass sie ihn im Blick hatte, und hielt die Messer weiter in den Händen. In seinen Augen schimmerte immer noch jenes hypnotisierende Grün und half ihr, in der Gegenwart zu bleiben, statt von der hin und her scheppernden Schwanzspitze in die Vergangenheit hinabgezerrt zu werden.

Unwillkürlich senkte sie den Blick und verfolgte gebannt, wie das Ding umherpeitschte. „Hast du gerade einen Witz gemacht, Zacharel?“

„Sag du’s mir.“

Plötzlich schnellte der Schwanz auf sie zu, schlang sich um ihren Knöchel und zerrte mit einem Ruck daran – seltsamerweise jedoch ohne ihre Haut zu verletzen. Erneut landete sie höchst unsanft auf dem Hintern und starrte wütend zu ihm auf.

„Du hättest augenblicklich aufspringen und einen deiner Dolche auf mich schleudern sollen“, erklärte er beiläufig. „Ich könnte dich in diesem Moment angreifen, und du hättest nichts, um dich zur Wehr zu setzen.“

Äh, sie könnte ihn abstechen – weil sie immer noch ihre Messer hatte. Ihr die wegzunehmen, darauf war er nicht gekommen. „Erst mal hast du mir nicht gesagt, dass ich dich aufschlitzen darf.“

„Und ein Dämon würde dir so etwas sagen? Dich vorwarnen?“

Verdammt, er hatte recht. Peinlich berührt von ihrer Schwäche und Dämlichkeit rappelte sie sich auf und grummelte: „Das ist also deine Unterrichtsmethode? Versuch und Irrtum?“

„Meine andere Methode würde dir nicht gefallen. Wenn du das nächste Mal siehst, dass ich auf dich losgehe, sei schneller.“ Alles klar. Sie wartete, beobachtete, wie sein Schwanz nach links schwang … nach rechts … und in ihre Richtung zuckte. Wie befohlen sprang sie in die Höhe, während die Spitze blitzend durch die Luft fuhr. Doch er hatte ihre Reaktion erwartet; erneut schnellte der Schwanz auf sie zu und schlang sich um ihren Knöchel, sandte sie noch einmal zu Boden.

Verflucht noch mal! „Nur dass du’s weißt, normalerweise bin ich besser. Die Tatsache, dass ich noch am Leben bin, ist der beste Beweis.“

„Nein, die Tatsache, dass du noch lebst, beweist nur, dass die Dämonen nicht ernsthaft versucht haben, dich umzubringen. Und nur damit du es weißt: Ich habe dich soeben zweimal getötet“, fügte er hinzu. „In der Schlacht kämpft jeder Dämon dreckig. Sie greifen von hinten an, treten auf dich ein, wenn du am Boden bist, schlagen dorthin, wo es am meisten schmerzt.“

„Okay.“ Wieder stand sie auf. „Dämonen können mich mal kreuzweise, also wenn du das nächste Mal auf mich losgehst, wirst du schon sehen, was du davon hast.“

„Gut.“ Ohne weitere Vorwarnung ließ er den Schwanz vorschnellen, verfehlte sie, schwang ihn erneut, verfehlte sie wieder.

Bei ihrem letzten Sprung drehte sie sich gerade genug, dass sie auf seinem Schwanz landete und ihm ein schmerzerfülltes Zischen entlockte. Grinsend erklärte sie: „Auch wenn du ein furchtbarer Lehrer bist, ich glaube, diese Unterrichtseinheit gefällt mir.“

Fast unbemerkt zupfte ein Lächeln an seinen Mundwinkeln, blitzte ein Grübchen auf und war sofort wieder verschwunden, bevor er einen dieser widerwärtigen Flügel in ihre Richtung schleuderte. Hüpfen würde ihr diesmal nichts bringen, das abartige Gebilde war zu groß. Also tat sie das Einzige, was ihr übrig blieb. Geduckt wirbelte sie herum, holte mit dem Dolch aus und zog ihn durch das Gewebe.

Zischend atmete er aus und riss den Flügel zurück. Blut rann über goldene Federn – Federn, an deren Stelle schnell wieder schwarze, ledrige Haut trat, als er die Illusion erneuerte. Einen Augenblick lang fürchtete Annabelle, sie sei zu weit gegangen.

Dann nickte Zacharel befriedigt. „Ausgezeichnet. Ich bin also doch nicht so ein furchtbarer Lehrer.“

„Eigentlich waren es meine Instinkte, die dir den Treffer eingebrockt haben, nicht deine überwältigende Lehrmeisterschaft.“

Wieder die Andeutung eines Lächelns. „Ich werde mich bemühen, es besser zu machen.“

„Willst du damit sagen, ich wäre die Erste, die sich beschwert?“

„Nein. Aber deine ist eine von zwei Beschwerden, denen Gehör zu schenken ich bereit bin.“

Was für ein romantisches Eingeständnis. Aber deswegen werde ich in der nächsten Runde nicht sanfter mit ihm umspringen. „Und die andere kam von …?“

„Meinem Bruder.“

Bisher hatte er jedes Mal die Schotten dichtgemacht, sobald die Sprache auf seinen Bruder kam. Doch nach der vergangenen Nacht hoffte sie, er würde ihr Details anvertrauen über das, was geschehen war. „Der Bruder, den du … getötet hast?“ Sie wollte mehr über ihn erfahren. Über diesen Mann, den sie in ihr Bett gelassen hatte.

„Ja.“ Er sprach nicht weiter, doch die Trauer in seinem Ton sprach ihre eigene Sprache.

Wenigstens hatte er nicht das Thema gewechselt. „Warum hast du es getan?“ Zuvor hatte sie vermutet, es könnte ein Unfall gewesen sein. Jetzt, wo sie ihn besser kannte, wagte sie das zu bezweifeln. Zacharel war niemand, dem Unfälle passierten. Er war zu wachsam, zu vorsichtig. Er musste einen Grund gehabt haben.

Das Eis kehrte zurück in seinen smaragdenen Blick. „Es war besser so für ihn.“

Damit war das Thema offensichtlich beendet. Aber … jetzt fragte sie sich, ob dieser Bruder krank gewesen war. Das bedeutete es doch normalerweise, wenn es ‚besser so‘ war, wenn jemand starb. Armer Zacharel. „Na ja, dein Verlust tut mir sehr leid.“

Noch bevor das letzte Wort ihren Mund verlassen hatte, war er auf ihr, stieß sie mit den klauenbewehrten Händen zu Boden – ohne sie zu verletzen. Überrascht breitete sie im Fallen die Arme aus und lockerte den Griff um eins ihrer Messer.

Von einem Augenblick auf den nächsten drückte sein Gewicht sie herunter. Mit einer Hand hielt er ihre Arme über ihrem Kopf fest. Argh! Sie bäumte sich auf, einmal, zweimal, doch sie konnte ihn nicht abwerfen.

„Wenn ich wirklich ein Dämon wäre“, knurrte er mit derselben Kälte, die sie in seinen Augen entdeckt hatte, „was würdest du tun, um mir jetzt noch zu entkommen?“

„Dich beißen, wenn du dich runterbeugst.“ Wie sie es in der Anstalt unzählige Male hatte tun müssen.

„Und riskieren, verdorbenes Dämonenblut zu schlucken?“

Steine schienen in ihrem Magen zu liegen, schwer und scharfkantig. „Was passiert, wenn man verdorbenes Dämonenblut schluckt?“

„Man wird krank.“

Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass man daran sterben konnte. Panisch dachte sie an die letzten vier Jahre zurück. Doch die wenigen Male, als sie krank gewesen war, hatte es an einer Überdosis Medikamente gelegen, die das Personal ihr aufgezwungen hatte. Also hatte sie bestimmt nichts von dem Blut geschluckt. Oder?

„Hör mir gut zu.“ Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. „Um dich zu befreien, musst du auf eins meiner Hörner einstechen.“

„Nicht alle Dämonen haben Hörner.“

„Und wie man die ungehörnten bekämpft, werde ich dir beim nächsten Mal beibringen. Heute lernst du, wie man mit Hörnern umgeht.“

Mit anderen Worten: Konzentrier dich auf das Hier und Jetzt. „Aber du hältst meine Hände fest.“

„Und du kannst mich nicht irgendwie dazu verleiten, meinen Griff zu lockern?“

Hm, na ja. Ihn schon. Aber jemand anders? „Sagen wir mal, ich schaffe es. Würde der Dolch nicht einfach steckenbleiben?“ In dem Fall stünde sie ohne Waffe da. Zähne standen nicht mehr zur Debatte. Niemals wieder.

„Ja, genau darum geht es. Die harte äußere Hülle schützt ein weiches, verwundbares Innenleben. Wenn du die Nerven richtig triffst, kannst du den Dämon für mehrere Sekunden lähmen, manchmal sogar minutenlang.“

Na das war doch mal ein nützlicher Hinweis.

„Okay. Dann lass uns diese Theorie von dir mal auf die Probe stellen.“

Doch gerade als sie sich bereit machte, ihn dazu zu bringen, seinen Griff zu lockern, fielen drei beeindruckende Schatten auf sie und Zacharel sprang auf. Hektisch rappelte auch sie sich auf, im Glauben, die Dämonen hätten sie wieder aufgespürt. Statt einer hässlichen Dämonenhorde tauchte jedoch links von ihr der blonde Krieger aus der Anstalt auf – Thane – und landete elegant, die weißen, golddurchwirkten Flügel ausgestreckt.

Zu ihrer Rechten tauchte ein Krieger auf, dessen Haar und narbenübersäte Haut genauso weiß waren wie sein Gewand. Der einzige Farbtupfer an ihm waren die roten Augen, mit denen er sie finster anstarrte.

Direkt vor ihr stand der größte Mann, den sie je gesehen hatte – oder der vermutlich je erschaffen worden war. Seine Haut schimmerte in dem betörendsten Gold, das sie je gesehen hatte, in seinen Augen schimmerte ein Regenbogen aus den herrlichsten Farben.

„Wir haben nach dir gesucht, Zacharel“, ergriff Thane das Wort. „Wir haben versucht, dich zu erreichen, aber du hast nicht geantwortet.“

Interessant, dass er Zacharel auch in dieser Gestalt erkannte. Ebenso interessant, dass er ihren Engel bei seinem Namen genannt hatte, statt ihn als „Majestät“ anzusprechen wie damals in der Anstalt.

„Ich hatte mich jeglicher Kontaktaufnahme verschlossen.“

Was auch immer das bedeutete.

„Sollen wir uns auch verkleiden und bei der Party mitmachen?“ Kritisch beäugte Thane die dämonisch rote Haut und runzelte die Stirn. „Du blutest.“ Er wandte sich seinen Begleitern zu. „Er blutet.“

„Sie hat ihn geschnitten“, stellte der Typ mit den RegenbogenAugen fest. Die Ungläubigkeit in seiner Stimme kannte keine Grenzen. „Von ihrem Dolch tropft noch das Blut.“

Drohend trat der Vernarbte einen Schritt auf sie zu.

Sie stellte sich breitbeinig hin, bereit, sich zu wehren. „Willst du auch ’ne Kostprobe? Kannst du haben, wenn du’s wirklich drauf anlegst, mich herauszufordern.“

Doch augenblicklich stellte Zacharel sich vor sie. Von jetzt auf gleich waren wieder sein dunkles Haar und die bronzene Haut zu sehen, genau wie sein Gewand. Fort waren die Hörner und der Schwanz. „Niemand fasst das Mädchen an. Unter keinen Umständen. Wer es doch tut, stirbt.“

„Oh ja“, schaltete sie sich ein und sprang nach vorn – nur um wieder zurückgeschoben zu werden. „Der stirbt.“ Würde sie denn niemals jemand ansehen und für unschuldig halten?

Mit offenem Mund starrten alle drei Männer erst Zacharel, dann sie an. Dann nickten sie einer nach dem anderen. Und wenn sie sich nicht täuschte, warfen sie einander listige, amüsierte Seitenblicke zu. Dieses Amüsement versetzte sie in Erstaunen.

„Zwei Schocker an einem Tag“, bemerkte Thane. „Erst mache ich mir Sorgen um meinen Befehlshaber. Und dann erlebe ich, wie sich ein unbedeutender Winzling als seine Beschützerin aufspielt. Schämst du dich, Zacharel?“

Zacharel warf ihr einen wütenden ‚Das ist deine Schuld‘-Blick zu.

Dazu zuckte sie nur mit den Schultern. Es tat ihr nicht im Geringsten leid.

„Tja, da wir jetzt wissen, dass Zacharel in guten Händen ist“, schaltete sich der buntäugige Krieger in höhnischem Tonfall ein, „können wir ja zur Sache kommen.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit Zacharel zu. „Wir dachten, es würde dich interessieren, dass die Dämonen, die deine Wolke angegriffen haben, von Bürde geschickt wurden. Wir wissen jetzt, wo er sich aufhält.“

Zacharel griff nach hinten und packte Annabelles Hand, als müsste er sich vergewissern, dass sie noch da und in Ordnung war.

Der Rotäugige betrachtete Annabelle noch einmal von oben bis unten, bevor er sich scheinbar wichtigeren Dingen zuwandte. „Er ist im Black Veil. Als wir ihn aufgespürt hatten, konnten wir ihn nicht angreifen. Er hat uns wissen lassen, dass er Jamila in seiner Gewalt hat und im Austausch ‚die schwache und verwundbare Annabelle‘ verlangt – und versuch nicht, etwas anderes zu behaupten, Weib“, fügte er hinzu, ohne sie eines Blickes zu würdigen. „Das bist du.“

„Bin ich nicht“, grummelte sie. Doch im Vergleich zu diesen Kreaturen war sie es.

An Zacharel gerichtet fuhr der weiße Krieger fort: „Außerdem hat er gesagt, solltest du mit einer Eskorte von Engeln aufkreuzen, wird er Jamila köpfen. Und wenn du dich weigerst, zu ihm zu kommen, wird er Jamila auch köpfen.“

Und Annabelle übersetzte: Alles in allem war Zacharel am Arsch.