Thane, Xerxes und Björn kamen in das Büro marschiert, doch sie sagten kein Wort und blieben nicht lange. Sie nahmen nur Bürde entgegen und verschwanden. Schweigend sahen die anderen ihnen zu.
Als ihre Schritte verhallten, stellte Zacharel ihr die Truppe vor, die zu ihrer Rettung geeilt war. Die meisten von ihnen waren besessen, und doch kannte Zacharel sie offensichtlich, mochte sie – und wollte nicht zulassen, dass Annabelle ihnen wehtat. Lucien trug den Tod in sich. Strider die Niederlage. Amun hütete Geheimnisse und in Paris, dem Typen, der vorhin nach Feuer gefragt hatte, hauste Promiskuität.
Gerade so schaffte sie es, mit einem Nicken zu verstehen zu geben, dass sie ihre Namen gehört hatte. Dämonen waren Dämonen, wie man es auch drehte und wendete. Mit denen wollte sie nichts zu tun haben.
Die Frauen waren nicht besessen, wirkten jedoch genauso gefährlich – wenn nicht sogar gefährlicher. Kaia war eine rothaarige Harpyie, was auch immer das hieß. Die umwerfende blonde Sexbombe hieß Anya und war angeblich die Göttin der Anarchie, und die Frau namens Haidee war … ganz klar auch irgendetwas, obwohl niemand verraten wollte, was genau.
Haidees gebräunte Haut strahlte vor Gesundheit und Lebenskraft, ein rosiger Schimmer lag auf ihren Wangen und ein Lächeln erhellte ihr Antlitz. Die pinkfarbenen Strähnen in ihrem hellen Haar trug sie, als hätte sie den Look erfunden. Ihre Arme waren mit Tattoos überzogen, und sie trug ein herzallerliebstes Kleid von Hello Kitty. Zacharel schien es sorgsam zu vermeiden, auch nur in ihre Richtung zu blicken; er hatte es kaum über sich gebracht, sie vorzustellen, und trotzdem musste Annabelle den Drang niederkämpfen, zu ihr hinüberzugehen und sie zu drücken.
Warum?
Und noch wichtiger: Harpyien, Titanengöttinnen wie aus einer Mythensammlung entsprungen, menschlich aussehende Mädchen mysteriösen Ursprungs – was gab es da draußen sonst noch? Wovon hatte sie noch keine Ahnung?
Aus dem Augenwinkel nahm Annabelle ein silbernes Blitzen wahr, beugte sich hinunter und hob einen Dolch auf. Halleluja! Okay, die Schlacht war vorüber, aber Vorsicht war besser als Nachsicht. Vor allem wenn man bedachte, in was für Gesellschaft sie sich augenblicklich befand.
„Du starrst meine Freunde an. Warum starrst du meine Freunde an, Menschen… mädchen… person?“ Der Rotschopf stellte sich vor sie und forderte ihre Aufmerksamkeit ein, indem sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um Annabelle den Kopf zu tätscheln. „Vergiss es, ich kann’s mir denken. Du glaubst, bloß weil sie besessen sind, wären sie das pure Böse. Tja, ich hab Neuigkeiten für dich, China-Barbie. Die Dämonen sind böse, aber die Jungs sind zuckersüß. Der wahre Albtraum bin ich.“
Mit ihren eins achtzig überragte Annabelle das Mädchen um mehr als einen Kopf. Sie sah auf zu Zacharel, der fast unbeweglich dastand, und fragte mit einem stummen Blick, ob er Ärger bekäme, wenn sie die Kleine zu Brei schlug. Kannte denn gar keiner den Unterschied zwischen chinesisch und japanisch?
Warnend schüttelte er den Kopf. „Leg dich nie mit einer Harpyie an.“
„Ich hab immer noch keinen Schimmer, was eine Harpyie ist.“
„Eine Todesmaschine, so!“, behauptete Kaia.
„Aber …“
„Kein Aber, Annabelle.“ Wieder sah Zacharel zu der Rothaarigen. „Und Kaia. Benimm dich.“
„Meinetwegen. Aber nur, weil du diesen rabenschwarzen Tag in strahlendsten Sonnenschein getaucht hast – ausnahmsweise werde ich dir mal gehorchen. Willst du wissen, wie du das gemacht hast, na, na? Okay, ich sag’s“, sprudelte es aus der Harpyie hervor. „Ständig hast du auf Lysander herumgehackt, weil er mit meiner allerliebsten Schwester zusammen ist, aber jetzt sieh dich an. Du machst einen auf Paris und hast was mit ’ner Jägerin, stimmt’s? Und das sind die Schlimmsten!“
Einen auf Paris machen? Jägerin?
Zacharel musste ihre Verwirrung gespürt haben. „Die Jäger sind fanatisch darauf aus, alles Paranormale zu vernichten. Sie würden alles tun, selbst eine Stadt voller Unschuldiger niederbrennen, um ihre Ziele zu erreichen.“
„Ich bin keine Jägerin“, fuhr sie Kaia an.
„Das sagen sie alle, Süße.“
Zacharel fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. An Kaia gerichtet erklärte er: „Annabelle hat noch nicht gelernt, dass ein Mann nicht eins ist mit dem Dämon, der ihn quält. Dass ein Mann das Böse bekämpfen und es besiegen kann und dass zu viele Leute lieber nach dem handeln, was sie fühlen und sehen, anstatt wie die Herren zu glauben, dass sie mehr erreichen und es besser machen können. Und daraus kann ich ihr keinen Vorwurf machen. Diese Lektion habe ich selbst erst vor Kurzem gelernt.“
Also hatten die Herren das Böse in ihren Dämonen bekämpft und besiegt? Ein solcher Sieg musste einen grausamen Preis gefordert haben. Nur zu gut erinnerte sie sich an die unzähligen Kämpfe, die sie verloren hatte. Ein gewisser Respekt vor den Herren der Unterwelt begann sich in ihr zu regen, und sie zwang die Hand mit dem Dolch, sich zu entspannen – nur um zu bemerken, dass Kaia ihr Handgelenk umklammerte und ihre Krallen sich in Annabelles Haut gruben, wahrscheinlich sogar bis auf die Knochen. Beißende Hitze ging von ihr aus.
„Du bist zu heiß“, presste Annabelle zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Heißer als selbst Zacharels Hände manchmal waren.
Unverfroren grinste die winzige Frau sie an. „Ich weiß, absolut! Aber meine Zwillingsschwester ist noch heißer, ich schwör’s.“
Zwillingsschwester? Es gab zwei von der Sorte?
„Kaia“, setzte Zacharel an, als Annabelle kommandierte: „Lass mich los, du Zwerg. Sofort.“
„Zwerg. Süß. Aber wie heißt das Zauberwort?“
„Kaia!“, knurrten Zacharel und Strider wie aus einem Mund.
„Leider falsch.“
Mit rauer Stimme quetschte Annabelle hervor: „Oder ich reiße dir die Eierstöcke raus.“
„Bingo!“ Einen nach dem anderen löste Kaia ihre Fingernägel aus Annabelles Fleisch. Kleine rote Schwellungen erhoben sich auf der massakrierten Haut.
„Du bist die wahrscheinlich seltsamste Person, der ich je begegnet bin“, murrte Annabelle.
„Und du die süßeste. Also, erzähl mal“, forderte Kaia und ließ eine Kaugummiblase platzen. „Ist Zacharel gut im Bett? Denn ich hab ziemlich viel Geld drauf gesetzt, dass die Antwort Nein lautet. Schon klar, er hat große Hände, und auf dem Schlachtfeld kann er damit auch verdammt gut umgehen, aber hast du mal versucht, mit ihm zu flirten? Der Typ ist hilflos wie ein Baby. Ich geh mal davon aus, dass diese Hilflosigkeit sich auch auf den Matratzensport erstreckt.“
„Äh …“ Plötzlich starrte jeder im Raum sie an. Zacharel eingeschlossen. „Er ist, äh, super?“ Noch nie hatte sie sich so unwohl gefühlt.
„Och manno.“ Kaia ließ die Schultern hängen.
Strider, der Hüter der Niederlage, jubelte und stieß eine Faust in die Luft. „Ich hab’s dir gesagt, Hase. Ich hab’s dir gesagt.“
Mit finsterem Blick wirbelte Kaia zu ihm herum. „Die Tatsache, dass du eine Wette über die Sexualität eines anderen Mannes gewonnen hast, ist nichts, womit man prahlen kann, du Idiot.“
Grinsend warf er ihr einen Handkuss zu. „Du bist sexy als schlechte Verliererin.“
Ihre Miene erhellte sich, und sie bauschte sich das Haar in Form. „Natürlich bin ich das, aber ich fordere dich heraus, es zu beweisen.“
„Ist mir ein Vergnügen.“ Und dann sprangen die beiden förmlich aufeinander los und küssten sich, als wäre der andere eine überlebenswichtige Sauerstoffquelle.
Findet das außer mir noch jemand bizarr? Scheinbar nicht. Unter den anderen Männern entspann sich eine Unterhaltung wie ein Kreuzverhör.
Zacharel: „Der Club?“
Der vernarbte Krieger, Tod: „Gesäubert.“
Zacharel: „Die Menschen?“
Der betörende Hüter von Promiskuität: „Unverletzt, wie erbeten.“
Zacharel: „Dämonen und Besessene?“
Die Göttin der Anarchie schaltete sich ein, reckte eine Faust gen Himmel wie Strider zuvor. „Ich hab sie alle abgeschlachtet!“
Zacharel: „Was?!“
Anya: „Na gut. Nur in meinem Kopf hab ich sie alle abgeschlachtet. Ich hab Lucien gesagt, er soll sie alle einsperren, wie du’s wolltest. Jetzt zufrieden?“
Der große schwarze Krieger mit den dunklen Augen sagte irgendetwas in Zeichensprache, bevor er die pink gesträhnte Mieze an sich zog. Amun und Haidee waren ein Paar … oder wie auch immer man das bei zwei Nicht-ganz-Menschen nannte.
Zacharel packte Annabelle bei den Schultern und zwang sie, sich zu ihm umzudrehen. Als ihre Blicke sich trafen, verblasste der Rest des Zimmers zu einem Nichts. Es gab nur noch ihren Engel und seine smaragdenen Augen. Er sagte: „Ich übergebe dich in die Hände dieser Krieger und ihrer Frauen. Sie werden dir nichts tun, und du wirst ihnen nichts tun.“
Zuerst drohte eine Woge der Panik sie zu überrollen – Er lässt mich schon wieder allein! –, dann Zorn – Ich brauche ihn nicht, ich kannst selbst auf mich aufpassen! –, dann Entschlossenheit. Wer könnte ihr besser etwas über die verschiedenen Arten von Dämonen beibringen als Dämonen selbst? Hatte Zacharel sich nicht deshalb bei ihrer ersten Trainingsstunde in einen verwandelt? Obwohl … Konnte sie überhaupt irgendetwas von dem Glauben schenken, was diese Leute ihr erzählten?
„Na gut, von mir aus“, erwiderte sie bemüht unbeschwert. „Und wohin willst du?“
Er überging die Frage. „Schwöre es.“
Genervt knackte sie mit dem Kiefergelenk. „Ich werde deinen Freunden nichts tun – außer, sie greifen mich an. Ich schwöre es. Also, wohin willst du?“
„Nach unten. Ich werde den Club nicht ohne dich verlassen und niemand in diesem Raum wird dich angreifen“, erklärte er lauter, sodass alle ihn hören konnten. „Sie werden auf dich aufpassen, unter Einsatz ihres Lebens, wenn es nötig sein sollte. Auch wenn sie dir nicht trauen. Nicht wahr?“
Schweigen.
„Nicht wahr?“, donnerte er.
Wow. Noch nie hatte sie ihn so die Stimme erheben hören. Zustimmendes Gemurmel erklang.
„Nur dass du’s weißt, ich bin vertrauenswürdig“, grummelte sie.
„Bist du das.“ Er schüttelte sie leicht. „Zu schade, dass du über mich nicht dasselbe sagen würdest. Du hast geglaubt, ich wollte dich austauschen und hier im Stich lassen. Du hast wirklich geglaubt, ich würde Bürde und seinen Männern erlauben, dir wehzutun, um einen anderen Engel zu retten.“
Zorn ging in Wellen von ihm aus, und sie schämte sich. „Sollte ich nicht genau so was denken?“
„Ja, aber deswegen muss es ja nicht gleich funktionieren.“
„Ja. Äh. Vielleicht hat es das ja auch nicht. Ich meine, ich erinnere mich nicht, je etwas über diesen dämlichen Plan gesagt zu haben, den du mir nicht verraten wolltest, bis es zu spät war.“
„Du hast es gedacht. Das kannst du nicht leugnen.“
Eine Beziehung mit einem Mann, der nicht lügen konnte – was für ein Riesenspaß. „Tut mir leid, okay?“, gab sie zurück und hob das Kinn. „Mich hat noch nie jemand beschützt. Das ist neu für mich.“
Plötzlich war er direkt vor ihr, und sein warmer Atem strich ihr über das Gesicht. „Tut es dir wahrhaftig leid, dass du etwas Falsches angenommen hast, oder tut es dir nur leid, dass ich die Wahrheit erraten habe? Denk darüber nach, während ich fort bin. Und wenn wir uns das nächste Mal sehen, entschuldige dich noch mal, und diesmal ernsthaft.“ Damit verließ er mit Amun und Haidee im Schlepptau den Raum.
Annabelle musterte die verbleibenden Anwesenden. Augenblicklich wandten sie alle sich unschuldig ab, manche pfiffen sogar leise vor sich hin, andere begutachteten ihre Fingernägel.
Was für ein Spaß das werden würde.
Und ja, das war Sarkasmus in seiner reinsten Form. Das habe ich verdient, dachte Zacharel düster. Er hatte es dermaßen verdient, eine Frau zu bekommen, die ihm genauso viel Ärger und Sorgen bereitete wie er seiner Gottheit. Doch diese Lektion sollte ihm eigentlich seine Armee beibringen, nicht seine Geliebte.
Und sie war seine Geliebte, ungeachtet der Tatsache, dass sie ihr Zusammensein noch nicht vollzogen hatten. Nichts anderes kam für ihn infrage. Aber, oh, wie sehnte er sich nach den Tagen seiner seligen Unwissenheit, als er die Freuden noch nicht gekannt hatte, die in einem weichen, warmen Körper zu finden waren. Als er noch nicht die drängende Kraft des Zorns gekannt hatte.
Ja, Zorn.
Zorn war wie Angst, er musste ihm nicht nachgeben. Er konnte ihn ignorieren. Hatte ihn weitestgehend ignoriert. Doch der Riss in seiner Brust stand kurz davor, aufzuplatzen. Annabelle hatte an seiner Integrität gezweifelt; am liebsten hätte er sie geohrfeigt. Sie wenigstens angeschrien. Stattdessen war er schon vor der bloßen Vorstellung zurückgeschreckt, ihre Gefühle zu verletzen und sie zum Weinen zu bringen. Also hatte er nichts dergleichen getan.
„Ich hab einen kleinen Rat für dich.“ Neben ihm ging Haidee. Einst eine Jägerin und Hüterin von Hass, wohnte nun die Liebe in ihr. Und das nur, weil Zacharel ihr mit jenem Tropfen von Hadrenials Essenzia das Leben gerettet hatte.
Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Sie jetzt anzusehen, tat weh. Doch er hatte gewollt, dass sie überlebte. Ihr Verlust wäre für Amun nicht zu ertragen gewesen, der Kummer des Kriegers hatte Zacharel an seinen eigenen nach Hadrenials Tod erinnert. „Die Liebe weiterzugeben“, wie die Menschen es nannten, war die einzige Möglichkeit gewesen.
„Ich brauche deine Ratschläge nicht“, beschied er ihr jetzt.
Gemeinsam stapften sie die VIP-Treppe hinab und in den Hauptraum des Clubs. Dort erwarteten sie Thane, Xerxes und Björn gemeinsam mit Axel.
Axel, ein weiterer von Zacharels Kriegern. „Hab gehört, hier geht die Party steil“, begrüßte er Zacharel mit seinem üblichen respektlosen Grinsen.
„Nur, wenn du die Folter eines Lebewesens als Party bezeichnest.“
„Äh, ist das nicht die klassische Definition?“
Bis Jamila gefunden war, würde dieser Mann an ihre Stelle treten. Vielleicht nicht unbedingt die weiseste Wahl, dachte Zacharel jetzt.
Konzentrier dich. Bürde war mit Dolchen an die Wand genagelt. Jemand hatte ihm ein Stoffknäuel in den Mund gestopft, doch sein wachsamer Blick sprach Bände. Er hasste Zacharel und hätte alles gegeben, um ihn zu töten.
Bald würde Bürde selbst sterben wollen. Dämonen konnten nicht getötet werden, wenn sie von einem Menschen Besitz ergriffen hatten, doch einer der Nachteile dieser Daseinsform war, dass sie körperlich waren. Mit allen Verletzlichkeiten, die das mit sich brachte. Nur zu leicht konnte man sie fesseln – und sie spürten Schmerz. Eine Menge Schmerz.
„Moment noch“, sagte Haidee und trat vor Zacharel, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Ich hab beschlossen, dir diesen Rat trotzdem zu geben, denn ich bin dir was schuldig. Und bevor du beschließt, an meinen Worten zu zweifeln, was ich auch sage, verrate ich dir, dass Amun Annabelles Gedanken gelesen hat.“
Amun, Hüter der Geheimnisse. Er konnte sprechen, doch tat er es nicht, weil dann all die Geheimnisse, die er ausgegraben hatte, unaufhaltsam von seinen Lippen strömen würden.
„Du hast Annabelles Geist keinen Schaden zugefügt?“, fragte Zacharel drohend. Amun konnte mehr als bloß Gedanken lesen, seien es menschliche oder übermenschliche. Er war in der Lage, Erinnerungen zu stehlen, sie aus ihren Wirten herauszureißen.
Der Krieger schüttelte den Kopf – und zeigte ihm dann den Mittelfinger. Dafür brauchte es keinen Übersetzer. Dem Krieger gefiel es nicht, dass Zacharel seine Ehre infrage gestellt hatte.
„Dann sag, was auch immer du mir sagen willst, Haidee, aber fass dich kurz.“ Finster sah Zacharel auf sie hinab.
Sie legte ihm die Hände an die Wangen. „Ich kann Amuns Gedanken lesen, was bedeutet, dass ich weiß, was er weiß. Und was er weiß, ist: Deine Frau muss wissen, dass sie zu den wichtigsten Dingen in deinem Leben gehört. Definitiv wichtiger als dein Job. Ihr Bruder hat sich von ihr abgewandt, und ihr Freund hat sie fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Sie hat schon so lange keine bedingungslose Liebe mehr erfahren, dass du sie vernichten würdest, wenn du sie behältst, ohne dich an sie zu binden.“
„Ich habe mich an sie gebunden“, protestierte er. Nach dem, was sie im Bett miteinander getan hatten, hatte er sich mehr als an sie gebunden. Er hatte beschlossen, sie zu behalten. „Außerdem ist sie stark. Niemand könnte …“ Ich könnte, begriff er. In ihren verletzlichsten Momenten hatte sie ihm vertraut – bis er sie allein gelassen hatte. Das hätte sie nicht getan, wenn nicht ihr Herz dahintergestanden hätte. Sie war dabei, sich in ihn zu verlieben, genau, wie er sich in sie verliebte.
Wenn er nicht vorsichtig mit ihr umging, würde er ihr tieferes Leid zufügen als jemals jemand zuvor, gebunden oder nicht.
„Ich werde über deine Worte nachdenken.“
„Gut. Tu’s nicht und ich verkuppel sie mit Kane. Oder Torin. Ich mag sie, und die Jungs brauchen beide eine gute Frau, die …“
Zacharel schnappte mit den Zähnen in ihre Richtung, bevor er über die Tanzfläche zu seinen Männern und ihrem Gefangenen marschierte.
Wie ich sehe, haben die Herren sich für dich in die Schlacht geworfen, kommentierte Thane in seinem Kopf.
„Es gibt keinen Grund mehr, unsere Worte zu verbergen“, erwiderte er laut. „Amun kann sowieso hören, was wir denken.“
Entsetzen senkte sich über die Züge von Thane, Björn und Xerxes. Axel wackelte mit den Augenbrauen und raunte Amun zu: „Gefällt dir, was du hörst? Ich denk extra spezielle Gedanken, nur für dich.“
Amun runzelte die Stirn.
Bevor eine neue Schlacht ausbrechen konnte, erklärte Zacharel: „Amun wird nicht spionieren, und solange ihr eure Gedanken leer haltet, wird er nichts hören.“
Schließlich nickte Amun, um seine Worte zu bestätigen.
Einer nach dem anderen taten drei der Männer es ihm nach, auch wenn es nur ein winziges, steifes Neigen ihrer Köpfe war. Axel warf Haidee eine Kusshand zu.
Na toll. „Also. Lasst uns erledigen, wozu wir hergekommen sind.“ Zacharel streckte die Hand aus und zog Bürde den Stofffetzen aus dem Mund.
„Du siehst genauso aus wie er“, behauptete der Dämon ohne Einleitung, selbstgefällig, so unglaublich selbstgefällig.
Lass dich nicht ködern. „Wie wer?“ Er hatte die Worte nicht zurückhalten können, obwohl er die Antwort kannte. Aber der Dämon konnte es unmöglich wagen, es auszusprechen.
„Wer wohl?“
Sein Bruder. Bürde wagte es, durchblicken zu lassen, er wäre dabei gewesen, als Hadrenial gefoltert worden war. Du weißt es doch besser, als so auf einen Dämon hereinzufallen. Und jetzt konnte er an nichts mehr denken außer an die Tatsache, dass es möglich war. Hadrenial hatte nie die Namen seiner Folterer genannt.
Funken neu erwachter Wut glommen in seiner Brust auf. Wie leicht es wäre, eine Klinge in diesen verwundbaren Menschenhals zu jagen. Der Körper würde sterben, Bürde wäre frei und würde sofort wieder eingefangen und in die Hölle verfrachtet – oder getötet.
Vielleicht war es jedoch genau das, was Bürde wollte. Zacharel so lange zu reizen, bis er gewalttätig wurde, sodass der Dämon seine Geheimnisse mit ins Grab nehmen konnte.
Fragend blickte er zu Amun, der die Stirn runzelte. Seine Fähigkeit, die Wahrheit aus jemandem herauszuholen, war einer der Gründe, aus denen Zacharel speziell seine Anwesenheit erbeten hatte. Natürlich konnte Zacharel jede Lüge schmecken, doch auf diese Weise würde er sich nicht mit einem Verhör abmühen müssen. Amun konnte sich einfach in das Hirn des Dämons graben und seine Geheimnisse ans Licht zerren.
Seine Gedanken sind ein einziger Wirrwarr, signalisierte Amun. Ein wildes Durcheinander aus denen des Menschen und seinen eigenen.
„Ich muss wissen, wo er Jamila gefangen hält, eine meiner Soldatinnen. Außerdem muss ich wissen, für wen er arbeitet“, erklärte Zacharel. „Jemand hat ihm befohlen, Annabelle zu jagen und zu foltern, und ich will wissen, wer dieser Jemand ist.“
Über diesen Engel, Jamila, hat er ziemlich viel nachgedacht. Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber sie ist tot.
Obwohl er nichts als Wahrheit schmeckte, wehrte Zacharel sich dagegen. Vor zehn Minuten hat er uns ein Videobild von ihr gezeigt. Sie war am Leben.
Das ist früher aufgenommen worden. Amun klopfte ihm bedauernd auf die Schulter. Es tut mir leid, aber sie haben sie umgebracht. Ihre Verletzungen waren einfach zu schwer.
Einen Moment lang fühlte sein Herz sich an wie eine Faust, die gegen seine Rippen schlug, statt wie ein lebenswichtiges Organ. Er versuchte sich mit dem Wissen zu trösten, dass Jamilas Leiden vorüber war, doch das half nicht. Sie war tot, für immer fort, weil er es nicht geschafft hatte, sie zu beschützen.
Diese Scham, diese Schuldgefühle … das war schlimmer als Kugeln in seiner Brust. Natürlich würde die Gottheit ihn dafür bestrafen, und er würde es klaglos annehmen. Was auch immer ihm auferlegt würde, er hatte es verdient.
Ich werde seinen Kopf nach dem anderen durchforschen, seinem Anführer, bedeutete ihm Amun, aber dafür werde ich eine Weile brauchen.
Zeit war das Einzige, was Zacharel nicht hatte. Zu dem Chaos an Gefühlen, die ihn zerfraßen, gesellte sich Frustration. „Tu, was immer nötig ist – alles ist erlaubt, solange er nicht stirbt. Wenn du es herausgefunden hast, schick Lucien zu mir.“
„In der Zwischenzeit“, sagte Haidee und trat vor. Eiskristalle drangen aus ihren Poren, verwandelten sie in eine lebende Skulptur. „Werde ich meinem Mann mit Rat und Tat zur Seite stehen, darüber mach dir keine Gedanken.“
„W-was ist die?“, stammelte Bürde in plötzlichem Entsetzen.
„Sie ist genau das, was du verdienst“, knurrte Zacharel. Haidee konnte einen Dämon bis ins Innerste vereisen, und für Wesen, die in den Flammen der Hölle lebten, war das keine angenehme Erfahrung. Noch tagelang würden die Schreie von Bürde widerhallen.
Als er den Mund zum ersten Schrei öffnen wollte, strich Haidee mit den Fingerspitzen über seine Lippen. Von einem Ohr zum anderen breitete sich Eis aus, brachte ihn zum Schweigen. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre Zacharel geblieben, um zuzusehen. Diesmal entließ er seine Männer und sagte zu Amun: „Wenn du oder deine Brüder je frei von euren Dämonen sein wollt, kommt zu mir. Ich habe herausgefunden, wie ich euch da helfen kann.“
Damit marschierte er davon, um seine Frau zu holen.
Ein Ort blieb noch, an dem sie nach Antworten suchen konnten.