25. KAPITEL

Zacharel und Thane schwebten über dem Tempel der Gottheit und beobachteten, wie Hunderte von geflügelten niederen Dämonen durch den dunkler werdenden Abendhimmel darauf zurasten. Erst als sie die Flüsse erreichten, die sich um das Bauwerk schlängelten, wurden sie langsamer. Jene Flüsse strömten zu den Rändern der Wolke, ergossen sich in atemberaubenden, von Sternen umrahmten Wasserfällen über die Kanten.

Die meisten der Dämonen kämpften sich erfolgreich durch die Strömung und schafften es, durch die Gärten zu den alabasternen Eingangsstufen zu kriechen, an den efeubehangenen Säulen vorbei und zu dem hoch aufragenden Tor, das ins Innere führte. Einem Tor, das sie nicht überwinden konnten, egal, mit wie viel Gewalt sie darauf einstachen, einschlugen und eintraten.

Einen Moment lang fühlte Zacharel sich zurückversetzt in die Nacht, in der er Annabelle begegnet war. Auch damals hatten die Dämonen blindwütig angegriffen, während sie verzweifelt versuchten, zu ihr zu gelangen. Doch in diesem Gebäude war sie nicht, also … Was mochten die Dämonen diesmal wollen?

„Auf eine solche Weise haben sie unsere Gottheit noch nie angegriffen“, bemerkte Zacharel. Seine Flügel waren schwerer als sonst, immer noch rieselte Schnee aus ihnen herab. „Warum jetzt? Zu welchem Zweck?“

„Ich kann nur annehmen, dass sie irgendeinen Befehl befolgen“, meinte Thane.

„Ja, aber wessen Befehl?“

„Keinen von Bürde, so viel wissen wir. Der ist außer Gefecht.“ „Vielleicht der, der ihn kontrolliert?“

„Vielleicht.“

„Wer sonst würde eine ganze Horde für eine Selbstmordmission opfern? Und noch mal, zu welchem Zweck?“

„Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden.“

Ja. Verhöre.

„Das hier gefällt mir nicht.“ Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, musterte seine eigene Wolke – ein entsetzlicher schwarzer Fleck in der tiefblauen Weite – für einen langen, stillen Moment.

Obwohl Annabelle im Inneren war, versuchten die Dämonen nicht, in die Wolke einzudringen. Oh, sie warfen sehnsüchtige Blicke in ihre Richtung, bewegten sich sogar auf sie zu, doch jedes Mal fingen sie sich und wandten sich wieder der Entweihung des Tempels zu.

Thane seufzte. „Sagen wir mal, die Dämonen sind nur hier, um uns abzulenken. Sagen wir, irgendwo anders ist noch eine Horde, die nur darauf wartet, dass wir in die Schlacht verwickelt sind, um loszuschlagen. Trotzdem könnten wir hier nicht weg. Wir haben unsere Befehle von der Gottheit, die müssen wir befolgen.“

Mit zwei Fingern rieb Zacharel sich das Kinn. „Du hast recht. Das müssen wir. Aber das bedeutet nicht, dass dafür meine gesamte Armee nötig ist.“

Vor seinem inneren Auge beschwor er die Hälfte seiner Truppen herauf und projizierte seine Stimme in ihre Köpfe: Patrouilliert durch den Himmel in der Umgebung, haltet nach verdächtigen Dingen Ausschau, jegliche Art von Aufruhr durch Dämonen. Wenn sein neuer Kommunikationsweg sie überraschte, verbargen sie das gut. So ging es leichter, schneller, und er wünschte, er hätte schon früher damit angefangen.

Ein Jawoll, Sir nach dem anderen erreichte ihn.

Auf mein Zeichen, sandte er an die andere Hälfte, greifen wir an.

An Thane gerichtet fügte er hinzu: „Du, Björn und Xerxes werdet drei Dämonen zu Koldo bringen. Lebendig.“ Kämpfen konnte Koldo zwar noch nicht wieder, aber er war auch nicht mehr ans Bett gefesselt. „Versucht, so viel wie möglich aus ihnen herauszubekommen. Ich werde dazukommen, wenn der Tempel vollständig gesäubert ist.“

Thane schlug ihm auf die Schulter. Es war die erste Berührung zwischen ihnen, die außerhalb des Trainings stattgefunden hatte. „Schon erledigt.“ Mit diesen Worten verließ der Engel seinen Anführer, um seine Freunde zusammenzurufen.

Wieder schnellte Zacharels Blick zu seiner Wolke, er konnte einfach nicht anders. Noch immer versuchte kein einziger Dämon, sich Zutritt zu verschaffen. Was machte Annabelle wohl gerade? Regte sie sich auf, dass er sie zurückgelassen hatte? Sorgte sie sich um ihn?

Du bist ein Krieger. Jetzt benimm dich auch so. Er konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt und erschuf sein Feuerschwert. Einen Augenblick später hielten auch seine Soldaten die Schwerter erhoben. Niemand stürmte voran, ging vor dem Startschuss auf die Feinde los. Auch das war neu.

Dann hallte Zacharels Kampfschrei durch das Himmelreich. „Jetzt!“

Wie tödliche Geschosse fuhren die Engel hinab, Zacharel unter ihnen. Die Dämonen erstarrten, manche erbebten, doch keiner wich zurück. Und als er sich hauend und stechend durch die Lakaien kämpfte, schwarzes Blut über reinsten Alabaster und zartestes Perlmutt spritzte, Köpfe rollten und davonholperten, in die Tiefe fielen, starben seine Gegner … mit einem Lächeln, erkannte er. Als würden sie ein Geheimnis kennen, das ihm verborgen blieb.

Wieder linste er zu seiner Wolke hinüber, doch noch immer hielten die Dämonen sich fern davon. Vielleicht sollte er nach Annabelle sehen. Sie …

Hart raste etwas Schweres in ihn hinein, wirbelte ihn durch die Luft. Sein Griff um das Schwert lockerte sich, und flackernd verlosch es. Krachend landete er auf der untersten Stufe und sämtliche Luft wich ihm aus den Lungen. Nein, nicht bloß durch den Aufprall – durch Löcher. Bei seiner Landung hatte sich ein Paar Hörner in seine Brust gebohrt, die Spitzen fetzten durch das Gewebe seiner Lungen und vergossen ein lähmendes Gift in seine Blutbahn.

Ablenkung tötet. Das wusste er. Und wie er das wusste. Und jetzt würde er den Preis dafür zahlen. Seine Muskeln zuckten, als er seinen Armen befahl, zu schlagen, seinen Beinen, zu treten. Doch die Gliedmaßen verweigerten ihm den Dienst. Der Dämon riss die Hörner aus seiner Brust und gackerte bösartig, während er seine Freunde herbeirief. Nur zu bald strömten Lakaien auf ihn ein, bissen ihn, schlugen ihre Klauen in sein Fleisch, und er konnte nichts dagegen tun.

Bist du noch beim Tempel? sandte er in Thanes Geist.

Ganz in der Nähe. Die Antwort des Kriegers klang atemlos, trug eine Ahnung davon mit sich, wie schnell er sich bewegte, während er sprach.

Ich bin am Fuß der Treppe. Hilf … mir. Nie zuvor hatte er um Hilfe bitten müssen, und dass er es hier und jetzt tun musste … Es war demütigend.

Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, bevor um ihn herum Schmerzensschreie und Stöhnen erklangen. Zähne wurden aus seinem Fleisch gerissen, Hörner abgetrennt, und einer nach dem anderen fielen die Dämonen, die ihn belagerten.

„Keine Sorge. Das hab ich auch schon durchgemacht.“ Wachsam blieb Thane neben ihm, erschlug jeden Lakaien, der sich in ihre Nähe wagte. „In ein paar Minuten sollte das Gift seine Wirkung verlieren.“

Zacharel konnte bloß daliegen, während er sich fühlte, als hätte man ihn in die Feuer der Hölle geworfen. Wenigstens konnte er jetzt wieder seine Wolke beobachten … in deren Zentrum plötzlich drei Farbtupfer aufblühten. Düsteres, sich ausbreitendes … Rot?

Rot. Blut. Annabelles Blut.

Dann fiel ein Dämon aus der Wolke, schoss pfeilschnell auf die Erde zu.

Die Wolke, schrie er Thane in seinen Gedanken an. Meine Wolke. Drinnen. Annabelle. Hilf ihr!

Thane hielt sich nicht mit Fragen auf, sondern flitzte davon. Augenblicklich wurde Zacharel wieder überrannt von den Dämonen, die ängstlich Abstand gehalten hatten, solange der Krieger an seiner Seite gewesen war. Er biss sich fast die Zunge durch, so verbittert kämpfte er darum, sich wieder bewegen zu können. Es überraschte ihn nicht, als sein Schultergelenk sich auskugelte. Doch konnte er sich von der lähmenden Wirkung des Gifts befreien? Nein.

Klauen und Zähne schlugen sich in sein Gesicht, seine Brust, seine Beine. Zu begeistert waren die Dämonen bei der Sache, um zu bemerken, wie Zacharels Muskeln zuckend wieder zum Leben erwachten. Zuerst bewegte er die Finger, dann die Zehen, und dann, endlich, seiner Gottheit sei Dank, verlor das Gift seine Wirkung vollends. Mit einem Ruck renkte er sich die Schulter wieder ein und wandte sich blitzschnell gegen seine Angreifer. Brüllend erschuf er ein neues Feuerschwert und schwang es im Kreis, zerteilte jeden, der sich in seiner Nähe befand. Köpfe flogen, Körper brachen zusammen.

Er breitete die Flügel aus und schoss in die Höhe. Fast da … „Annabelle!“ Als er versuchte, ins Innere der Wolke zu fliegen, wurde er zurückgeschleudert und seine Knochen dröhnten vom Aufprall.

Von der anderen Seite der Wolke kam Thane herbeigeflogen. „Da ist irgendeine Art Barriere. Ich komme nicht durch, ohne deine Wolke zu töten.“

Es tut mir leid, sandte er der Wolke zu, als er sein Flammenschwert durch den schleimigen schwarzen Nebel stieß. Das war nicht der gnädige Tod, den er im Sinn gehabt hatte, doch immerhin war es ein Tod. Er musste zu Annabelle gelangen. Augenblicklich öffnete sich ein Loch, der ölige Dunst zog sich zurück, am Rand brutzelnd und vor der Hitze fliehend. Zacharel ließ sich ein Stück fallen und schoss hindurch.

Tiefes Entsetzen ergriff Besitz von ihm. Von den Wänden tropfte Blut, überzog das Bett und den Nachttisch, sammelte sich in kleinen Pfützen überall am Boden seines Schlafzimmers – doch es gab keine Leiche. Und keine Urne.

Thane gesellte sich an seine Seite. „Sie ist stärker, als sie aussieht. Was auch immer geschehen ist, sie wird es überstehen.“

„Ja.“ Aber würde sie das wirklich? Hier hatte offensichtlich ein erbitterter Kampf getobt. „Annabelle“, schrie er.

Keine Antwort.

Zimmer um Zimmer durchsuchte er, während er versuchte, nicht in Panik zu geraten, und die Wolke langsam weiter verbrannte. Bald würde sie für immer verschwunden sein, doch von Annabelle war nirgends eine Spur zu finden. Sie war schlicht verschwunden. „Sie ist nicht hier. Wie kann sie nicht hier sein?“

„Könnte sie … gefallen sein?“ Mitgefühl lag in Thanes Ton.

Nein. Nein! Pfeilschnell schoss Zacharel aus der Wolke und abwärts, Thane direkt hinter ihm. Ich habe gesehen, wie ein Dämon die Wolke verlassen hat, projizierte er. Es könnte sein, dass dieser Dämon sie mitgenommen hat und ich sie bloß übersehen habe.

Wenn es wirklich so war, würde sie sich während des gesamten Wegs nach unten zur Wehr setzen. Lieber würde sie sterben, als sich gefangen nehmen zu lassen. Wenn es dem Dämon irgendwie gelang, sie festzuhalten, würde er ihr Leid zufügen, furchtbares Leid, aber Zacharel wäre es lieber, sie litte Schmerzen, als dass sie stürbe.

Verletzt könnte er sie retten. Tot nicht.

Doch jetzt kannte er die Antwort auf seine Frage von vorhin. Die Dämonen hatten ein Ziel verfolgt mit ihrem Angriff auf den Tempel. Nur dass dieses Ziel lautete, ihn abzulenken und dafür zu sorgen, dass Annabelle allein zurückblieb, darauf war er nicht gekommen. Schäumend vor Wut über die Dämonen, über sich selbst, bremste er seinen Fall viel zu dicht über der Erde, indem er die Flügel ausbreitete – fast wären sie gerissen. Die Landung sandte einen harten Stoß durch seinen Körper und ließ ihn vorwärts stolpern.

Als Erstes bemerkte er einen weiteren Dämon, der zerstückelt am Boden lag. Erst vor Kurzem war er getötet worden, das Blut war noch frisch, kaum geronnen, und stammte nicht vom Aufprall, sondern von Klauen. Zwei Dämonen, die einander bekämpft hatten? Vielleicht um ihre Besitzansprüche auf Annabelle. Mit verengten Augen blickte Zacharel sich um, suchte nach irgendeinem Hinweis auf sie. Meilenweit in alle Richtungen nur Wald und eine unnatürlich stille Tier- und Insektenwelt.

Zu seiner Linken blitzte etwas im Mondlicht auf. Eine Spur von Annabelle? Er eilte hinüber, eine Spur aus Eis hinterlassend, und griff nach … der Urne seines Bruders. Sie war leer.

Das Glas zerbrach in seiner Hand.

„Was ist?“, fragte Thane, als auch er landete.

Zacharel beugte sich hinab, betastete den Boden. Trocken. Also war die Essenzia seines Bruders nicht hier vergossen worden. Möglicherweise war das schon in der Wolke geschehen, und in diesem Fall wäre die Essenzia für immer fort, mit Zacharels Heim zu Asche verbrannt. Von seiner Hand zerstört, genau wie damals Hadrenial. Vielleicht hatte auch einer von Annabelles Angreifern die Urne auf dem Weg nach unten ausgeschüttet. Aber er roch keine …

Augenblick. Doch, tatsächlich. Er nahm den Geruch seines Bruders wahr: Morgenhimmel, Tautropfen und ein Hauch von Tropenduft. Jemand hatte seine Essenzia in sich aufgenommen.

Mit dem nächsten Atemzug stellte Zacharel fest, dass der Geruch bereits verflog. Wer auch immer die Essenzia seines Bruders in sich trug, war auf der Flucht. Annabelle? Oder ein Dämon? Oder beide?

„Zacharel?“, bohrte Thane nach.

„Geh. Hilf deinen Jungs, die Dämonen zu verhören“, befahl Zacharel. Wenn er die Welt zerstören müsste, um Annabelle zu retten, würde er es tun, doch er würde nicht zulassen, dass sein Soldat da in irgendeiner Weise mit hineingezogen würde.

Ohne die Antwort abzuwarten, rannte er los und befahl sich immer wieder, nicht noch mehr Angst oder Zorn zuzulassen. Nicht jetzt und nicht später. Auch wenn seine Brust bereits in Flammen stand, mit Sicherheit blutete. Jene Risse, die er schon seit so vielen Tagen spürte, waren jetzt klaffende Wunden, durch die ein Sturm von Emotionen auf ihn einpeitschte.

Zweige peitschten ihm ins Gesicht, zerrten an seinem Gewand. Scharfkantige Felsen schnitten in seine bloßen Füße – die Dämonen mussten ihm die Schuhe ausgezogen haben. Auf dem Weg kam er an zwei weiteren Dämonen vorbei, einer tot, der andere im Sterben begriffen. Er hielt nicht an, schuf ein neues Schwert und hieb den Körper des Überlebenden im Vorbeilaufen entzwei.

Am Waldrand wartete ein Elektrozaun auf ihn. Annabelle, ein Mensch, hätte es nicht über die stacheldrahtbewehrte Oberkante geschafft, doch wer immer die Essenzia seines Zwillings in sich trug, war auf die andere Seite gelangt. Also jagte er einen Dämon. Blieb nur noch die Frage, ob dieser Dämon Annabelle mit sich schleppte oder nicht.

Die Urinstinkte, die ihn dazu getrieben hatten, bei Annabelle Lust zu suchen, veränderten sich zu etwas Dunklem, Tödlichem. Sein Zorn verzehrte ihn, war unmöglich aufzuhalten, wuchs heran zu der zerstörerischsten Macht, die er je erlebt hatte. Mit einem Rauschen breitete er die Flügel aus, wollte über den Zaun fliegen, doch im letzten Augenblick fing ein kleiner dunkler Fleck auf dem Draht des Zauns seinen Blick ein und er hielt inne.

Blut. Rot, nicht schwarz. Frisch. Gesättigt mit Annabelles Duft.

Also dann. Keine weiteren Fragen. Sie war da draußen und sie brauchte ihn. Was auch immer er tun musste, er würde sie retten. Und wenn es ihn das Leben kostete.