12. KAPITEL

Zieh den Kopf ein.“ Zacharel legte die Flügel an und raste durch einen engen, gewundenen Tunnel. Eine knappe Stunde waren sie geflogen, bis er schließlich ihr Ziel entdeckt hatte. Annabelle hielt sich fest und barg das Gesicht in der Kuhle an seinem Hals. Ihr warmer Atem streichelte ihn durch den Stoff hindurch.

Schließlich endete der Tunnel und weitete sich zu einer riesigen kristallbesetzten Höhle. Mit einem Rauschen breitete er die Flügel aus, bremste ihren Flug und setzte Annabelle sanft am Boden ab. Sie schien etwas wacklig auf den Beinen und klammerte sich noch einen Moment lang an ihm fest. Dann ließ sie ihn los und trat ein paar Schritte zur Seite, sodass sie sich nirgends mehr berührten. Wieder erfüllte ihre fehlende Nähe ihn mit Kummer – ein Gefühl, das ihn verärgert mit den Zähnen knirschen ließ.

Den ganzen Tag lang war er wie besessen von ihr gewesen. Jede Berührung, jedes Stocken in ihrem Atem, jeder Blick in seine Richtung hatte die Anspannung in seinem Inneren nur verstärkt. Jeder ihrer Stimmungswechsel hatte ihn verwirrt. Glücklich, traurig, verspielt, mürrisch … Am liebsten hätte er sie in seine Arme gezogen und gehalten, bis sie nichts als Glück empfand. Doch das hatte er sich nicht gestattet. Jedes Mal, wenn sie lachte, hatte sein Blut heißer gebrodelt. Er wäre nicht in der Lage gewesen, sich damit zufriedenzugeben, sie nur im Arm zu halten.

Und als sie ihn mit dem Cookie gefüttert hatte? Als er ihre Finger im Mund gehabt hatte? Mit übernatürlicher Kraft hatte er dagegen ankämpfen müssen, nicht ihr und dann sich selbst die Kleider vom Leib zu reißen, um an Ort und Stelle herauszufinden, welche Freuden die Menschen einander schenkten, wenn sie nackt waren.

Eines nicht allzu fernen Tages würde er sich erlauben, von ihr zu kosten, ihre Kurven zu erforschen und diese Art der Leidenschaft zu erfahren. Doch er würde nicht nach mehr lechzen, würde nicht süchtig werden nach dieser Menschenfrau, dieser Gemahlin eines Dämons, als wäre sie eine Droge. Er würde seine Neugier befriedigen und dann zu dem Leben zurückkehren, das er kannte – und mochte. Vielleicht war das falsch von ihm, aber es war die einzige Möglichkeit, die er hatte.

Ein Kriegerengel konnte nicht mit einem Menschen zusammen sein. Der ewige Kampf zwischen Engeln und Dämonen war für so verletzliche Wesen viel zu gefährlich. Und dazu noch der Krieg, der sich zwischen den Engeln, den Griechen und den Titanen zusammenbraute! Schon jetzt spürte er die Spannung in der Luft, hörte von einer bevorstehenden Revolte flüstern. Außerdem waren ihre Lebensspannen viel zu unterschiedlich.

„Was ist das für ein Ort?“ Offenbar beunruhigt erschauderte sie, als sie ihre neue Umgebung in Augenschein nahm.

Auch ohne sich umzublicken, wusste er, was sie sah. Eine Streckbank mit Fesseln für Hand- und Fußgelenke. Ein Bett mit schwarzen Laken, damit nichts Spuren hinterließ, was darauf vergossen wurde. Eine Wand voller Instrumente, die er niemals zu benutzen wünschte.

Er hätte auch eine andere Höhle auswählen können, eine, die einem Engel wie ihm gehörte, einem Mann, der noch nie Begehren verspürt hatte. Stattdessen hatte er sich für die von Thane entschieden, wohl wissend, was er vorfinden würde, denn er war schon einmal hier gewesen. Er hatte gehofft, diese Umgebung würde genug Scham und Abscheu in ihm wecken, um ihn von dem Weg abzubringen, auf dem er sich befand.

Aber nein, er wollte Annabelle immer noch. Wollte Dinge mit ihr anstellen …

Ihr Blick wurde eisig, ließ ihn fast erstarren. Ihn, der er die Kälte kannte wie kein anderer. „Was kostet es mich, dass du bei mir bleibst? Du hast gesagt, du würdest es mir erzählen, wenn wir unseren neuen Aufenthaltsort erreicht haben. Also, hier sind wir – und ich kann nicht behaupten, ich wäre beeindruckt.“

Er log niemals, nicht wahr? „Du klingst nicht bloß ‚nicht beeindruckt‘. Du bist angewidert. Oder?“

„Ja.“ Mit einer Hand wedelte sie in Richtung des Arsenals um sie herum. „Kannst du mir daraus einen Vorwurf machen nach dem, was ich erlebt habe? Ich kann mir vorstellen, was du mit mir vorhast.“

Er runzelte die Stirn. Ihre Antwort verhieß nichts Gutes. Fürchtete sie die Instrumente – oder ihn? „Erstens: Diese Sachen würde ich niemals an dir ausprobieren. Zweitens: Ich bitte dich nur, dich mir willig hinzugeben.“

Lange starrte sie ihn bloß mit offenem Mund an. Dann betrachtete sie ihn von Kopf bis Fuß und schluckte. Sie schüttelte heftig den Kopf und das herrliche lange Haar flog ihr ums Gesicht. „Wenn du meinen Körper als Bezahlung verlangst, wird der Sex nicht einvernehmlich sein, egal wie gefügig ich dir erscheine. Ich werde mich dir nicht hingeben, du wirst dich mir aufzwingen. Genau wie Fitzpervers!“

Zorn brach sich Bahn in seinem Inneren, rauschte durch seine Adern. „Ich habe nicht das Geringste mit ihm gemeinsam.“ Wenn Zacharel in seinem Verlangen nach ihr ertrinken musste, dann würde er sie mit sich in die Tiefe zerren, koste es, was es wolle. „Begehrst du mich?“, verlangte er zu wissen.

Sie befeuchtete sich die Lippen, schluckte erneut. „Ich fühle mich von dir angezogen, ja.“

Das dämpfte die schlimmste Hitze seiner Emotionen. „Wie auch … ich mich von dir angezogen fühle.“ Anziehung. So ein schwaches Wort für die Begierde, die ununterbrochen in ihm aufloderte. „Wo liegt also das Problem?“

Einen Augenblick lang schien ihr Zorn den seinen noch zu übersteigen, leuchtete in ihrem Inneren auf wie die Sonne selbst. „Nie wieder werde ich mich zu irgendetwas zwingen lassen. Ich werde mir nicht die Hände binden lassen – ob bildlich gesprochen oder wortwörtlich.“

Da erkannte er seinen Fehler und hätte beinahe laut geflucht. Er hätte sie nicht an einen Ort wie diesen bringen dürfen, auch wenn er seinen Bedürfnissen entgegenkam, ja, er hätte das Thema nicht einmal ansprechen sollen, sondern stattdessen den natürlichen Lauf der Dinge abwarten.

Allerdings … So unerfahren, wie er in diesem Bereich war, hatte er keine Ahnung davon, was „natürlich“ wäre.

„Ich habe es dir schon einmal gesagt. Ich bin nicht wie dieser Arzt. Ich bin nicht wie andere Männer, mit denen du zu tun hattest. Warum sollte ich dich retten, nur um dich dann zu verletzen? Aber gut, wenn du mir nicht vertrauen kannst, werden wir verhandeln. Ich habe dir bereits gesagt, dass ich davon etwas verstehe.“

Das versöhnte sie ein wenig. „Also gut. Ich höre.“

„Ich werde für einen Monat bei dir bleiben …“, und noch wesentlich länger, fügte er stumm hinzu, sollte ich meine Neugier dann noch nicht befriedigt haben. Denn im Moment wollte er sie mehr als bloß einmal. Er wollte alles, was sie zu bieten hatte. Wollte alles mit ihr erfahren. Erst dann würde er sie gehen lassen. „… wenn du einen Schwur ablegst, mich zu küssen, wann immer du den Drang dazu verspürst.“ Der Rest würde schon folgen. Dessen war er sich sicher.

„Aber das Mädchen … die, die dich ohne deine Erlaubnis geküsst hat …“

„Bei dir ist die Situation eine andere. Du hast meine Erlaubnis. Du hast eine offene Einladung.“ Plötzlich klang seine Stimme tiefer, rauer, als er sie je gehört hatte. Aus jeder Silbe schrie sein Hunger.

„Weil du dich von mir angezogen fühlst“, wiederholte sie zittrig und spielte mit einer Haarsträhne.

„Ja.“

„Aber was ist, wenn ich dich nie küssen will?“

„Dann wirst du es nicht tun.“ Doch sie würde es wollen; dafür würde er sorgen.

Sie senkte den Blick, sah zu ihm auf, wieder weg und wieder hin. In ihren ausdrucksvollen Augen mischten sich Furcht und Hoffnung und etwas … glühend Heißes. „Gut. Ich erkläre mich mit deinen Bedingungen einverstanden.“

Anfangs war es ihr als so gute Idee erschienen, auf seinen Handel einzugehen. Doch jetzt, ein paar Stunden später, war Annabelle erfüllt von nervöser Energie. Würde sie den Mut haben, ihren Teil der Abmachung einzuhalten?

Sie hatte an nichts anderes mehr denken können.

„Du siehst aus, als wäre dir zu warm.“ Zacharel stand in der Küche und machte ihr ein Sandwich.

„Stimmt.“ Das Gewand, das sich während des Einkaufsbummels in Form von Shirt und Hose an ihren Körper geschmiegt hatte, war kurz vor ihrem Abflug in seine ursprüngliche Form zurückgekehrt. Es bedeckte sie vom Hals bis zu den Zehen. „Ich könnte eine Dusche gebrauchen. Allein.“

„Diese Gewänder reinigen den Träger von innen heraus. In diesem Augenblick bist du sauberer, als du es je warst.“

„Oh. Das ist ja … cool.“ Und diese Antwort so was von lahm. Sie musste sich zusammenreißen. „Ich meine, diese Funktion ist mir schon aufgefallen, als du verwundet warst.“ Ich war bloß zu blöd, zwei und zwei zusammenzuzählen.

„Vielleicht solltest du etwas von deinen neuen Sachen anziehen.“

„Ich glaube, das mache ich.“ Nur nicht so, wie er sich das wahrscheinlich vorstellte.

Die Einkaufstaschen hatte Zacharel am Eingang abgestellt. Nach ein bisschen Wühlen fand sie alles, was sie suchte. Dann zog sie sich auf dieselbe Weise an, wie sie sich vorher der Ledermontur entledigt hatte – unter dem Schutz des Gewands.

„Unfair“, meinte sie Zacharel murren zu hören.

Erst als sie ihre neue Unterwäsche, ein T-Shirt, Jeans und Stiefel anhatte – und erfolgreich Löcher in die Taschen geschnitten, um Zugriff auf die Messer zu haben, die sie an die Oberschenkel geschnallt trug –, zog sie sich schließlich die Robe aus.

Zacharel ließ seinen brennenden Blick von oben bis unten über ihren Körper wandern – und dann noch mal von unten bis oben. „Das findet meine Zustimmung. Und jetzt wirst du essen.“ Er stellte den Teller auf einen kleinen Holztisch, setzte sich und bedeutete ihr, sich zu ihm zu gesellen.

„Und wir reden“, fügte sie hinzu.

„Natürlich.“

Eigentlich hatte sie weiter verhandeln wollen, doch er begann augenblicklich, sie auszuquetschen – und sie versuchte dasselbe mit ihm. Warum eine Höhle? Warum die Sexspielzeuge? Die Antwort auf die erste Frage: Darum. Die Antwort auf die zweite: Darum.

So informativ, ihr Engel.

Unbehaglich rückte sie hin und her. Weder ihr noch sein Stuhl hatte eine Rückenlehne, doch während sie ständig das Gefühl hatte, hintenüberzukippen, fühlte er sich sichtlich wohl, weil er ungehindert die Flügel bewegen konnte.

„Der Dämon, der deine Eltern getötet hat“, setzte er an und bedeutete ihr mit einer Geste, mehr von diesem unfassbar köstlichen Sandwich zu essen. Weich, saftig und erfüllt von einer Flut süßer und würziger Aromen. „Wie hat er ausgesehen?“

„Was, wenn ich jetzt einfach ‚hässlich‘ sage und es dabei belasse?“

„Dann hake ich nach.“

„Hab ich mir gedacht.“ Langsam kaute und schluckte sie, während sie versuchte, sich nicht dieses Untier vor Augen zu rufen, das all die Jahre ihre Träume heimgesucht hatte. Mit einem unmerklichen Beben in der Stimme beschrieb sie die roten Augen, das menschenähnliche Gesicht und die Vampirzähne. Die glatte tiefrote Haut, die Hörner, die aus seinem Rückgrat hervortraten. Den Schwanz mit dem hässlichen metallenen Stachel.

Die ganze Zeit über blickte Zacharel finster drein. Das musste tatsächlich sein Standard-Gesichtsausdruck sein.

„Deine Beschreibung passt auf eine Menge Dämonen, aber das war definitiv nicht derjenige, der bestimmt hat, wer wann in die Anstalt eindringen durfte oder nicht. Trotzdem werden wir Bürde aufspüren und mit ihm reden.“

Bürde. Was für ein schrecklicher Name. „Und er wird dir ehrlich antworten?“

„Mit ein wenig Überzeugungsarbeit – möglicherweise. Manchmal lässt sich die Wahrheit aber auch entdecken, wenn man die Lüge auseinandernimmt.“

„Solange du dir da sicher bist. Und nur um das festzuhalten: Ich kann mit Gefahr umgehen, also denk nicht mal dran, mich hier zurückzulassen.“

Er verengte die Augen, doch das konnte nicht die erschreckenden grünen Flammen verbergen, die in seinem Blick aufloderten.

„Es würde mir keinerlei Schwierigkeiten bereiten, dich hier zurückzulassen, Annabelle, und du könntest nichts dagegen tun.“

„Ich könnte dich dafür hassen“, fauchte sie zornbebend. „Na ja, vielleicht nicht hassen, da ich ja jetzt niemanden mehr hasse, aber ich könnte echt wütend auf dich sein.“

„Und du denkst, das würde mir etwas ausmachen?“ Er stellte die Frage so ruhig, als spielte die Antwort für ihn nicht die geringste Rolle.

Doch das tat sie, das konnte er nicht leugnen. Nicht mehr. Er wollte ihren Körper, er hatte versucht, ihn als Bezahlung einzufordern – und sich dann mit Küssen zufriedengegeben.

Es gibt keinen Grund für mich, wegen dieses Handels nervös zu sein, begriff sie erstaunt. Ehrfürchtig. Glücklich. Er wollte sie so verzweifelt, dass er alles nehmen würde, was er kriegen konnte. Selbst Almosen.

„Kleiner Tipp, geflügeltes Wunder. Bedrohe niemals die Frau, die du verführen willst.“ Jetzt hatte sie die Situation unter Kontrolle.

Federleicht strich er mit einem Finger über ihr Schlüsselbein. „Wenn ich damit dein Leben retten kann, werde ich mehr tun, als dir nur zu drohen. Ich werde meine Drohung wahr machen. Besser, du begreifst es jetzt, als dass du nachher aufbegehrst.“

Diese Berührung, so sanft sie auch gewesen war, dazu noch gedämpft durch den Stoff ihres T-Shirts, elektrisierte sie. Und schon lag die Kontrolle wieder bei Zacharel. „Ich will einen Mann als ebenbürtig sehen, nicht als Boss.“

Unwillig zeigte er ihr die Zähne und ließ den Arm schwer sinken. „Wir werden niemals ebenbürtig sein. Ich werde immer stärker und schneller sein.“

Und besser?

Tja, wo er recht hat… Ihre Selbstsicherheit versiegte kläglich. Wie ein Stein lag ihr das eben noch so köstliche Sandwich im Magen. „Mir ist nicht ganz klar, warum du mich überhaupt küssen willst. Nach deiner Beschreibung bin ich ja ein echter Hauptgewinn. Vielleicht sollten wir unseren Deal einfach vergessen.“

Hart ließ er die Faust auf die Tischplatte krachen. „Der Deal steht.“

Erschrocken über seinen untypischen Ausbruch, starrte sie ihn mit großen Augen an. Auch ihn musste sein Verhalten überrascht haben, denn sobald er realisierte, wie aggressiv er gewirkt hatte, leckte er sich die Lippen und fügte hinzu: „Andernfalls wäre es mir erlaubt, dich jederzeit zu verlassen, nicht wahr? Und das würdest du nicht wollen, Annabelle, oder?“

Nein, denn dann könnte er ins Himmelreich zurückkehren. Und das war der einzige Grund, aus dem sie kapitulierte. Wirklich. „Meinetwegen. Der Deal steht. Aber je mehr du redest, desto weniger mag ich dich. Das ist dir klar, oder?“

„Es wird mir ein Vergnügen sein, das in Ordnung zu bringen. Erstens ist es nicht deine Stärke oder Schnelligkeit, die mich anzieht. Es ist … alles an dir. Dein Lachen, deine Schlagfertigkeit, deine Gefühle und wie wandelbar sie sind. Dein Mut, deine Lieblichkeit und deine fast besessene Begeisterung, wenn es um Cookies geht. Und zweitens bis du wahrhaftig ein Hauptgewinn. Du hast in mir einen Wunsch geweckt, den ich bei niemandem sonst je verspürt habe. Den Wunsch nach einer Vereinigung unserer Leiber.“

Nie wieder würde sie diesem Mann an den Kopf werfen, er wüsste nicht, wie man eine Frau verführte. Seine Worte berührten sie unentrinnbar und tief in ihrem Innersten. Eine Vereinigung ihrer Leiber. Seines. Ihres. Als Einheit. Schon beim Gedanken daran bekam sie eine Gänsehaut. Und ihre Nervosität war fort. Vollkommen. In dieser Minute hatte er ihr in Erinnerung gerufen, dass jener Akt etwas Besonderes sein sollte, nichts Beschämendes. Ein Akt zwischen zwei Personen, die füreinander geschaffen waren.

Füreinander geschaffen? Du und Zacharel?

Er legte die Hände flach auf den Tisch und beugte sich vor. „Drittens. Der blonde Engel, Thane – der, von dem du behauptet hast, er wäre dir lieber als ich. Dies ist seine Höhle, und dort siehst du seine Instrumente.“ Mit dem Kinn wies er auf die Streckbank, die sie so unangenehm an ihr Bett in der Anstalt erinnerte. „Sei dir gewiss, dass er sie an dir verwenden wird, wenn du dich ihm zuwendest. Du wirst dich ihm nicht zuwenden“, fügte er fast sofort hinzu.

Okay, das hatte definitiv nach Eifersucht geklungen. Und dieser Wandel in ihm, von distanziert und bedrohlich zu besitzergreifend und begierig, war genauso verblüffend wie sein Fausthieb auf den Tisch. Sie wusste kaum noch, wo oben und unten war, und gleichzeitig fühlte sie sich erfüllt von einer geheimnisvollen Macht.

„Du hast recht“, fuhr er fort, bevor sie etwas erwidern konnte. „Reden bringt uns nicht weiter. Iss.“

Verflucht noch mal. Jedes Mal, wenn sie glaubte, sie würde langsam die Oberhand gewinnen, musste er es wieder ruinieren. „Ja, Daddy“, grummelte sie und steckte sich noch ein Stück Brot in den Mund.

Dafür erntete sie einen finster flammenden Blick.

Während sie den Rest aufaß, beobachtete sie Zacharel so unauffällig wie möglich. Seine Stimmung mochte sich verändert haben, doch er hätte geradewegs aus einem Gemälde stammen können, so umwerfend war sein Gesicht. Würde sie sich jemals an seine Schönheit gewöhnen?

Schließlich würde sein Haar auf ewig schwarz bleiben, seine Haut faltenlos. Er würde sich niemals verändern. Für immer würde er so aussehen wie jetzt – während sie alterte. Puh. Sie würde altern, oder nicht?

Das Einzige, was sich an ihm veränderte, waren seine Flügel. Mittlerweile waren sie größtenteils golden mit nur winzigen weißen Flecken, die sich durch die Federn zogen. Wenn er recht hatte und sein Aufstieg in die Elite bevorstand, was auch immer das bedeutete, ging dieser Aufstieg ziemlich schnell voran.

„Nur damit du’s weißt“, erklärte sie schließlich, als sie bemerkte, dass das Schweigen genauso angespannt geworden war wie das Gespräch. „Ich begehre Thane nicht.“

Befriedigt nickte er.

„Also, wie lange bleiben wir hier?“

„Nicht länger als vier Tage. Ich muss wissen, ob die Dämonen dich auch aufspüren können, wenn du unter der Erdoberfläche bist. Die Antwort wird unseren weiteren Kurs mitbestimmen.“

Reichlich Zeit für ihn, ihr ein paar Dinge über das Kämpfen mit Dämonen beizubringen. Natürlich würde dieser Unterricht körperlichen Kontakt mit sich bringen, und Körperkontakt würde ihre Hormone wahrscheinlich völlig durchdrehen lassen. Sie würde ihn küssen wollen, was ihrer Abmachung zufolge – die er sie nicht hatte auflösen lassen – bedeutete, dass sie ihn küssen müsste.

Würde sie den Mut dazu finden?

Dass diese blöde Frage sie nicht in Ruhe ließ.

Was, wenn sie die totale Null war? Wenn er ihretwegen auf Lebenszeit genug hätte vom Küssen? Was, wenn sie durchdrehte? Aber auch: Was, wenn es ihr gefiel? Wenn sie mehr wollte? Wenn er sich weigerte, ihr mehr zu geben? Was, wenn er sie zurückwies wie diesen anderen Engel? Die wunderschöne Frau mit den schwarzen Ringellocken? Trotz der Tatsache, dass er behauptete, er begehre sie.

Oder aber – was, wenn er mehr wollte als einen Kuss, und Annabelle weigerte sich, ihm mehr zu geben? Würde er dann beschließen, dass sie den Aufwand nicht wert war, und sie irgendwo aussetzen?

Nein, dachte sie dann. So ein Widerling war er nicht. Er mochte kalt und hartherzig sein, aber ein Lügner war er nicht. Er hatte sich bereit erklärt, einen Monat lang bei ihr zu bleiben, und das würde er tun. Was immer auch kommen mochte. Aber würde er dieses Versprechen bereuen? Oder froh darüber sein?

Es gibt nur einen Weg, die Antworten auf all diese Fragen herauszufinden …

Zusatzbonus: Sie hätte das erste Mal hinter sich, und die Nervosität würde sich endlich legen.

Das gab den Ausschlag.

„Zacharel“, brachte sie atemlos hervor.

Sein Blick schien bis auf den Grund ihrer Seele zu dringen. „Woran denkst du gerade, Annabelle?“ Heiser ertönte die Frage, ein Streicheln für all ihre Sinne.

In diesem Moment konnte sie genauso wenig lügen wie er. Ihre weichen Lippen waren der Beweis. „Daran, dich zu küssen.“

Augenblicklich fiel sein Blick auf ihre Lippen; seine Pupillen weiteten sich, verdrängten seine Iris vollkommen. „Warum?“

Weil du mich für einen Hauptgewinn hältst. Weil ich mich unter deinem Blick auf seltsame Weise wie angebetet fühle statt besudelt. „Ich denke, meine Antwort wird dir bekannt vorkommen: darum.“

Langsam verzog er die Lippen zu einem Lächeln. „Also, worauf wartest du? Du weißt, was du zu tun hast.“