11. KAPITEL

Ich werde diese Frau besitzen, dachte Zacharel. Und wenn es nur das eine Mal ist, ich werde sie besitzen. Endlich werde ich ihren Geschmack kennenlernen, niemals wieder werde ich mir darüber den Kopf zerbrechen müssen.

Als Annabelle so eng an ihn gedrückt stand, hüllte er sie mit seinen Flügeln ein, zwang sie noch näher an seinen Leib. Seine frisch verheilten Muskeln und Sehnen protestierten mit leisem Ziepen und Zerren, doch das konnte ihn nicht aufhalten. Nichts könnte das.

„Was wird es mich kosten?“, fragte sie leise. Ihr süßer Duft stieg ihm in die Nase, erfüllte seine Lungen, zeichnete ihn.

Dass du mich küsst. Dass du dich mir hingibst. Doch sprach er es aus? Nein.

Er hätte Antworten von ihr verlangen können, wie sie es getan hatte. Zum Beispiel darüber, was ihr Handel mit Koldo beinhaltete – ein Handel, der von ihr verlangte, dass sie einen Monat lang an Zacharels Seite blieb. Er wusste, dass es eine solche Abmachung gab. Auf keine andere Weise hätte sie an das Wasser des Lebens kommen können. Was er nicht wusste: Warum wollte Koldo ihn für so lange Zeit aus dem Himmelreich fernhalten?

Doch in diesem Moment war ihm das vollkommen egal. Das Ergebnis gefiel ihm, also würde er keine Antworten von Annabelle fordern, die zu geben sie noch nicht bereit war. Irgendwann würde er sie bekommen, dessen war er sich sicher.

Ja, ich werde sie besitzen. Trotz seiner Vorfreude darauf kochte in seinen Knochen der Zorn. Er wollte sie nicht wollen, und er gab ihr die Schuld an dem, was er geworden war … ein Mann, der bereit war, seine Pflicht beiseitezuschieben und auf seine Ehre zu verzichten, nur um den Geschmack einer Frau kennenzulernen.

„Wir werden die Bedingungen klären, wenn wir unseren neuen Aufenthaltsort erreicht haben“, beschied er ihr in harscherem Ton als beabsichtigt. „Je länger wir hierbleiben, desto größer wird die Gefahr für meinen Soldaten.“

Einen Augenblick lang studierte sie sein Gesicht, suchte nach … was? „Na gut. Stellen wir unsere kleine Verhandlung für den Augenblick zurück.“ Dann legte sie ihm die Arme um den Hals und verschränkte die Finger in seinem Nacken.

Immer wieder versetzte sie ihn in Erstaunen. Wenn er damit rechnete, sie würde protestieren, gab sie nach. Wenn er dachte, sie müsste nachgeben, setzte sie sich zur Wehr. Wenn er glaubte …

… entgleiste Gedanken … mühsam wieder auf Kurs gebracht… Jetzt war sie ihm sogar noch näher, als wären sie zwei Hälften eines Ganzen. Schon der bloße Gedanke erhitzte sein Blut, ließ sein Inneres brennen und seine Haut in Schweiß ausbrechen.

Zacharel.

Nur in seinen Gedanken ertönte die männliche Stimme, weder eine Erinnerung noch seine eigenen Worte. Thane? fragte er, augenblicklich besorgt.

Ja.

Dir geht es gut? Und den anderen?

Wir wurden nicht angegriffen, aber wir haben die Dämonen in Schach gehalten, die hinter euch her waren.

Gut. Habt ihr einen am Leben gelassen?

Ein zögerliches Ja.

Als würde Zacharel Einwände erheben gegen die bevorstehende Folterung, wenn das doch der einzige Grund war, aus dem der Dämon noch lebte. Findet heraus, wer die Lakaien geschickt hat. Sie wollten Annabelle holen.

Wie geht es ihr?

Gut. Aber der einzige Weg, ihre Sicherheit zu gewährleisten, ist, sie zu verstecken. Deshalb werde ich eine Weile mit ihr verschwinden. Nimm Verbindung zu mir auf, wenn du die Antwort hast. Und Thane, fügte er hinzu, bevor der Soldat die Verbindung abbrechen konnte, sieh nach Koldo, wenn du eine Gelegenheit dazu hast.

Warum? Was ist los?

„Zacharel?“, holte Annabelle ihn zurück in die Gegenwart. „Ich will ja nicht rummeckern, aber du stehst da einfach nur rum und starrst mich an.“

„Nicht dich, aber ich brauche noch einen Moment“, erwiderte er, doch durch die Ablenkung hatte er die Verbindung zu Thane verloren. Er versuchte, sie wiederherzustellen, doch es ging nicht. „Okay, der Moment ist vorbei.“

„Na dann.“ Obwohl sie vollkommen verwirrt wirkte, fuhr sie fort: „Äh, also noch mal: Was schlägst du vor, wie wir hier verschwinden?“

Schließlich konzentrierte er sich wieder auf sie. „Auf dieselbe Weise, wie wir die Anstalt verlassen haben. Meine Frage an dich ist: Wirst du diesen Flug genauso sehr genießen?“

Und schon verwandelte er ihre Körper in nichts als Rauch und flog mit ihr durch die Decke, dann durch Schicht um Schicht steiniger Erde. Er hasste es, Koldo allein zurückzulassen, doch er war schon an die Grenzen des Annehmbaren gegangen, indem er den Krieger auf das Bett gelegt hatte.

Was auch immer seine Beweggründe gewesen waren: Koldo – ein Krieger, der ihm zugewiesen worden war, weil er seinen letzten Befehlshaber zu Brei geschlagen hatte – hatte ihm geholfen, und damit auch Annabelle. Nie hätte Zacharel damit gerechnet, die Männer und Frauen unter seiner Führung könnten ihm irgendwann etwas bedeuten. Doch er konnte nicht leugnen, dass die Risse in seiner Brust sich erweiterten, Platz machten für mehr als nur Annabelle und Verlangen.

Sie glitten an die Oberfläche, durch Gras und Blumen, hoch aufragende Bäume, hinauf in einen frischen Morgenhimmel. Die Sonne war halb verborgen hinter dicken Wolken. Überall um sie herum flogen Vögel umher und begrüßten sie mit ihren schrillen und doch willkommenen Stimmen.

„An diese Schönheit werde ich mich niemals gewöhnen“, brachte Annabelle atemlos hervor, und Ehrfurcht und Erstaunen erfüllten ihre Stimme.

Ja, sie genoss diesen Flug genauso sehr wie den ersten. Wie würde sie auf andere Dinge reagieren, die freien Frauen offenstanden? Dinge wie Shoppen, Tanzen, Verabredungen?

„Findest du es nicht auch wunderschön?“, wollte sie wissen.

„Einst glaubte ich das, ja, und ich ging davon aus, diese Schönheit würde niemals vergehen.“

„Wir wurden in diese wundervolle Welt hineingeboren, Zacharel. Wir müssen dieses Land und seine Bewohner schützen.“

„Alles, was ich sehe, ist das Blut unserer Eltern über all das Gras und die Ozeane verteilt.“

„Sie sind im Kampf gegen Dämonen gestorben, eine größere Ehre gibt es nicht. Wie oft schon hast du genau diese Worte zu mir gesagt? Also warum kannst du dich nicht auf die Reinheit und Unschuld konzentrieren, die hier vor uns erstrahlt?“

Weder er noch sein Bruder hatten etwas von den Dingen geahnt, die sich schon wenige Wochen nach diesem Gespräch ereignen würden. Hadrenials Gefangennahme, Folterung, und nach einem Jahr der Suche seine „Rettung“ durch Zacharel. Für Hadrenial war die Welt nicht länger ein herrlicher, glorreicher Ort gewesen. Er hatte die Hässlichkeit gesehen, war Hand in Hand mit dem Bösen gegangen. Und er hatte begonnen, Hass zu empfinden.

„Ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte Annabelle. „Du bist plötzlich so angespannt.“

Ausnahmsweise wünschte sich Zacharel, er könnte lügen. Er fürchtete sich vor seiner Reaktion, sollte er den Gedanken, die durch seinen Kopf schwirrten, tatsächlich Ausdruck verleihen. Würde er unkontrolliert wüten? Oder, schlimmer noch, weinen? Vom Tod seines Bruders hatte er Annabelle erzählt, aber nicht von seinen Gründen, ihm jenen Todesstoß zu versetzen. Wenn er es täte, würde sie wüten und weinen? Die Tränen einer Frau gehörten nicht zu den Dingen, mit denen er in diesem Moment umgehen könnte.

„Hallo? Alles in Ordnung?“

„Schhh“, erwiderte er. „Ich muss mich konzentrieren.“ Die Wahrheit. Sonst könnte er etwas tun, das er später bereuen würde.

„Wehe, du sagst noch einmal Schhh zu mir.“

Wieder einmal zuckten seine Mundwinkel auf diese Art, die er in ihrer Gegenwart mittlerweile fast erwartete. Suchend spähte er voraus, konnte jedoch keine Dämonen entdecken. Beim letzten Mal hatten sie Annabelle innerhalb von vier Tagen gefunden. Was bedeutete, dass sie für den Augenblick relativ sicher sein sollte. Trotzdem wollte er nicht riskieren, sie an einen öffentlichen Ort zu bringen. Oft hängten sich niedere Dämonen an ahnungslose Menschen. Er wollte sie auf eine abgelegene Insel im Pazifik bringen, unentdeckt und unberührt von Menschen, wie geplant, aber … er änderte den Kurs.

Über eine Stunde lang glitt er durch die alles umspannende tiefe Nacht, erst hoch, dann tiefer, dann wieder hoch. Diesem Zickzack könnte niemand folgen.

„Wenn du mir schon nicht verraten willst, was mit dir nicht stimmt, warum sagst du mir nicht wenigstens, wodurch du den Glauben an die Schönheit der Erde verloren hast?“

Wolken in reinstem Weiß kamen in Sicht, türmten sich um Berge, deren Spitzen schneebedeckt waren. Weite Flächen tiefgrünen Grases und Wiesen voller taubedeckter Blumen. Wasser, in dessen blauen Tiefen sich mit jedem Kräuseln ein Geheimnis zu verbergen schien. Mittlerweile stellte er sich nicht mehr vor, wie Stücke seiner Eltern in alle Ecken der Welt verstreut waren. Kein Gedanke mehr an das Grauen der letzten Tage seines Bruders, und doch …

„Die Umgebung eines Mannes ist oft besudelt durch seine Erinnerungen.“

Warm strich ihm ihr Atem über den Hals. „Das stimmt. Nach der Gerichtsverhandlung hat mein Bruder unser Elternhaus verkauft, mit allem, was darin war. Er wollte keine Erinnerungen an das Entsetzliche, das ich dort verursacht hatte.“

„Aber dieses Entsetzliche hast nicht du verursacht.“

„Nein, aber das wird er mir niemals glauben.“ Ihre Trauer war wie ein Stromschlag, knisternd und gefährlich.

„Worte, in denen Glauben liegt, haben Macht, Annabelle. Auch negative Worte. Wenn du willst, dass er seine Meinung ändert, fang an, dich zu verhalten und so zu reden, als hätte er es bereits getan.“

„Und was ist mit seinem freien Willen? Und wäre eine solche Behauptung nicht eine Lüge?“

„Meinungen können sich ändern – aus völlig freiem Willen. Und nein, es wäre keine Lüge. Du sagst es, und weil Worte Macht haben, macht dein Glaube sie wahr.“

„Aber in dieser Hinsicht habe ich keinen Glauben.“

„Doch, das hast du, aber er ist klein. Verstehst du, Glaube ist messbar. Er wächst, wenn du über die spirituelle Wahrheit nachdenkst und meditierst. Hör auf, den Kopf zu schütteln. Was ich sage, stimmt. Es gibt Naturgesetze wie zum Beispiel die Schwerkraft, aber ebenso gibt es spirituelle Gesetze wie dieses. Du kannst besitzen, was du sagst, wenn du daran glaubst, dass du es besitzt, bevor du es tatsächlich siehst. Das ist Glaube.“

Darüber dachte sie einen Moment lang nach. „Okay, also will er mich wiedersehen.“

„Sehr gut. Sag das immer wieder. Denke ständig daran. Jedes Mal, wenn sich dir ein Gedanke aufdrängt, der dem entgegensteht, was du gerade gesagt hast, zwing ihn, zu verschwinden. Und eines Tages wirst du es mit Leib, Geist und Seele glauben.“

„Und dann nimmt er Kontakt zu mir auf? Einfach so?“

„Und einfach so wirst du eine spirituelle Kraft freisetzen, die größer ist als alles, was du je erlebt hast.“ Er wünschte nur, er hätte diese Wahrheiten auch auf sein eigenes Leben angewandt. Doch ein glaubenserfülltes Mantra konnte einige Zeit brauchen, und wenn jemand keine Geduld hatte, konnte er alles verderben.

„Na gut. Okay. Ich denk drüber nach. Meditiere darüber.“ Sie legte den Kopf an seine Schulter. Es verstrich so viel Zeit, dass er schon dachte, sie hätte ihr Versprechen wahrgemacht und sei eingeschlafen – doch dann fragte sie: „Wo sind wir denn eigentlich?“

„Neuseeland.“ Am Fuß eines der Berge vor ihnen war der Eingang zu Thanes Höhle. Die meisten Engel hatten überall auf der Welt Unterschlüpfe, denn als Krieger konnte man nie wissen, wo man auf der Jagd nach einem Dämon landen würde oder wann man eine Zuflucht brauchen könnte, um sich von einer Verletzung zu erholen. Wie so viele andere hatte Thane sich für einen Ort mit so wenigen Berührungspunkten zu den Menschen entschieden wie nur möglich.

Dorthin würde Zacharel sie bringen. Später.

„Ich wollte immer durch die Welt reisen“, erzählte sie verträumt.

„Und jetzt tust du das auf die stilvollste Art und Weise.“

Ihr entfuhr ein leises, warmes Lachen, dessen Klang seine Sinne mit Vergnügen überflutete. „Das kann ich nicht leugnen.“

Jetzt flog er an der Höhle vorüber und nahm Kurs auf die Whangaparaoa-Halbinsel und Auckland. Dort landete er in einer menschenleeren Gasse. Unwillig zwang er sich, seine Passagierin loszulassen.

Mit einem stummen Befehl verwandelte er ihre Gewänder in T-Shirts und Hosen, beides schwarz.

„Wie hast du das gemacht?“, fragte sie und zupfte an dem Stoff an ihrer Hüfte. „Und wie kann dieser Stoff so weich sein?“

Auf sich wollte er ihre Finger spüren, auf seiner Haut. Bald. „Das war gar nichts. Ich kann das, weil die Gewänder meinen Befehlen gehorchen, genau wie die Wolke.“ Während er sprach, verbarg er seine Flügel in einer Luftfalte.

Ihre Augen wurden groß, als könnte sie nicht ganz glauben, was sie da sah – beziehungsweise nicht sah. Vorsichtig streckte sie die Hand aus, hielt inne und biss sich auf die Unterlippe. „Darf ich?“

Ihre Finger an seinen Flügeln … Es wurde immer besser. Plötzlich war seine Kehle zu eng und er konnte nur nicken, während er seine Flügel an den Rand der Luftfalte brachte, damit sie für Annabelle greifbar waren.

Und sie berührte ihn. Butterweiche Fingerspitzen strichen zärtlich über den Bogen seiner Flügel, sandten einen nicht abreißenden Strom winziger Elektroschocks durch den Rest seines Körpers. „Immer noch da“, stellte sie ehrfurchtsvoll fest.

Aber nur für sie – sie allein.

Sie streichelte ihn noch einen Moment länger, entlockte ihm beinahe ein genussvolles Stöhnen, bevor sie die Hand zurückzog. „Also, was machen wir hier in diesem Aufzug?“

Verzweifelt vermisste er ihre Berührung. „Wir gehen einkaufen. Kleider, Schuhe und was auch immer du in den kommenden Tagen noch brauchen wirst.“

Ihre Hand fuhr zu ihrem Herzen. „Hast du gerade das Wort ‚einkaufen‘ gesagt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken?“

„Das habe ich. Und?“

„Und? Das ist ein Fall fürs Guinnessbuch. Es ist eine weltweit bekannte Tatsache, dass Männer es hassen, shoppen zu gehen.“

„Wie kann ich es hassen, wenn ich es noch nie getan habe?“

Auf ihren Lippen erschien ein bezauberndes Lächeln. „Wenn du nicht schon ein Engel wärst, würde ich dich einen Heiligen nennen. Du Armer. Du hast keine Ahnung, worauf du dich da einlässt.“

Annabelle hatte den Spaß ihres Lebens.

Die Gebäude um sie herum waren genauso schön wie die sie umgebenden Berge, lichtdurchflutet, aus Tonnen von Glas und mit unzähligen leuchtenden Schildern. Das Wasser war so blau wie der Himmel, nahtlos ging eins ins andere über, und die Wolken waren das perfekte Spiegelbild der Segelboote auf dem Wasser. Doch was ihre Aufmerksamkeit vollkommen fesselte, waren die Bogengänge und Säulen an den Straßenrändern mit den Menschen, die geschäftig in alle Richtungen unterwegs waren.

Früher einmal war so etwas für sie selbstverständlich gewesen. Wenn sie shoppen wollte, waren ihre Eltern mit ihr ins Einkaufszentrum gefahren. Sie hatte Outfits anprobiert und ihre Eltern hatten ihre Kritiken dazu abgegeben. Diese „Kritiken“ hatten ausnahmslos aus Lobpreisungen bestanden.

„Du hast nie schöner ausgesehen, Liebes.“

„Die Jungs werden verrückt nach dir sein, Schatz.“

„Du hast definitiv die Stilsicherheit deiner Mutter geerbt, Kleines.“

Annabelle blinzelte die drohenden Tränen fort. Als sie älter geworden war, hatten sie und ihre Freundinnen mindestens zweimal im Monat einen Ausflug ins Einkaufszentrum gemacht, Milchkaffee getrunken, gequatscht und gelacht und den Jungs hinterhergeguckt.

Eine Woge des Heimwehs überkam sie, gefolgt von Kummer über alles, was sie in den letzten Jahren verpasst hatte, und schließlich Entschlossenheit. Jetzt war sie frei. Sie würde nicht zulassen, dass das, was hätte sein können – was hätte sein sollen – ihre Zeit mit Zacharel überschattete. Er selbst war die beste Warnung. Weil er zuließ, dass die Vergangenheit ihn festhielt, konnte er nicht einmal die Schönheit der Welt genießen.

Außerdem hatte Zacharel so etwas noch nie gemacht. Sie würde sich tadellos benehmen müssen, damit er nicht beschloss, sich abzumurksen, um der Erfahrung ein Ende zu bereiten, wie die Freunde ihrer Freundinnen immer angedroht hatten.

„Du hast keinen Spaß?“, wollte Zacharel wissen.

„Doch, versprochen.“

Er nickte, obwohl er nicht überzeugt aussah.

„Ich beweis’ es dir!“ Und damit begann die Mutter aller Shoppingtouren. Zuerst war sie sich nicht sicher, ob andere Menschen Zacharel sehen konnten, trotz seiner veränderten Erscheinung. Dann bemerkte sie, wie Frauen egal welchen Alters ihn mit offenem Mund anstarrten.

Oh ja. Der ist mit mir hier. Sie war ziemlich stolz … bis ihr auffiel, wie die Männer Abstand von ihr hielten, selbst die Verkäufer. Aber … aber … warum? Es war schließlich nicht so, als hingen Fahndungsplakate von ihr an jeder Wand. Oder?

Unsicher blickte sie über die Schulter zu Zacharel. Der starrte gerade finster einen Mann ein paar Gänge weiter an – der plötzlich eilig den Laden verließ.

Okay, das war also des Rätsels Lösung. Aber einen Vorwurf konnte sie ihm daraus nicht wirklich machen. Er war mehr als bloß ein Bodyguard – er war ein lebender Geldautomat. Wann immer sie etwas entdeckte, das ihr gefiel, ob T-Shirt, Hose oder ein Paar Stiefel, hatte er plötzlich Bargeld in der Hand.

„Und, bereust du’s schon?“, fragte sie ihn, als er ihre neueste Errungenschaft genauso verschwinden ließ wie seine Flügel.

„Ich …“

„Behalt das im Kopf!“ Herr im Himmel, ein Cookie-Stand! In derselben Sekunde hatte sie schon die Richtung gewechselt und stürmte an Zacharel vorbei. Zwei Sekunden später stand sie vor dem Cookie-Stand, während ihr schon das Wasser im Mund zusammenlief.

„Chocolate Chip“, sagte sie zu der behandschuhten Dame, die auf ihre Bestellung wartete. „Zweimal.“ Hatte sie je damit gerechnet, so etwas noch einmal tun zu können? Nein. Und dass es jetzt tatsächlich so war … Sie hätte vor Glück weinend in die Knie gehen können. Schon lustig, dass sie seit ihrer Befreiung aus der Anstalt öfter mit den Tränen gekämpft hatte als in den vier Jahren davor.

„Ich möchte keinen“, bemerkte Zacharel.

„Oh, äh, ja, weil der zweite natürlich auch nur für dich gedacht war.“

Er bewegte die Zunge im Mund, während er bezahlte. „Du bist so eine kleine Lügnerin, Annabelle.“

Mit einem vorsichtigen Blick stellte sie fest, dass er nicht wütend zu sein schien. Ein ziemlicher Schock. Sonst plusterte er sich immer gleich auf. Doch diese Hitze, woher sie auch stammen mochte, lauerte immer noch in seinen Augen.

Mit den Cookies in der Hand setzten sie den Einkaufsbummel fort. Schon nach fünf Schritten hatte sie den ersten halb vernichtet. Noch fünf, und er war weg, kein Krümel übrig. Das war das wahre Leben!

An dem zweiten knabberte sie nur, fest entschlossen, jeden Bissen zu genießen. Sie verlangsamte ihre Schritte und zwang Zacharel, neben statt hinter ihr zu gehen.

„Du behandelst dieses Ding, als wäre es ein wahre Kostbarkeit“, bemerkte er.

Na ja, klar. Weil es eine war. „Hast du was gegen Cookies?“

„Das kann ich nicht sagen, da ich noch nie einen gegessen habe.“

Moment. Wie bitte? „Noch nie? So … noch gar nicht?“

„Gibt es eine weitere Bedeutung des Wortes ‚nie‘, die mir nicht bekannt ist?“

Haha. „Aber das ist ja kriminell!“

„Wohl kaum.“

„Warum … warum hast du nicht wenigstens mal einen probiert?“

„Weil ich nur Nahrung zu mir nehme, die mich stärkt.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob dir klar ist, wie lächerlich du gerade geklungen hast. Aber zu deinem Glück ist Annabelle Miller an dem Fall dran und wird dich nicht eine Minute länger in Unwissenheit über die Perfektion der Droge Schokolade leben lassen.“ Sie blieb stehen, brach ein Stück vom verbleibenden Rest des zweiten Cookies ab und hielt es Zacharel an die Lippen. „Mund auf. Du stehst vor der Erkenntnis der wahren Bedeutung des Wortes köstlich.“

Die Hitze loderte in seinen Augen auf und seine Lippen wurden weich. Er würde immer wie ein Krieger aussehen – wie könnte es anders sein bei diesen Muskelpaketen –, aber in diesem Moment war er eher ein Verführer. Der Prinz aus ihrem Traum … Bloß dass er kein verfluchter Dämon in Verkleidung war.

„Du bist wie Eva mit ihrem Apfel“, behauptete er.

„Ist das eine Beleidigung oder ein Kompliment?“

„Beides.“

„Dann bin ich nur halb beleidigt.“ Sie strich etwas geschmolzene Schokolade auf seine Unterlippe. „Mund auf. Zwing mich nicht, das zu wiederholen.“

Er gehorchte.

Dann legte sie das Stück auf seine Zunge, doch bevor sie den Finger zurückziehen konnte, schloss er die Lippen darum und begann zu saugen. Ein Keuchen brach aus ihr hervor, als die Hitze, die sie in seinen Augen gesehen hatte, jetzt durch ihren Körper strömte, sie erbeben ließ.

Für ihn hatte das keine tiefere Bedeutung, das wusste sie. Langsam zog sie ihren Finger zurück. Er hatte keine Erfahrung, keinen Schimmer, was eine solche Handlung andeutete.

Er aß das Gebäck und leckte sich die Lippen, während er sie beobachtete. Was für herrliche Wimpern, dachte sie, was für ein fesselnder Blick.

Was für ein schöner Mann.

Mühsam schluckte sie den Kloß herunter, der sich in ihrem Hals zu bilden drohte. Das hat für ihn keine besondere Bedeutung. Er versucht nicht, dich zu verführen.

„Du hast recht“, sagte er. Sein Tonfall war undeutbar. „Köstlich.“

Im Versuch einer schnippischen Antwort erwiderte sie: „Tja, Pech für dich, dass du dir nicht auch einen bestellt hast.“ Dann warf sie sich den Rest des Cookies in den Mund.

Er schockierte sie mit einem Lächeln. Einem Lächeln! Seine Mundwinkel schossen nach oben, volle Lippen enthüllten gerade weiße Zähne, und er hatte Grübchen. Ja, Grübchen. In voller Pracht. Ihr stockte der Atem in der Kehle, brennend heiß. Er war … er war … umwerfend.

„Ich könnte dir die Leckerei wegnehmen, jederzeit. Könnte sie dir einfach aus dem Mund stehlen. Was würdest du dann tun, tapfere kleine Annabelle?“

Sie schluckte, bevor sie noch erstickte. „Mich ekeln?“ Eine Frage, die eigentlich eine Feststellung hätte sein sollen.

„Hmph“, murmelte er, und das Lächeln verschwand.

Einen Moment lang fühlte sie sich, als wäre die Sonne untergegangen, als herrschte plötzlich eine Dunkelheit, in die nie wieder Licht dringen könnte. „Ich wollte nicht sagen, dass ich es eklig fände, wenn du …“

„Vergiss es. Komm, lass uns deine Shoppingtour zu Ende bringen.“ Er nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich.

Und mit ‚ziehen‘ meinte sie ‚zerren‘. Ach, verdammt. Sie hätte ihn viel lieber noch einmal zum Lächeln gebracht. „Na gut. Aber nur, weil du zahlst“, grummelte sie.

„Mach dir keine Sorgen. Du wirst es mir zurückzahlen.“

„Werde ich?“ Wie?

Der Blick, den er ihr jetzt zuwarf, glühte heißer als je zuvor. „Das wirst du schon sehen.“