15. KAPITEL

Bedächtig wog Zacharel seine Möglichkeiten ab. Die Dämonen hatten Annabelle in der Wolke gefunden. Auch in der Höhle hatten sie sie aufgespürt. Offensichtlich lag die Lösung weder darin, sie im Himmel zu behalten, noch darin, sie unterirdisch zu verstecken. Damit blieb … was?

Sie bewusstlos zu machen? Im Schlaf hatte sie niemand angegriffen. Oder … Moment. „Wie lange warst du in der Anstalt, bevor dort zum ersten Mal Dämonen aufgetaucht sind?“

„Einen Monat oder so.“

Einen Monat. Die Menschen um sie herum mussten ihren Geruch und ihre Anziehungskraft verwischt haben. Menschen also. Sie waren keine Bedrohung, sondern der Schlüssel.

Mit diesem Gedanken im Kopf steuerte er ein gut besuchtes Hotel für Menschen an der Küste von Neuseeland an. Ein Zimmer zu finden war nicht schwer. Er bewegte sich einfach körperlos mit ihr durch das Gebäude, bis er entdeckte, wonach er suchte: ein freies Zimmer, dessen Nachbarräume sowie die darüber und darunter von Menschen belegt waren.

„Geh unter die Dusche, wärm dich auf“, riet er ihr und zog dann los, um Essen und Kleider aufzutreiben. Seine sinkende Körpertemperatur hatte ihr mehr zu schaffen gemacht als das provisorische Bad.

In der Küche des Hotels organisierte er für Annabelle Hühnchen mit Reis, für sich etwas Obst. Dann schnappte er sich eine saubere Uniform von einem Stapel in einer Abstellkammer und ließ mehr als genug Geld zurück, um die Kosten für das Essen, die Uniform und das Zimmer zu decken.

Stumm legte er die Uniform ins Badezimmer, während er sich darüber ärgerte, wie rau der Stoff sich an seiner Haut anfühlte. Er würde sie kratzen, und der Gedanke gefiel Zacharel nicht. Er wünschte, er hätte noch eine weitere Robe dabei, doch die letzte hatte er mit ihren Einkäufen in der Höhle zurückgelassen. Er hätte woandershin fliegen können, um etwas Besseres für sie zu besorgen, doch er brachte es nicht über sich, das Hotel zu verlassen.

Als sie in einer dichten Dampfwolke aus dem Badezimmer trat, sah er, dass die Kleider ihr zu kurz waren. Ihr schien es jedoch nichts auszumachen, und wenn er ehrlich war, sah sie bezaubernd aus.

Ohne ein Wort legte sie ein Messer unter eines der Kissen auf dem Bett und eins auf den Nachttisch.

„Hast du Hunger?“, fragte er.

„Ich sterbe vor Hunger.“

Schweigend aßen sie, während ihr reiner, seifiger Duft ihn unter Strom setzte. Ihr Haar war nass und zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgenommen. Die Strähnen glänzten wie blauschwarze Seide. Mit dieser Frisur lenkte nichts von ihrem Gesicht ab, nichts verbarg die schrägstehenden kristallenen Augen, die scharf geschnittenen Wangenknochen mit dem rosa Schimmer oder den herzförmigen Mund. Bezaubernd war nicht das richtige Wort. Sie war die Schönheit in Person.

Wie würde sie wohl aussehen, wenn sie ausgestreckt auf dem Bett läge? Das Haar ein samtener Wasserfall, die Augen mit Schlafzimmerblick, die Wangen gerötet vor Leidenschaft und die Lippen leicht geöffnet, während sie seinen Geruch einatmete?

„Danke für das Essen“, durchbrach Annabelle schließlich die Stille. In ihrer Stimme lagen Spuren von Erschöpfung, Euphorie und … noch etwas. Etwas, das er nicht identifizieren konnte.

„Gern geschehen.“

Ihr Blick traf seinen. Ihre Augen wirkten ein wenig glasig. „Also, was kommt jetzt?“

„Jetzt entspannst du dich. Es ist schon zu lange her, dass du dich ausruhen konntest.“

„Aber ich hab in Koldos Höhle ein bisschen geschlafen, genau wie auf dem Flug hierher. Wirklich, ich bin nicht müde.“ Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, musste sie ein Gähnen mit der Hand verdecken. „Okay, vielleicht bin ich müde. Aber in meinem Kopf ist einfach zu viel los, als dass ich jetzt schlafen könnte.“

Verständlich. Oder … bei näherer Betrachtung entdeckte er die Schatten, die sich unter ihren Augen bildeten. So viel würde es vermutlich nicht brauchen, um ihren Kopf zur Ruhe zu bringen, aber vielleicht wollte sie das gar nicht. Nach einem solchen Tag würden sie mit Sicherheit Albträume plagen. Er fragte sich, ob er darin die Hauptrolle spielen würde. „Was machst du normalerweise, um dich zu entspannen?“

„Ich wünschte, das wüsste ich. In der Anstalt haben sie mir einfach Medikamente gegeben.“

Und sie gezwungen, alles zu tun, was den Ärzten so in den Kopf gekommen war. Mit diesem Wissen kam er immer weniger zurecht. „Leg dich ins Bett und such dir etwas im Fernsehen. Lenk dich ab.“ Das hatte er über die letzten Jahrzehnte bei vielen Menschen gesehen.

„Jawoll, Sir.“ Sie krabbelte aufs Bett, wobei sie ihn aus dem Augenwinkel immer im Blick behielt, und schaltete den Fernseher ein. Stirnrunzelnd schaltete sie durch die Kanäle. Schließlich gab sie es auf, drückte den Ausknopf und warf die Fernbedienung beiseite. „Was hast du vor? Denn ich nehme mal an, du hast etwas zu tun, sonst würdest du nicht darauf drängen, dass ich mich ablenke.“

Er musste wachsam bleiben, sie beschützen … nachdenken. „Ich werde Befehle für meine Armee zusammenstellen.“ Ja, auch das.

„Brauchst du gar keinen Schlaf?“ Sie kuschelte sich in die Decken, schüttelte die Kissen auf und blickte zu ihm herüber. Das Misstrauen schien aus ihr zu weichen. Hatte sie erwartet, er würde sich auf sie stürzen?

„Etwas“, antwortete er, „aber nicht viel.“

„Glückspilz. Ich hasse es, dass ich schlafen muss.“

Weil sie dann verwundbar war. „Ich habe dir gesagt, dass du bei mir nichts zu befürchten hast. Du weißt, dass ich nicht lüge.“

Ein kurzes Schweigen. Dann seufzte sie. „Ich weiß.“

„Tust du das?“, zweifelte er und musterte sie suchend. Jetzt hatte er einen ersten Eindruck, wie sie im Bett aussehen würde, unter ihm – und es war beinahe mehr, als er ertragen konnte.

Steif ging er zum Schreibtisch, verdrängte ihren Anblick am Rand seines Sichtfelds. Der Stuhl erwies sich als Fehler, unangenehm quetschte der hohe Rücken seine Flügel ein … aus denen es nicht mehr schneite, bemerkte er. Warum?

„Ich weiß es“, erwiderte sie schließlich. „Wirklich.“

Aus dem Augenwinkel konnte er sie immer noch sehen. Warm, weich, einladend. „Gut.“ Schon erhob er sich wieder und trat zum einzigen Fenster des Zimmers, blickte durch einen Spalt in den Vorhängen nach draußen.

Im Sonnenuntergang erstrahlte der Horizont in rosa, lila und blauem Licht. Darunter sah er hoch aufragende Bäume, üppiges grünes Gras und unzählige Blumen in allen Farben und Formen. Er war schon einmal hier gewesen, hatte eigentlich vorbeifliegen wollen. Doch dann war er geblieben, um zuzusehen bei der Hochzeit, die in der Parkanlage stattgefunden hatte.

Zwei Menschen, die schworen, einander für den Rest ihres Lebens zu lieben, in Krankheit und Gesundheit. Hatte Annabelle je davon geträumt, das zu tun? Vielleicht mit ihrem Freund aus der Highschool? Zacharel presste die Zunge an den Gaumen.

„Hm … du führst also eine ganze Armee von Engeln an“, murmelte Annabelle und gähnte wieder.

„Ja. Es gibt drei Gruppen unter den Engeln unserer Gottheit. Die Elite der Sieben, die erschaffen wurden statt geboren, die Krieger und die Glücksboten.“

„Du bist ein Krieger.“

„Ja, aber wie ich dir erzählt habe, glaube ich, ich bin dabei, in die Elite aufzusteigen.“ Er fragte sich, ob die Verwandlung aufhören würde, wenn seine Taten bei seiner Gottheit nicht weiter Anklang fanden.

Ja. Ja, vermutlich würde sie das. Wahrscheinlich würde man ihm den Titel des Elitekriegers erst nach Ablauf seines Dienstjahres verleihen – wenn er so lange überlebte.

Verwundert runzelte sie die Stirn. „Aber wie kann das sein, wenn du doch geboren wurdest?“

„Vor Kurzem wurde einer der Sieben getötet. Jemand muss seinen Platz einnehmen, ob nun erschaffen oder geboren.“ Einst hatte er sich für eine weise Wahl gehalten. Doch mittlerweile … Nicht mehr so sehr.

„Und ihr Jungs macht dann genau was?“, wollte Annabelle wissen. „Versammelt euch und zieht in die Schlacht, macht Dämonen kalt?“

„Im Grunde ja. Ich erhalte meine Befehle von der Gottheit, rufe meine Armee zusammen und die Soldaten kommen zu meiner Wolke. Ich gebe die Befehle an sie weiter und wir fliegen los.“

„Aber ihr seid nicht die einzige Armee, die das macht, oder?“

„Richtig. Viele Armeen von Engeln stehen unter dem Befehl unserer Gottheit. Die meisten bewachen und patrouillieren in einer bestimmten Stadt und werden zweimal im Monat in einen Kampf geschickt. Meine hat keinen bestimmten Stützpunkt, sondern reist durch die ganze Welt. Wir helfen Menschen, kämpfen gegen Dämonenhorden und tun alles, was man uns sonst noch aufträgt.“

Er war sich nicht sicher, was er tun würde, wenn er und seine Krieger zur nächsten Schlacht gerufen würden. Der Gedanke, Annabelle allein zurückzulassen, hinterließ eine unangenehme Leere in ihm. Nicht dass sie hilflos wäre. Ihre erbitterte Art zu kämpfen hatte ihn erstaunt – und beeindruckt.

„Dazwischen“, fügte er hinzu, „sollen wir uns erholen, falls nötig, trainieren, einzelne Dämonen jagen oder, wenn es notwendig ist, anderen Armeen aushelfen, die um Verstärkung bitten.“

„Warum haben du und deine Männer mehr Aufgaben als die anderen? Weil ihr stärker seid und eher die Chance auf den Sieg habt?“

Oder weil sie weniger zu verlieren hatten. „Das müsstest du meine Gottheit fragen. Die Antwort darauf hat sie mir noch nicht enthüllt.“

Sie zog sich das Zopfgummi aus dem Haar und kämmte die Strähnen mit den Fingern durch. Eigentlich hätte er das gar nicht bemerken dürfen, doch er hatte sich ihr zugewandt, suchte unbewusst ihre Nähe. „Vielleicht mache ich das“, meinte sie. „Wie findet ihr denn diese Dämonen, die ihr einzeln aufspüren müsst?“

„Wir können der Spur ihrer Bösartigkeit folgen, aber in den meisten Fällen, wie auch bei dir, sagt uns unsere Gottheit, wohin wir gehen sollen.“

„Warum hat sie nicht schon früher eine Armee zu meiner Anstalt geschickt?“

„Das hat sie. Viele Male. Aber schon bald nachdem die Dämonen vernichtet waren, sind jedes Mal neue aufgetaucht.“

„Wow. Die ganze Zeit über hatte ich Hilfe und nicht den geringsten Schimmer davon. Ich war immer der Meinung, ich wäre auf mich gestellt, dass ich auf niemand sonst zählen könnte.“

„Der Höchste, und damit auch meine Gottheit, ist immer bestrebt, euch Menschen zu helfen.“

„Es ist schön, das zu wissen. Tröstlich. Aber weißt du, dass du trotz all dieser anderen der erste Engel bist, der zu mir gekommen ist?“

Und niemals würde er für etwas mehr Dankbarkeit empfinden. Er hoffte, dass es ihr ebenso ging.

Die Decken raschelten, als sie sich auf die Seite drehte, und süßer Himmel – er hätte alles gegeben, um jetzt neben ihr zu liegen. „In meiner Gegenwart ist mittlerweile mehrfach das Wort ‚Gemahlin‘ gefallen, aber niemand hat mir je gesagt, was das genau sein soll. Da du gerade so zuvorkommend und informativ bist und mir außerdem ganz schön was schuldest, erklärst du’s mir? Bitte.“

Jetzt wandte er sich ihr ganz zu. Die Hände hatte sie unter ihre Wange geschoben und das Haar fiel ihr über den Arm. Sein Verlangen wuchs.

Nein, das konnte er nicht ertragen.

Du wirst dich wie ein Gentleman verhalten. „Wie ich sehe, bist du dir nicht zu schade für Manipulation.“

„Kein Stück.“

Mühsam unterdrückte er ein Lächeln, bevor es sich auf seine Lippen stehlen konnte.

„Als Frau muss man jede Waffe nutzen, die einem zur Verfügung steht.“

Und er würde ihren Gebrauch dieser Waffen genießen. „Es ist das Gleiche, als würdest du einen Ring tragen, weil du einen anderen Menschen geheiratet hast. Es bedeutet, dass du zu deinem Partner gehörst … dass du seinen Namen trägst.“

Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Zum ersten Mal verdunkelten sich diese eisigen Augen, als dort Wut in einem farbigen Funkenregen erschien. „Ich gehöre zu niemandem!“

„Niemals?“

„Niemals.“

Seine Belustigung war wie weggewischt, und er knackte mit dem Kiefergelenk. „Über eins musst du dir im Klaren sein, Annabelle. Für die Dauer unserer … Vereinbarung gehörst du sehr wohl zu jemandem – nämlich zu mir. Du wirst mit keinem anderen Mann schlafen. Ich werde nicht teilen.“ Er wartete, doch sie antwortete nicht. „Jetzt will ich aus deinem Munde Zustimmung vernehmen.“

Sie lehnte sich zurück und stützte sich auf den Ellenbogen ab, um ihn besser betrachten zu können. „Dazu bin ich noch viel zu sprachlos.“

Wenn sie sich freiwillig einem anderen Mann hingäbe … Nein. Sie war für ihn bestimmt, und nur für ihn. Ende der Diskussion.

„Ich werde einfach mal so tun, als wärst du kein Höhlenmensch“, grummelte Annabelle, „und ich verspreche dir, dass ich mit keinem anderen Mann schlafen werde … aber du auch nicht mit einer anderen Frau.“

Dass sie nach allem, was vorgefallen war, Treue von ihm verlangte, versetzte Zacharel in Entzücken. „Versprochen. Und das ist einer der Gründe, warum wir ihn finden und vernichten müssen, diesen Hohen Herrn, der dich für sich beanspruchen will.“ Er wird nicht bekommen, was mir gehört.

„Weißt du, wo er ist?“

„Nein, aber das werde ich, sobald ich herausgefunden habe, wer er ist.“

„Das wirst du. Werden wir.“

Ihm gefiel ihr Glaube an ihn. „Ich frage mich, warum er dich verlassen hat, nachdem er dich gezeichnet hat.“ Zacharel hätte das niemals getan. Er konnte sich nicht vorstellen, warum jemand so etwas je tun sollte. „Kannst du dich noch an irgendetwas sonst von ihm erinnern? Etwas, das du mir noch nicht erzählt hast?“

Die Lider zusammengepresst, als wollte sie die Bilder in ihrem Kopf ausblenden, ließ sie sich in die Kissen fallen. „Ich hab dir schon alles gesagt. Er kam, siegte und verschwand.“

„Er hat nicht versucht, dich mitzunehmen?“

„Nein.“

„Erstaunlich.“ Unwillkürlich strich Zacharels Blick über ihren Körper, versuchte durch die Decken die üppigen Kurven zu erahnen, die darunter verborgen waren. Denk an etwas anderes. Sie ist müde, steht unter Stress, und es ist zu früh.

Entschlossen erhob er sich und marschierte ins Badezimmer. Dort ließ er ein heißes Bad ein, in das er den vom Hotel bereitgestellten Badezusatz gab. Schon bald stieg nach Wildblumen duftender Dampf vom Wasser auf. Auch wenn sie schon geduscht hatte – Menschen mochten es doch, zu baden, oder? Nicht bloß, um sich zu säubern. Schließlich legte er noch ein Handtuch neben die Badewanne und nickte zufrieden.

Im Zimmer vermied er es sorgfältig, Annabelle zu genau zu betrachten. Sonst würde er sie nur von seinem inneren Auge ausziehen, sich vorstellen, wie sie sich im Badewasser rekelte, und über sie herfallen. Ihre Ängste wahr werden lassen.

„Ich habe dir ein Bad eingelassen.“

Wieder raschelten die Decken. „Für mich?“

„Natürlich. Ich verspüre nicht den Wunsch, nach Wildblumen zu riechen.“

„Wahrscheinlich pellt meine Haut sich nach all dem Wasser komplett ab, aber ein Bad … Das ist einfach unwiderstehlich, wenn man bedenkt, dass ich seit vier Jahren nicht mehr baden konnte!“ Schon war sie auf den Beinen und an ihm vorbeigeflitzt. Hinter ihr schloss sich die Tür, und er hörte, wie sie den Schlüssel umdrehte. Er blieb, wo er war, litt süßeste Folterqualen, als er die Geräusche fallender Kleider, klirrender Waffen und spritzenden Wassers hörte. Sie stöhnte vor Genuss.

Vorher mochte er sie gewollt haben – jetzt wollte er sie wirklich. Er wollte sie nackt und nass und anschmiegsam und begierig. Wie lange würde es dauern, bis ihr Begehren wieder erwachte? Bis ihr Vertrauen zurückkehrte? Na gut, auf einer gewissen Ebene vertraute sie ihm wieder, sonst wäre sie nicht hier bei ihm. Doch bei Sex, begriff er langsam, ging es um mehr.

Als sie schließlich wieder aus dem Bad kam, duftete sie noch köstlicher als zuvor und trug wieder die Uniform.

„Vielen, vielen Dank“, seufzte sie und warf sich aufs Bett. Dann drehte sie sich um, um ihn anzusehen. Ihre Haut war rosig, leuchtend, gesund. Das übernatürliche Blau ihrer Augen glänzte wie schmelzendes Eis in der Sommersonne, und der Duft einer Wiese am frühen Morgen, der sie umgab, verstärkte diesen Eindruck noch. „Mir war nicht klar, wie nötig ich das hatte.“

Unter seiner Begierde breitete sich Befriedigung aus, dass er sie in diesen Zustand gebracht hatte: entspannt, erfrischt und begeistert.

„Hast du die ganze Zeit da gestanden?“, fragte sie.

Steif nickte er.

„Aber ich war über eine Stunde da drin.“

Das wusste er. Er hatte die Sekunden gezählt. Eine Stunde hatte dreitausendsechshundert Sekunden. Dreitausendsiebenhundert- und vier Sekunden lang war sie im Bad gewesen.

Sie zögerte und nahm ihre Unterlippe zwischen die Zähne, wie er es schon oft bei ihr gesehen hatte. Eine Geste, die ihre Unsicherheit verriet. Er konnte nicht anders als hinstarren. Sehnlichst wünschte er, er könnte seine Lippen darauflegen, um den Schmerz zu lindern, den sie sich vermutlich zufügte.

„Denkst du daran, mich zu küssen?“

„Ja“, gestand er mit rauer Stimme.

Sie schluckte. „Ich kann kaum glauben, dass ich es überhaupt in Erwägung ziehe, nachdem ich mir – und dir! – geschworen habe, das würde nie passieren. Aber Himmel noch eins, du bist so süß, irgendwie kann ich nicht anders.“

Plötzlich stand jeder Muskel in seinem Leib unter Spannung. „Du meinst …?“

„Ja, ich meine. Aber vorher hab ich noch eine Frage für dich.“

„Frag.“ Er würde alles tun.

„Darf ich dich … na ja, fesseln?“

Bei diesen Worten begann sein sowieso schon erhitztes Blut zu kochen. „Wenn du es wünschst. Aber du solltest wissen, dass es keine Ketten gibt, die mich halten können. Ich wäre nur zu deiner Beruhigung gefesselt.“

„Also ich find’s nicht unbedingt beruhigend, zu erfahren, dass du dich ohne Weiteres befreien könntest!“ Einen Augenblick später ließ sie sich in die Kissen zurückfallen. „Ich würde es sowieso nicht fertigbringen.“

Mit größter Mühe schluckte er einen verzweifelten Aufschrei hinunter. „Mich zu küssen?“

„Nein, dich zu fesseln.“

Seiner Gottheit sei Dank. „Weil du selbst es gehasst hast, in Fesseln zu liegen.“ Eine Feststellung, keine Frage. Langsam lernte er sie kennen.

„Genau.“ Schweigen, dann ein leises Seufzen. „Na gut. Wir können das mit dem Küssen noch mal probieren. Aber ich hab das Sagen“, fügte sie hastig hinzu. „Du musst tun, was ich dir sage, sobald ich es dir sage.“

Ein Hochgefühl drängte sich durch den stetig wachsenden Riss in seiner Brust, dicht gefolgt von Entschlossenheit. Diesmal würde er es richtig machen. Er musste es richtig machen. Eine weitere Chance würde sie ihm nicht geben. „Ich werde dich nicht enttäuschen.“

Durch ihren Leib lief ein Beben.

Ein Beben der Furcht? Obwohl jede Faser seines Körpers danach schrie, die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken, stemmte er die Füße in den Boden und blieb stehen. Gab ihr Zeit, sich vorzubereiten auf das, was gleich geschehen würde. „Was hat deine Meinung geändert?“

Ihre Wimpern senkten sich und sie flüsterte: „Das Bad. Ich lag in der Wanne, lang ausgestreckt, und hab die Wärme des Wassers genossen, aber alles, woran ich denken konnte, war, dass ich allein war. Ich hab mich gefragt, wie es wäre, wenn du mit mir in der Wanne wärst, mir die Haare waschen würdest und die Schultern massieren. Mich im Arm halten.“

Sie im Arm halten. In dem Geständnis lag so viel Sehnsucht, dass er sich nicht länger zurückhalten konnte.

Zacharel näherte sich dem Bett. Sie betrachtete ihn mit unergründlichem Blick, leckte sich die Lippen, bebte erneut. Verschränkte die Hände über dem Bauch, legte sie auf den Rücken, dann wieder auf den Bauch, als könnte sie sich nicht entscheiden, was nun richtig war. Als er ein Knie auf die Matratze setzte und sich vorbeugte, wurde ihr Atem schneller. Langsam, vorsichtig. Auf allen vieren kroch er zu ihr. Ganz sanft umfasste er ihre Taille und drehte sich mit ihr herum. Als er sie auf sich zog, breitete er die Flügel aus. Überrascht holte sie Luft, zuckte jedoch nicht zurück. Aber sie ließ sich auch nicht auf seine Brust sinken, sondern blieb aufrecht sitzen.

Reglos lag er da, wartete, hoffte, sie würde sich entspannen. Flatternd senkten sich ihre Wimpern, warfen lange spitze Schatten über ihre Wangen. Doch anstatt sich zu entspannen, versteifte sie sich mit jeder Sekunde mehr.

„Annabelle.“

„Ja.“

„Sieh mich an“, bat er.

Fest presste sie die Lider zusammen. „Nein.“

„Annabelle. Bitte.“

Jetzt sagst du bitte?“

„Annabelle.“

„Meine Augen“, flüsterte sie. „Du verabscheust das Mal darin.“

Für eine solche Aussage gehörte er in die Tiefen der Hölle verbannt. „Sie sind bezaubernd.“

„Aber du hast gesagt …“

„Das war ein Fehler. So schwer es ist, sich das vorzustellen, aber auch ich mache Fehler.“

„Also gut.“ Kurz hielt sie inne, dann öffnete sie die Augen und enthüllte dieses wunderschöne Blau.

„Danke.“

Endlich schmiegte sie sich an ihn, und er spürte, wie sie grinste. „Gern geschehen.“

„Ich werde jetzt meine Arme um dich legen“, kündigte er an. Als sie nicht widersprach, ließ er Taten folgen.

Ihr entwich ein leises Seufzen. „Also … Was machen wir jetzt?“

„Wir gönnen uns einen Moment, einander zu genießen.“ Sanft fuhr er ihr mit den Fingern das Rückgrat hinauf. „Ich jedenfalls. Wie ist es mit dir?“

„Ja. Ich – dein Herz hämmert ja“, stellte sie überrascht fest.

„Diesen Effekt hast nur du auf mich.“

„Dann sind wir ja quitt.“

Minuten verstrichen, vielleicht auch Stunden. Jede einzelne Sekunde war eine entzückende Folter. Tief sog er ihren Duft in sich auf und schwor sich, die ganze Nacht so zu verbringen, wenn das ihr Wunsch war – doch zu seiner Begeisterung begann sie, sich an seinem Körper zu bewegen, ihn zu drängen … irgendetwas zu tun. Ihre Fingerspitzen umkreisten seinen Nabel.

„Zacharel?“

Er ließ sie los, um die Arme nach oben zu strecken und mit den Händen das Kopfteil des Bettes zu greifen.„Ich werde nicht loslassen.“ Diesmal nicht, sosehr er sich auch danach sehnen mochte, sie zu berühren. „Du hast alles unter Kontrolle, genau wie du wolltest.“

Immer noch zögerte sie.

„Ich meine es ernst. Und wenn ich das Bett zertrümmere, ich werde dieses Kopfteil nicht loslassen. Nicht bevor du mir etwas anderes befiehlst.“

„Du machst dich gerade verdammt gut.“ Sie erhob sich auf die Knie und ließ sich dann auf seine Hüfte sinken. Der exquisite, schmerzhafte Genuss dieser Empfindung ließ ihn zischend Luft holen.

Könnte er doch nur sein Gewand verschwinden lassen …

Und dann beugte sie sich vor … tiefer … tiefer …

„Küss mich“, bat sie. Ihr Mund ergriff Besitz von seinem, ihre Zunge glitt zwischen seinen Zähnen hindurch, um mit der seinen zu tanzen. Und, oh gütige Gottheit, ihr köstlicher Geschmack berauschte ihn mehr als alles andere.

Eine Ewigkeit verging, in der sie ihn immer weiter küsste und zwischendurch den Kopf hob, um zu prüfen, ob er sich immer noch beherrschte. Was auch immer sie in seinem Gesichtsausdruck sah, schien sie zu beruhigen, denn jedes Mal beugte sie sich wieder vor, um erneut von ihm zu kosten.

Er hatte keinen Schimmer, wie es ihm gelang, das Ausmaß seiner Erregung vor ihr zu verbergen. Es war, als wäre er ein zu straff gespanntes Gummiband, das jeden Moment zerreißen könnte. Wie könnte er sie auch an diesen Punkt bringen? Genauso sanft, wie sie es anfangs getan hatte, begann nun auch er, sich unter ihr zu bewegen, sich an sie zu drängen.

Ihr entwich ein Stöhnen, und dann, endlich, dem Himmel sei Dank, hörte sie auf, immer wieder zu unterbrechen, um ihn anzublicken. Hörte auf, ständig sein Gesicht zu studieren, und gab ihm einen Kuss, der sich in seine Seele brannte. Sie schien ebenso fern von jedem klaren Gedanken wie er.

Mit den Fingern strich sie durch sein Haar, drehte seinen Kopf, um den Kontakt zu vertiefen, noch besser zu machen. Immer weiter ging dieser neue, heißere Kuss, bis sie einander bissen, stöhnend und seufzend und keuchend. Schweiß überzog seinen gesamten Körper, seine Muskeln waren verkrampft von der Anstrengung, sich zurückzuhalten.

Dann begann sie, sich an ihm zu reiben, rhythmisch, wiegend, von oben bis unten. Ihn ergriff ein verzweifeltes Verlangen, ihr noch näher zu sein, so nah, wie ein Mann einer Frau nur sein konnte. Er wollte es, brauchte es so sehr.

„Zacharel, ich will … ich brauche …“

Genau dasselbe, was auch er wollte und brauchte, betete er. „Alles. Ich gebe dir alles, was du willst.“

„Dreh dich auf die Seite.“

Sofort erfüllte er ihren Wunsch. Nun lagen sie einander Auge in Auge, Körper an Körper gegenüber. Bei jedem Atemzug mischte sich sein Atem mit ihrem, vereinte sie selbst auf dieser zarten Ebene.

„Deine Hände … auf mir“, befahl sie. „Aber nur, wenn du willst. Ich meine, wir können auch aufhören, wenn du …“

„Nicht aufhören“, platzte er heraus und bremste sich dann. „Ich will. Wirklich. Mehr als alles andere. Aber ich habe es nicht eilig.“ Gewissermaßen. Bestimmt. „Ich werde langsam machen, ganz vorsichtig.“ Er würde sich dazu zwingen.

„Okay, gut.“

Bedächtig löste er eine Hand vom Kopfteil und hob den Saum ihrer Bluse. Ihre Haut war von einem betörenden Bronzeton, seine heller, golden; der Kontrast war so dekadent, dass der Funke des Begehren in seinem Inneren zu einem wilden Feuer aufflackerte.

„Du bist so wunderschön, Annabelle.“

„Wirklich?“

Ja, oh ja. „Deine Gedanken …“

„Sind bei dir, nur bei dir. Oder wolltest du mir erzählen, wie wunderschön meine Gedanken sind?“, fragte sie kichernd.

Ihn durchströmte eine angenehme Mischung aus Erleichterung und Befriedigung. Er hatte sie zum Lachen gebracht. Im Bett. „Was soll ich tun?“

„Was willst du tun?“, hauchte sie.

Sich ausziehen, sie ausziehen, berühren, schmecken, verschlingen, lernen, erkennen, ohne jede Zurückhaltung – Dinge, für die sie noch nicht bereit war. Ruhig.

„Ich werde dich mit meinen Händen berühren, wie du es von mir wolltest.“ Sanft legte er die Hand an ihre Brust, hielt inne, wartete auf ihre Reaktion. Lustvoll stöhnte Annabelle auf, sandte heiße Erregung durch ihn hindurch. Seine Hand begann zu brennen, so köstlich zu brennen, heißer als alles andere an ihm, als er begann, das zarte Fleisch zu berühren.

Wieder stöhnte sie.

Ja … Mehr.

„Deine Haut ist wie Feuer“, stieß sie atemlos hervor.

„Schlimm?“

„Herrlich.“

Da umfasste er ihre Brust fester, gönnte sich den Genuss, immer und immer wieder mit den Fingern über die kleine rosa Perle in der Mitte zu streichen.

Bis ihr Atem unregelmäßig wurde und sie ihn drängte: „Ich bin bereit für den nächsten Schritt, Zacharel, versprochen.“

Er nahm sie beim Wort. Zentimeter um Zentimeter senkte er den Kopf, und als seine Lippen direkt über ihrer Haut schwebten, hielt er inne, wartete. In Wellen überlief sie Schauer um Schauer, doch sie drehte sich nicht weg, noch versuchte sie, ihn fortzuschieben.

Ruhig. Forschend ließ er seine Zunge hervorschnellen. Süß, oh wie süß war die Berührung. Die Wärme ihrer Haut an seiner Zunge zu spüren … Ihren Geschmack in seinem Mund … Gab es irgendetwas Besseres?

„Ich bin bei dir“, versprach sie.

Mit der Zunge umkreiste er ihre Brustwarze. Was er in den folgenden Minuten lernte: Je mehr er mit ihr spielte, desto mehr Flehen erntete er von ihr. Jede ihrer Bitten erregte ihn noch mehr, trieb sein Verlangen in die Höhe. Er war sich nicht sicher, wie viel er noch ertragen könnte.

Unglaublich vorsichtig schob er die Hand über ihren flachen Bauch nach unten und öffnete ihre Hose. Ihre zustimmenden Ausrufe ließen nicht nach, also ließ er die Finger unter den Stoff gleiten … weiter und weiter und … Sie trug kein Höschen.

„Warte“, hielt sie ihn mit zitternder Stimme auf und presste die Beine zusammen.

Er erstarrte.

Mit rosigen Wangen fragte sie: „Bist du … Weißt du … was dich erwartet?“

Nicht das Geschehen machte ihr Sorgen, sondern seine Einstellung dazu. „Ja.“

„Und es ist in Ordnung für dich?“

„Liebste, es ist mehr als in Ordnung für mich.“

Ein kurzes Innehalten. „Du hast mich Liebste genannt“, flüsterte sie. Langsam spreizte sie die Beine. „Das gefällt mir.“

Dann werde ich es wieder tun. Er setzte seine Reise fort und … oh, sie war … perfekt. So unfassbar perfekt. Seine Küsse und Zärtlichkeiten hatten ihr gefallen – und was er jetzt tat, gefiel ihr ebenfalls, wenn man ihren keuchenden Atem in Betracht zog.

Lange erforschte er sie, und ihre Reaktionen zeigten ihm, was ihr am besten gefiel. Er liebte es, wenn sie sich an ihn drängte, liebte es, wenn sie zusammenhanglose Wortfetzen murmelte. Liebte das Wissen, dass er es war, der diese berauschenden Reaktionen in ihr hervorrief.

„Du bist das herrlichste Geschöpf, das je erschaffen wurde, Liebste“, flüsterte er. Als er die Hand zurückzog, eine Hand, die immer noch in Flammen stand wie nie zuvor, stöhnte sie verloren auf. „Ich bin hier“, versicherte er ihr, „und ich gehe nirgendwohin. Ich will dich nur anheben, damit ich tiefer eindringen kann.“

Dann legte er ihr ein Kissen unter die Hüfte und setzte fort, was er begonnen hatte. Schon bald stöhnte sie atemlos, wiegte ihm den Unterleib entgegen, berührte ihn so intim, wie er sie berührte … trieb ihn in den Wahnsinn … weckte einen unbändigen Hunger nach etwas, das er nicht verstand … so verzweifelt hungerte er …

Er litt größte Qualen, doch er konnte nicht aufhören. Brauche mehr, muss mehr haben.

Derselbe Nebel, der schon einmal Besitz von ihm ergriffen hatte, drängte sich in sein Bewusstsein, drohte ihn zu verzehren, doch er wehrte sich. Auch wenn sein Blut sich erhitzte, in Flammen aufging, sich bis in seine Knochen sengte. Auch wenn er mit den Zähnen knirschte, alle Muskeln verkrampfte. Aber er war der Herr seines Körpers, nicht das Begehren. Er würde das hier für Annabelle zu etwas Besonderem machen. Er würde es nicht ruinieren.

Zumindest redete er sich das ein – bis sie sein Gewand anhob und seinen Schaft in die Hand nahm. Er zuckte so heftig zusammen, dass er fast vom Bett gefallen wäre. Sie streichelte ihn, auf und ab. Er liebte es. Er hasste es. Er brauchte mehr; könnte nicht mehr ertragen. Musste vor Begierde vergehen.

Je schneller sie die Hand bewegte, desto schneller bewegte er die Finger in ihr. Es war … es …

Geschah. Etwas geschah mit ihm.

Als sie einen spitzen Schrei ausstieß und sich wie besinnungslos an ihn drängte, überdeckte grenzenlose Lust seine Pein, baute sich in seinem Unterleib auf, schoss sein Rückgrat hinauf und durchflutete jede Faser seines Körpers. Hilflos zuckten seine Hüften, hoben sich ihr entgegen, und auch aus ihm brach ein heiserer Schrei hervor.

Er war zu nichts mehr in der Lage, außer Annabelle an sich zu drücken, zu beten, sie würde ihn niemals loslassen, und tausend kleine Tode zu sterben, aus denen er jedes Mal anders, stärker und besser, schwächer und schlechter hervorging. Ein neuer Mann. Denn in diesen Augenblicken absoluter, nackter Verwundbarkeit, in denen nichts eine Rolle spielte außer der Frau, die ihm so göttliche Freuden bereitet hatte, begriff er, dass er schon jetzt süchtig war nach den Empfindungen, die sie in ihm weckte.

Sie sollte er aufgeben?

Niemals.