17. KAPITEL

Das Black Veil war ein Nachtclub für Menschen im pulsierenden Herzen von Savannah, Georgia. In diesen schwülen mitternächtlichen Straßen hatte Zacharel schon viele Dämonen gejagt, deshalb überraschte es ihn nicht, dass Bürde sich hier eingenistet hatte. Oder dass er Besitz vom Körper des Clubeigentümers ergriffen hatte, um sich vom Aufruhr seiner Besucher zu nähren.

Zu dieser Jahreszeit war es dort so heiß, dass die stickige Feuchtigkeit einen Film auf der Haut hinterließ – selbst auf der Haut eines Engels. Wäre da nicht Annabelle gewesen, er hätte seine Gottheit um eine Rückkehr des Schnees gebeten.

Hier trug er nicht sein übliches Gewand, sondern ein ärmelloses schwarzes Netzshirt, eine schwarze Lederhose und abgetragene Kampfstiefel. Um den Look zu vervollständigen, hatte er sich das Haar von der Stirn bis in den Nacken zu Stacheln hochgegelt – die Menschen bezeichneten diese Frisur als „Irokesen“ – und seine Augen mit schwarzem Kajal umrandet. Seine Arme waren nun überzogen mit Tattoos und seine Flügel erneut vor menschlichen Augen verborgen. Alles notwendige Veränderungen.

Um die Hilfe der einzigen Männer zu gewinnen, die sich zu seiner Unterstützung in einen solchen Club einschleichen konnten, ohne dass Bürde etwas davon mitbekam, hatte er schwören müssen, sich so anzuziehen und in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Es war unfassbar. Diese Demütigung. Hätte es irgendeinen anderen Weg gegeben, hätte er diesen Männern – diesen Kindern! – allein für den Vorschlag grausamere Schmerzen zugefügt, als sie sich überhaupt vorstellen konnten.

Annabelle spazierte neben ihm her und staunte abwechselnd über sein verwandeltes Äußeres und das goldene Schimmern des Vollmonds. Jegliche Menschen, die ihnen begegneten, machten einen großen Bogen um ihn, pressten sich fast an die Hauswände, um auch bloß genügend Abstand zu halten. Grinsend tänzelte Annabelle um ihn herum. „Darf ich bitte sagen, wie ungeheuer furchteinflößend du gerade aussiehst?“

„Natürlich darfst du das. Du hast es soeben getan.“

„Nein, ich meine – ach, egal. Jetzt hast du’s versaut.“ Beleidigt schürzte sie die Lippen.

Und am liebsten hätte er diesen Gesichtsausdruck auf der Stelle fortgeküsst. Schon möglich, dass er furchteinflößend aussah – aber sie war … zum Anbeißen. Ihr Haar ergoss sich in wilden blauschwarzen Locken über den Rücken. Er hatte sie in ein enges schwarz-weiß kariertes Kleid mit Schleifen an Dekolleté und Schultern und Rüschen am knielangen Saum gesteckt, sodass niemand daran zweifeln würde, dass sie zu ihm gehörte. Darunter blitzten nackte glatte Beine hervor, und an den Füßen trug sie rote Riemchensandaletten. Sie sah aus wie eine sexy Gothic-Hausfrau aus den Siebzigern, die ihren Ehemann mit einem Drink in der Hand erwartete.

Davon abgesehen: Je unschuldiger sie wirkte, desto mehr würde Bürde sie unterschätzen. Und ja, das bedeutete, dass Zacharel in der Annahme handelte, Bürde und Annabelle würden kämpfen. Ungeachtet der Tatsache, dass Zacharel sie am liebsten nicht einmal dieselbe Luft hätte atmen lassen.

Mehr als alles andere wollte er sie in Sicherheit wissen. Dafür würde er alles tun.

Für einen Mann, der so lange nichts empfunden hatte, fühlte Zacharel sich plötzlich, als würde er in Gefühlen ertrinken. Sorge um Annabelles Sicherheit. Begehren, endlich alles zu erfahren, was sie zu geben hatte, bevor es zu spät war. Sorge um Jamilas Sicherheit. Schuldgefühle wegen der Art, wie er sie behandelt hatte. Und so irrational es auch sein mochte, er verspürte Zorn, dass sie sich hatte einfangen lassen.

Schon seit Tagen hatte Bürde Jamila in seiner Gewalt. In dieser Zeit konnte einem weiblichen Engel viel angetan werden.

Vor ein paar Stunden hatte er seine Stimme in ihren Geist projiziert, doch sie hatte nicht geantwortet. Dafür hatte die Gottheit sich zu Wort gemeldet.

Das missfällt mir. Sie steht unter deinem Schutz, unter deiner Verantwortung. Du wirst das in Ordnung bringen.

Das würde er, aber … Er hätte Annabelle zurücklassen sollen. Das könnte er immer noch. Es war noch nicht zu spät.

Doch wenn er das täte, würde sie ihn dafür hassen. Hatte sie ihm nicht gesagt, lieber würde sie sterben, als sich noch einmal einsperren zu lassen? Und um sie zurückzulassen, würde er sie einsperren müssen. Das konnte er ihr nicht antun. Nicht einmal er war so kaltherzig.

Außerdem: Was, wenn Bürde genau das wollte? Dass Annabelle allein blieb, schutzlos, sodass er sie sich schnappen konnte? Aber nein, das konnte nicht sein. Der Hohe Herr konnte nicht wissen, was diese Menschenfrau Zacharel bedeutete. Er würde annehmen, dass dieses Treffen eine ganz normale geschäftliche Transaktion war, nichts weiter. Dass Zacharel sein Kriegerengel wichtiger war als der Mensch. Wenn Zacharel also ohne sie auftauchte, würde er ein für alle Mal klarmachen, dass sie ihm mehr bedeutete als seine Pflichten, seine Rache und seine Armee. Und damit würde er sie noch mehr zur Zielscheibe machen, als sie es ohnehin schon war. Andererseits – irgendwann würden sie es sowieso herausfinden.

Die Tatsache, dass Annabelle von Kopf bis Fuß mit seiner Essenzia überzogen war, würde unmissverständlich verkünden, dass er mit ihr im Bett gewesen war. Aber mehr verriet sie nicht, dachte er. Jedenfalls nicht, wie viel sie ihm bedeutete.

Also gut, es war beschlossene Sache. Annabelle würde an seiner Seite bleiben.

„Du hast noch alles im Kopf, was ich dir gesagt habe?“, fragte er. „Wie du dich verhalten sollst?“

„So, wie du mir das alles eingebläut hast? Ich soll neben dir bleiben, nichts sagen, nicht die Konzentration verlieren, nicht dies, nicht das, nicht jenes. Ja, alles noch da“, erwiderte sie schnippisch. „Was ich nicht weiß, ist, wie dein Plan lautet.“

Sie vertraute darauf, dass er Jamila retten würde, ohne Annabelle für sie einzutauschen, das würde reichen müssen. Er konnte nicht riskieren, ihr den Rest zu enthüllen. „Hast du noch irgendwelche Fragen? Welche, die sich nicht auf den Plan beziehen?“

„Also eine auf jeden Fall. Jetzt, wo du weißt, wo dieser Bürde steckt, warum stürmst du nicht einfach seinen Stützpunkt und kämpfst mit ihm, während deine geheimnisvollen Freunde – und ich warte immer noch drauf, dass du mir mehr über sie verrätst – Jamila da rausholen?“

Die Krieger, die er angeheuert hatte, gehörten zu jenem „Rest“, den er nicht preisgeben konnte. Vielleicht würde er ihr nicht einmal davon erzählen, wenn die Schlacht vorüber war und der Staub sich gelegt hatte. „Weil Bürde, der Feigling, Besitz vom Körper eines Menschen ergriffen hat. Deshalb sind die Dinge, die ich mit ihm anstellen kann, begrenzt.“

„Selbst wenn er euch angreifen würde?“

„Auch dann würde ich ihn nicht verletzen.“ Jedenfalls nicht sehr. „Aber das ist ungerecht!“

„Etwas, worin meine Welt und deine sich ähneln. Nichts scheint je gerecht zu sein.“ Doch mittlerweile begann er zu verstehen, dass alles, egal wie furchtbar es war, sich zu seinem Vorteil verwenden ließ. „Auch wenn wir den Menschen nicht vernichten können, wird er nicht unbeschadet davonkommen. Wer sich mit Dämonen einlässt, wird dafür immer Leid erfahren – das ist ein spirituelles Gesetz, dessen Wahrheit er heute Nacht am eigenen Leib erfahren wird.“

„Meinetwegen. Aber wir sind uns sicher, dass dieser Bürde nicht derjenige ist, der meine Eltern umgebracht hat – auch wenn er es war, der den anderen Dämonen befohlen hat, mich zu quälen?“

„Ja. Unter den Dämonen gibt es eine Rangordnung, und Bürdes Rang ist nicht hoch genug, als dass er sich in der Gegenwart von Menschen manifestieren könnte.“

„Okay, dann sag mir mal eins: Wie konnte Bürde von diesem Menschen im Club Besitz ergreifen?“

„Der Mensch hat ihn willkommen geheißen, hat ihn auf die eine oder andere Weise eingelassen.“

„Wie zum Beispiel … in einem Traum?“

„Manchmal funktioniert es so. Manchmal beobachtet ein Dämon einen Menschen und wartet auf den perfekten Moment, zuzuschlagen. Wenn dieser Moment nicht kommt, versucht der Dämon, sich selbst einen Zugang zu schaffen. Er flüstert dem Menschen Dinge ins Ohr. Erzähl diese Lüge … Sag jene Gemeinheit… Tu diese Abscheulichkeit… Begehe jene Grausamkeit. Wenn der Mensch den Dämon nicht zurückweist, wächst dessen Einfluss und ermöglicht es der Kreatur irgendwann, sich in den Gedanken des Menschen einzunisten.

„Wie soll man denn einen Dämon zurückweisen? Woher soll man überhaupt wissen, dass man ihn zurückweisen muss?“

„Glaub mir, es gibt einen Weg und ich werde ihn dir beibringen. Aber nicht jetzt.“ Das brauchte Vertrauen, das sie noch nicht besaß. Einen Glauben, der nicht allein durch Worte wachsen würde. Dafür würde sie Zeit brauchen, die sie nicht hatten, um eine göttliche Lehre zu vernehmen – nicht nur mit den Ohren, sondern mit ihrem ganzen Sein. Wenn er versuchte, es ihr trotzdem beizubringen, würde sie Angst bekommen, und dadurch würde alles nur schlimmer werden.

„Warum ergreifen sie eigentlich von den Engeln deiner Gottheit keinen Besitz? Ihr Typen scheint genauso viele Fehler zu haben wie wir“, grummelte sie.

„Auch uns quälen sie, zweifle nie daran.“

Mit der Schulter dirigierte er sie in eine düstere Seitenstraße. Uringestank mischte sich in die schwere Seeluft. Er hätte auch direkt vor die Tür des Clubs fliegen können, doch er zog es vor, Bürde wissen zu lassen, dass er im Anmarsch war. Die Spione des Dämons würden ihn ankündigen – allein in den letzten fünf Minuten hatte er drei Lakaien entdeckt, die hinter Ecken hervorgelinst hatten und dann in Windeseile an den Häuserwänden emporgekraxelt und verschwunden waren.

„Na sieh mal einer an, was haben wir denn hier?“ Ein menschlicher Jugendlicher trat aus den Schatten hervor. Er war dabei, den Reißverschluss seiner Hose zuzuziehen, und Zacharel konnte sich denken, was er gerade gemacht hatte. Ein Gebäude als Toilette benutzt. Aus seinen Poren drang der Gestank von Alkohol und Zigaretten. „’ne heiße kleine Chinesin und einen Nervsack, der sich jetzt besser verpisst, wenn er weiteratmen will.“

„Ich bin keine Chinesin“, fauchte Annabelle.

„Scheiß drauf. Du bist heiß, das ist alles, was mich interessiert.“ Zwei weitere Teenager bauten sich neben ihm auf.

Keiner von ihnen war besessen, doch jeder Einzelne war gefährlich dumm. Zacharel war doppelt so groß wie sie, aber mit den Waffen in ihren Händen – zwei hatten Messer, erkannte er an einem silbrigen Glitzern im Mondlicht, und der Anführer hielt eine Pistole – fühlten sie sich unbezwingbar.

„Was haste denn unter dem Kleid, hä?“

„Sei ’n braves Mädchen und zeig mal her.“

Oh ja. Gefährlich dumm.

Zacharel spürte das Pulsieren von Annabelles Furcht, bevor sie sie zurückdrängte und Entschlossenheit an ihre Stelle trat.

„Ihr macht mich wütend“, erklärte sie, „und das wollt ihr ganz und gar nicht.“

Alle drei Jungen kicherten spöttisch.

„Warum? Verwandelst du dich dann in ein riesiges grünes Monster?“, gab einer zurück.

Noch mehr Gekicher.

Dann knurrte einer der Jungs Zacharel an: „Mach ’nen Abgang, bevor wir dich alle machen.“

Ein anderer setzte nach: „Du kannst die Kleine wiederhaben, wenn wir mit ihr fertig sind“, und lachte. „Versprochen.“

„Oh, das hättest du ganz und gar nicht sagen sollen“, sagte Annabelle in einem ruhigeren Ton, als Zacharel es für möglich gehalten hätte. An ihn gewandt fügte sie hinzu: „Zeig’s ihnen, Zacharel, nur ein winzig kleines bisschen. Bitte.“

„Dein Wunsch ist mir Befehl.“ Sanft neigte Zacharel den Kopf zur Seite, während er Annabelle vor sich zog und in die Arme schloss, um sie vor dem zu schützen, was gleich geschehen würde. Innerhalb von Sekunden erzeugte er mit seinen Flügeln mächtige Windböen. Einer nach dem anderen fanden die Jungen sich plötzlich auf dem dreckigen Boden wieder.

Mühsam versuchten sie sich aufzurichten, doch der Wind war stärker. Zacharel hätte jedem von ihnen das Genick brechen können, bevor sie überhaupt bemerkt hätten, dass er sich bewegt hatte. Er hätte ihnen den Brustkorb aufreißen und ihre Innereien in der Gasse verteilen können. Vielleicht würde er das auch einfach tun. Er könnte sie immer noch wiederbeleben, bevor der Tod sie in die Fänge bekam, damit er nicht ausgepeitscht würde – oder Schlimmeres.

Immer heftiger schlug er mit den Flügeln, und der Wind wurde stärker und stärker. Bald übertönte sein Pfeifen die Schmerzensschreie der Menschen. Der Druck wuchs, wusste Zacharel, und würde bald Knochen brechen und Organe platzen lassen.

Aber einen Menschen zu verletzen, ist nicht notwendig. Damit wärst du nicht besser als, na ja, Fitzpervers. Er hat mich leiden lassen, bloß weil er es konnte. Plötzlich hallten Annabelles Worte in seinen Ohren wider. Warum ergreifen sie eigentlich von den Engeln deiner Gottheit keinen Besitz? Ihr Typen scheint genauso viele Fehler zu haben wie wir.

Nein. So etwas würde er nicht tun. Er würde diese Jungen nicht vernichten, bloß weil er es konnte, und er würde nicht dem Drang erliegen, gewalttätig zu werden. Das wäre ein Fehler.

Annabelle schlang die Finger um seine Handgelenke und drückte sie leicht. „Okay, es reicht. Du kriegst noch Schwierigkeiten, und ich bin heute Nacht ein bisschen auf dich angewiesen. Und eigentlich ist deine Gesundheit auch wichtiger, als diesen Jungs das zu verpassen, was sie verdienen.“

„Ich war schon dabei, aufzuhören“, gab er zu, hörte auf, mit den Flügeln zu schlagen und ließ den Sturm verstummen.

Schluchzend blieben die Jugendlichen am Boden liegen.

„Habt ihr dieser Frau irgendetwas zu sagen?“, forderte er.

„Tut mir leid, Mann, echt.“ Dem Sprecher lief der Rotz aus der Nase.

„Ich tu’s nie wieder, ich schwör’s.“

„Bitte, lass uns einfach gehen. Ich geb dir auch Geld, ich hab’s bei mir.“

„Genug!“ Zacharel zwang sie, aufzustehen. Zuerst zuckten sie vor ihm zurück, dann kamen sie wacklig auf die Beine. „Ihr werdet geradewegs zur nächsten Polizeistation marschieren und eure Verbrechen gestehen. Tut ihr es nicht … ich werde euch finden.“

So oft, wie Annabelle in letzter Zeit an seinen Worten gezweifelt hatte, rechnete er fast damit, dass es den Jungen genauso gehen würde. Doch sie reagierten auf den Klang der Wahrheit, wie er es gewohnt war. Ihre Augen wurden glasig und sie nickten willenlos. Dann musste er wohl nicht noch das Antlitz eines riesigen grünen Ungeheuers über seinem Gesicht aufblitzen lassen.

„Warum seid ihr noch hier?“, knurrte er sie an. „Los!“

Panisch stoben sie davon.

Annabelle klopfte ihm auf die Schulter. „Gute Arbeit, Z. Ziemlich beeindruckend.“

„Sarkasmus?“

„Diesmal nicht, geflügeltes Wunder.“

Er drehte sie zu sich und strahlte sie an. „Danke.“

„Gern geschehen.“

Selbst in den unmöglichsten Situationen schaffte diese Frau es, ihn zu amüsieren. Das enthüllte mehr als alles andere, wie stark ihre Anziehungskraft auf ihn war. Und diesmal fürchtete er sich nicht davor, es zuzugeben. Langsam gewöhnte er sich an seine Gefühle für sie.

„Du siehst hübsch aus, wenn du lächelst“, stellte sie fest und tätschelte ihm die Wange.

„Furchteinflößend, Weib. Ich bin furchteinflößend.“

„Wenn du das sagst.“

Er zog sie das letzte Stück der Gasse entlang mit sich, erfreut, dass sie sich nicht widersetzte. Am Ende bog er rechts ab, hastete eine andere Gasse entlang und wandte sich dann nach links. Niemand sonst versuchte sie aufzuhalten. Schließlich kam der Eingang des Clubs in Sicht.

Zwei besessene Türsteher bewachten den Eingang, während eine Schlange ahnungsloser Menschen hoffte, bald eingelassen zu werden. Aus den Türritzen dröhnte Hardrock nach draußen, in dem eine verborgene Sinnlichkeit pulsierte. Eine Sinnlichkeit, die er vor Annabelle wahrscheinlich nicht einmal bemerkt hätte. Jetzt wusste er, wie geschmeidig zwei Körper sich zu einem solchen Rhythmus bewegen konnten, sich aneinander reiben würden, bevor sie sich wieder voneinander trennten, schon begierig auf den nächsten Schritt.

Als die massigen Türsteher ihn erblickten, schluckten sie und wichen beiseite, ließen Zacharel ohne Pause hineinmarschieren. Mit der Schulter stieß er die Doppeltür auf. „Mein Süßer macht sie alle platt“, murmelte Annabelle, was auch immer das bedeuten sollte, während aus der Menge jemand rief: „Hey! Wieso kommen die einfach so rein und … “ Das Krachen der zufallenden Türen schnitt den Rest der Beschwerde ab.

Eine Kellnerin glitt vorbei, in der Hand ein Tablett voller Drinks. Auf der Tanzfläche rieben sich Männer und Frauen aneinander, genau wie er es sich ausgemalt hatte, mit suchenden Mündern und wandernden Händen. Auf den Schultern mehrerer Gäste hockten niedere Dämonen. Die meisten von ihnen waren kleine, affenähnliche Kreaturen mit dunkelbraunem Fell und langen, schwingenden Schwänzen.

„Kannst du die Dämonen sehen, die auf ihren Schultern sitzen und ihnen in die Ohren flüstern?“, fragte er Annabelle. „Wie sie ihre Gedanken und Handlungen beeinflussen und versuchen, sich festzubeißen?“

„Wo?“

„Genau da.“

„N-Nein.“

Und offensichtlich gefiel ihr das nicht. „Ich vermute, du kannst nur Dämonen ab einer bestimmten Ranghöhe sehen.“

„Sollten wir nicht, ich weiß nicht, gegen sie kämpfen? Und was meinst du mit festbeißen?“

„Wir? Nein, das liegt in der Hand der Menschen. Und dieses Festbeißen ist das, wovon ich draußen gesprochen habe. Sie versuchen, sich einen permanenten Platz im Leben eines Sterblichen zu erschleichen, in seinen Gedanken, wo dann jede Boshaftigkeit, die der Dämon sich überlegt, alles Tun und Denken des Menschen einnimmt.“

„Ist das diese Sache mit der Zurückweisung? Sie müssen lernen, etwas zu bekämpfen, das sie nicht sehen können?“

„Exakt. Sie müssen die spirituellen Wahrheiten und Gesetze erkennen und danach handeln.“

Hinter den Tanzenden waren Tische zu sehen. Fast jeder Zentimeter Tischplatte war mit leeren Gläsern und Bierflaschen vollgestellt. Zacharels Blick durchschnitt die schwüle Dunkelheit. In verschatteten Ecken wechselten Geld und Drogen die Besitzer. Prostituierte betrachteten ihre Fingernägel, während sie sich betatschen ließen. Doch von seinen Helfern entdeckte er nirgends eine Spur.

„Hey, Mann, hast du mal Feuer?“, erklang eine Männerstimme.

Hastig richtete Zacharel seine Aufmerksamkeit auf den Mann vor ihm. Zwischen den Lippen hielt der Sprecher eine Zigarette.

Er war ebenso hochgewachsen wie Zacharel, mit so dichtem, glänzendem Haar, dass ihn jede Frau darum beneiden musste. Es schimmerte in einer Sinfonie von Farben, Schattierungen von hellstem Blond gemischt mit Karamell, Schokolade und Kaffee. Das Blau seiner Augen war tief, unergründlich, und sein betörendes Antlitz wie aus einem dieser Kataloge der Menschen – oder des Himmelreichs. Ein krasser Gegensatz zu seinem Körper, der eindeutig einem Krieger gehörte.

Endlich.

Annabelle schnappte nach Luft, als hätte sie gerade etwas unfassbar Kostbares entdeckt, und Zacharel konnte nur wütend mit den Zähnen knirschen. Eifersucht war für ihn genauso neu wie alles andere. Doch mit diesem Mann konnte sich einfach niemand messen. Aus gutem Grund.

„Rauchen tötet“, war alles, was Zacharel erwiderte. Ich darf ihn nicht schlagen. Wirklich nicht. Vor allem, weil ich ihn gebeten habe, herzukommen.

„Wie so vieles“, knurrte der Mann. Doch er nahm die Zigarette aus dem Mund, ließ sie fallen und zertrat sie, während er mit abschätzendem Blick Annabelle begutachtete. „Hübsches Weib. Gehört die zu dir?“

„Ja.“ In seinem Ton lag ein unmissverständliches Also Finger weg.

Paris, Hüter des Dämons der Promiskuität, verzog die Lippen zu einem langsamen, befriedigten Grinsen, das Zacharels Nerven nur noch mehr reizte. „Ist sie stumm?“

„Nein.“ Obwohl sie momentan definitiv so wirkte. Ihr Mund stand offen, kein Ton kam hervor.

Dem dämonenbesessenen Krieger entwich ein rauchiges Lachen, und Zacharel konnte nur staunen, wie sehr dieser Mann sich verändert hatte. Noch vor ein paar Monaten war niemand unglücklicher gewesen als Paris. Aber die richtige Frau konnte wohl jeden Mann ins Leben zurückholen, nicht wahr?

„Versuch’s dir nicht zu Herzen zu nehmen. Sie kann nicht anders.“ Leise pfeifend schlenderte er davon.

„Zu allem musst du einen Kommentar abgeben“, wandte Zacharel sich an Annabelle, „und bei ihm bist du plötzlich sprachlos?“

„Aber sein Duft …“, murmelte sie und blickte Paris’ muskulösem Rücken nach, bis er in der Menge verschwand. „So etwas hab ich noch nie gerochen. Schokolade und Kokos und Champagner, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft.“

„Er ist vom Dämon der Promiskuität besessen“, platzte Zacharel heraus.

„Was?! Nie im Leben.“

„Und wie.“

„Besessen“, wiederholte sie mit hohler Stimme.

Sehr gut. Nie wieder würde sie Paris so sehnsüchtig anhimmeln. Ob das kleinlich von ihm war? Vielleicht. Spielte das für ihn eine Rolle? Nein. „Die meisten der Leute hier stehen unter dem Einfluss von Dämonen, aber ein paar sind tatsächlich besessen. Bürde lässt sie für sich arbeiten – die Dämonen, meine ich – und bezahlt sie, um die Gäste in Versuchung zu führen, die dem Bösen noch nicht so zugeneigt sind.“

Sie umfasste seine Finger fester, und er wusste, dass sie hoffte, er würde ihr Kraft geben. „Okay, was sollen wir jetzt machen?“

„Jetzt warten wir.“

Die gute Neuigkeit war, dass sie nicht lange warten mussten. Eine Frau bahnte sich den Weg durch die tanzende Menge und stolzierte dann lasziv auf Zacharel zu. Eine der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte. Seidig ergoss sich helles Haar über ihren Rücken, ihre Haut hatte einen rosigen Schimmer und ihre Augen waren so golden wie das Mondlicht vor der Tür.

Ihr grellrotes Lederkleid schaffte es kaum, ihre riesigen Brüste im Zaum zu halten. Einschnitte an der Taille gaben den Blick frei auf perfekt geschwungene Hüften. Der Saum endete direkt unter ihrem Po und ließ klar erkennen, dass kein Höschen den Zugang zu der Stelle versperrte, wo sich diese ellenlangen Beine trafen.

Wunderschön, ja. Aber auch besessen.

Zacharel spürte die menschliche Seele an die Türen ihres Geistes hämmern, während sie verzweifelt versuchte, den Fängen des Dämons zu entkommen. Das Monster hatte erst vor Kurzem Besitz von ihr ergriffen. Wahrscheinlich innerhalb der letzten Tage.

Sie blieb vor ihm stehen, doch ihr Blick ruhte provozierend auf Annabelle. „Da ist ja meine süße kleine Geisha. Wie hab ich dich vermisst.“

Annabelle keuchte auf. „Wie hast du mich gerade genannt?“, brachte sie heraus.

Der menschliche Arzt, Fitzherbert, hatte exakt denselben Kosenamen benutzt, erinnerte sich Zacharel. „Süße kleine Geisha“. Zacharel glaubte nicht an Zufälle. Der Dämon, der jetzt in der Frau vor ihnen hauste, musste früher einmal jemanden in der Anstalt in seinen Fängen gehabt haben. Nicht Fitzherbert, das hätte Zacharel gespürt, aber jemanden, der im Gebäude wohnte. Vermutlich einen Patienten, das würde Sinn ergeben. Lakaien, die sich in den Gedanken eines Menschen festgefressen hatten, konnten ihre Wirte zu fast allem überreden. Mit Sicherheit hatte Bürde einen Spion haben wollen, der zusah, lauschte, wahrscheinlich sogar andere anstachelte, Annabelle Leid zuzufügen – und dann Bericht erstattete.

Glänzende rosa Lippen verzogen sich zu einem verführerischen Lächeln. „Hab ich dir auch gefehlt, kleine Geisha? Ich könnte Fotos von mir machen und sie dir schenken. Dann kannst du sie dir immer, wenn wir uns trennen müssen, ansehen und an mich denken.“

Ein Beben überlief Annabelles schlanken Leib an seiner Seite. Sekundenbruchteile später hielt sie zwei Dolche in den Händen. Im nächsten Augenblick jagten diese Dolche durch die Luft und blieben zitternd in der Brust der Frau stecken.

„Genau so hätte ich gern ein Foto von dir“, fauchte Annabelle. „Was meinst du?“

Ein Schrei aus einer Mischung aus Schmerz und Schock … auf den eine Flut der schlimmsten Flüche folgte, die in dem Versprechen gipfelten: „Ich bring dich um!“

Einige der Tanzenden bemerkten, was geschehen war, und stürzten schreiend zum Ausgang. Andere rieben sich unbeeindruckt weiter aneinander.

„Du wirst nichts dergleichen tun“, warnte Zacharel die Frau.

Sie biss die Zähne zusammen und zerrte die blutbesudelten Klingen mit einem Ruck aus ihrer Brust. „Halt deinen kleinen Liebling im Zaum, Engel.“

„Anders als du, Dämon, werde ich nie so tief sinken, einem Menschen meinen Willen aufzuzwingen.“ Und wenn seine Gottheit Annabelle bestrafen wollte, würde er sich vor sie stellen und die Strafe an ihrer Stelle auf sich nehmen.

Schon seltsam, dass er sich noch vor ein paar Tagen über genau so etwas beschwert hatte. Noch seltsamer, dass er es jetzt mehr als bereitwillig auf sich nehmen würde.

„Tut mir leid“, murmelte Annabelle. „Da war meine Wut schneller als ich.“

Fest umfasste er ihre Hand, drückte sie. „So aufgeladen mit dämonischer Energie, wie die Luft hier ist, passiert das schnell. Behalt deine Emotionen im Auge.“

„Genug!“, blaffte die Dämonin und verengte die Augen. Darin glühte mittlerweile ein tiefes, loderndes Rot. Ganz offensichtlich gefiel es ihr nicht, ignoriert zu werden. „Hier entlang.“ Mit diesen Worten wandte sie sich um und führte sie durch den Club, ließ sich jedoch nicht einen letzten selbstgefälligen Blick über die Schulter nehmen. „Aber erwartet nicht, dass Bürde euch genauso herzlich empfängt wie ich.“