Während ein Tag in den nächsten überging, erinnerte Annabelle sich an die Freuden von Zacharels Wolke und befahl ein paar Waffen herbei. Man musste schließlich vorbereitet sein, vor allem, wenn einem Ärger in Form von bösartigen Monstern auf den Fersen war. Leider war weder in ihren – erschreckenderweise bereits verheilten – Händen noch sonst irgendwo auf magische Weise etwas erschienen, das einer Waffe glich. Immerhin wusste sie so, dass sie sich nicht in einer Wolke befand. Verdammt. Inzwischen hatte sie bereits jeden Winkel, jedes Möbelstück durchsucht. Doch nichts gefunden. Nicht einmal Kleidung zum Wechseln.
Jetzt klopfte sie die Wände ab, suchte nach geheimen Eingängen, durch die die Dämonen versuchen könnten, einzudringen. Nicht ein einziger Spalt war zu ertasten, als wäre die einzige Möglichkeit, diesen Ort zu betreten oder zu verlassen … Teleportation? War es das, was Koldo tat, wenn er so unvermittelt auftauchte oder verschwand?
Und warum wollte der Kerl Zacharel aus dem Himmel fernhalten? Hoffentlich hatte sie mit diesem Handel nicht einen tödlichen Fehler begangen.
Tödlich. Bei dem Gedanken kehrte ihre Aufmerksamkeit zu Zacharel zurück. Schon wieder tränkte frisches Blut sein Gewand, auf dessen reinem weißem Gewebe das Rot fast obszön wirkte. Aus dem Bad holte sie sich die letzten verbliebenen Waschlappen und eine kleine Schüssel, die sie mit Wasser füllte. Doch noch bevor sie die Sachen neben dem verletzten Engel aufgebaut hatte, war das Blut wieder verschwunden.
Wie machte er das? Schon ein paarmal war das passiert, und sie hatte gehofft, seine Wunden wären verheilt. Doch bisher hatte diese Hoffnung sich jedes Mal als falsch erwiesen. Sanft hob sie den Saum des Gewands und entblößte seine Beine – und Enttäuschung brandete in ihr auf. Sie waren immer noch überzogen mit Blutergüssen und an manchen Stellen auf Übelkeit erregende Weise verdreht. Überall hatte er tiefe Schnitte. Und sein Bauch … oh, armer Zacharel. Nein, seine Wunden waren auch diesmal nicht verheilt.
Ihre Eltern, sterbend… tot. Nicht mehr zu retten, für immer fort.
Oh nein. Damit würde sie sich nicht auseinandersetzen.
Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken. Zum Beispiel daran, dass sie zum ersten Mal seit vier Jahren ein Ziel hatte, etwas, das sie erreichen konnte, einen Plan B. Und wenn sie sich selbst gegenüber ganz ehrlich war, fühlte sie sich außerdem in gigantischem Ausmaß angezogen von einem Mann. Zacharels betörende Schönheit hypnotisierte sie. Sein Bestehen auf der Wahrheit begeisterte sie. Seine Stärke faszinierte sie. Er hatte sie beschützt, und während ihrer wenigen Unterhaltungen hatte er ihr Interesse geweckt. Besonders humorvoll war er nicht, aber sie hegte den Verdacht, dass sie ihn ein paarmal fast zum Lächeln gebracht hätte.
Ich will, dass er weiterlebt. Er war … Sie war … Sie …
… war eingeschlafen, stellte sie fest, als sie mit auf die Brust gesunkenem Kinn aufwachte. Vollkommen erschöpft postierte sie sich am Fuß des Betts, bereit, sofort aufzuspringen, sollte jemand auftauchen.
Wo bist du, Koldo? Die Stille im Raum wurde nur von ihrem rauen Atem durchbrochen. Sie verabscheute diese Stille – bis Zacharel ein ums andere Mal gequält aufstöhnte.
Sie kehrte an seine Seite zurück, redete tröstend auf ihn ein, doch sein Stöhnen wurde nur lauter. Ruhelos warf er sich hin und her, und auch wenn sein Gewand sich von allein reinigte, galt das nicht für die Decke unter ihm. Bald schwamm er praktisch in seinem eigenen Blut.
Wie viel davon konnte er noch verlieren?
„Töten“, ächzte er. „Muss sie töten.“
Die Dämonen? Wahrscheinlich. Sie hatten ihm das angetan.
„Töten.“
„Mach dir keine Sorgen. Das hast du. Du hast sie umgebracht“, sagte sie leise.
Sie hatte keinerlei medizinisches Fachwissen, keine Ahnung, wie sie Zacharel helfen sollte. Das Einzige, was sie wusste, war, dass man bei einer Blutung Druck auf die Wunde ausüben sollte. Was in diesem Fall wohl nicht helfen würde. Denn dabei würde sie direkt auf seine … sie würgte … auf seine Organe drücken und ihm womöglich noch mehr Schaden zufügen.
„Töten!“
„Das hast du, Schatz. Das hast du.“ Annabelle legte den Kunstfellmantel, den Zacharel ihr gegeben hatte, auf das Bett und streckte sich neben Zacharel darauf aus. Mit den Fingerspitzen strich sie ihm über die Stirn. Seine Haut glühte fiebrig, von der Kälte war keine Spur mehr vorhanden. Suchend drängte er sich ihrer Berührung entgegen, und sein verzerrtes Gesicht entspannte sich eine Winzigkeit.
„Muss sie retten.“
Sie – Annabelle? Darüber war sie sich nicht so sicher. „Das hast du. Du hast sie gerettet.“
„Ich … bin wieder da“, ertönte eine gebrochene Stimme vom anderen Ende des Zimmers.
Überrascht zuckte sie zusammen und schrie dann beinahe vor Entsetzen auf, als sie Koldo entdeckte. Oder das, was von ihm übrig war.
Die Hände hielt er an die Brust gedrückt, die breiten Finger schützend um etwas kleines Durchsichtiges geklammert. Vor ihren Augen brach er kraftlos in die Knie und Blut tropfte von seiner jetzt rasierten Kopfhaut. Sein Gewand war fort, ließ ihn oberkörperfrei, nur seine Beine waren von einer weiten, tief sitzenden Hose bedeckt.
Vorsichtig stieg Annabelle vom Bett und hastete dann zu ihm. „Was ist mit dir passiert?“
„Zwing … ihn … zu trinken.“ Schlaff sackten seine Arme herab und Koldo fiel vornüber zu Boden. Aus seinem gelockerten Griff rollte das kleine durchsichtige Etwas davon – eine Phiole.
Sein Rücken. Oh, gütiger Gott, sein Rücken. Kein Stück Haut war mehr übrig, nur zerfetzte Muskeln und zertrümmerte Knochen.
„Gib es … nicht … mir.“ Flatternd schlossen sich seine Lider, zu schwer, als dass er sie offen halten könnte. „Nur ihm.“
Ihr drehte sich der Magen um. Blut war sie (einigermaßen) gewohnt, wenn man bedachte, womit sie es in den vergangenen vierundzwanzig Stunden zu tun gehabt hatte, und Gewalt sowieso. Aber das … So viel in so kurzer Zeit … Wie damals … Erinnerungen überfluteten sie, ertränkten sie, vernichteten sie. Irgendwie fand sie einen rettenden Strohhalm – rette Zacharel – und kämpfte sich zurück an die Oberfläche.
Zwing ihn, zu trinken, hatte Koldo gesagt. Zitternd packte sie die Phiole und kehrte zurück zu Zacharel. Sie hatte ein bisschen Probleme mit dem Korken und zog und zerrte wie die letzte Idiotin erfolglos daran herum.
„Ist das dasselbe Zeug, das er mir gegeben hat?“ Das Zeug, das ihr vor der Heilung so grauenhafte Schmerzen zugefügt hatte?
„Ja“, bestätigte Koldo.
Endlich siegte ihr Bizeps, und der Korken ploppte heraus. Zittrig, wie sie war, verspritzte sie ein paar Tropfen über ihre Hände.
„Es tut mir leid, Zacharel“, flüsterte sie. Sie wusste nicht, wie viel ein so großer Mann wie er brauchen würde, vor allem, da er unsterblich und nicht menschlich war. Würde eine Überdosis ihm schaden oder würde zu wenig zu langsam wirken? Schließlich kippte sie ihm das halbe Fläschchen in den Mund.
Ein Moment verstrich, dann ein weiterer, doch nichts geschah.
Na ja, was hast du denn erwartet? Er –
Mit einem markerschütternden Brüllen verkrampfte sich sein Körper, die Schultern und Füße in die Matratze gepresst, der Rest so durchgebogen, dass er nicht einmal mehr die Decke berührte. Hart rammte er die Fäuste an das Kopfteil des Betts, wo das Holz krachend nachgab. Er schlug so wild auf die Matratze ein, dass Annabelle zu Boden geschleudert wurde, wobei noch mehr der Flüssigkeit aus der Phiole spritzte, die sie immer noch in den Händen hielt. Sein Brüllen verwandelte sich in ein langgezogenes Heulen.
Sie rappelte sich auf, erwartete, seine Wunden jede Sekunde verheilen zu sehen, doch … Er warf sich weiter wild hin und her, blutete, schrie.
Weißglühende Wut loderte in ihr auf. Nichts als Asche blieb zurück. Kein Wunder, dass Koldo ihr gesagt hatte, sie sollte ihm selbst nichts von der Flüssigkeit geben. Es war Gift! Und wie dumm war sie gewesen, ihm zu vertrauen? Dafür würde sie …
So plötzlich Zacharel sich aufgebäumt hatte, so schnell kam er zur Ruhe, sank auf dem Bett zusammen. Er stieß einen leisen Seufzer aus. Vor ihren Augen rückten Knochen zurück an ihren angestammten Platz. Haut fügte sich nahtlos zusammen, bis nicht ein einziger blauer Fleck oder Kratzer zurückblieb. Mit großen Augen blickte sie das Fläschchen in ihrer Hand an. Was war das für ein Zeug?
„Das Wasser des Lebens.“ Ruckartig setzte Zacharel sich auf, musterte seine Umgebung, schien mit einem Blick alles aufzunehmen. „Wo ist es?“
„Du bist geheilt.“ Ungehindert brachen die Worte sich Bahn, schossen auf den Wogen des Schocks aus ihr heraus.
Smaragdfarbene Augen fanden sie, so klar wie die Flüssigkeit – das Wasser des Lebens? – und ohne die geringste Spur von Schmerz. Wieder besaß er ein Antlitz wie aus Träumen gemacht und von Fantasien verfeinert, so betörend, wie kein Sterblicher es sich je erhoffen könnte.
Ihr stockte der Atem. Jetzt erhitzte etwas anderes als Zorn ihr Blut. Sie wollte vor Freude singen und sich ihm in die Arme werfen. Sie wollte tanzen und jubeln über dieses unglaubliche Wunder. Sie wollte … mehr, als sie sich eingestehen würde.
„Du hast überlebt“, stellte er fest.
Jegliche Emotion war wie fortgewischt aus seiner Stimme. Kein Hinweis darauf, wie er sich fühlte. „Ja. Deinetwegen. Also … Danke. Was, das weiß ich, kein angemessener Lohn ist für das, was du für mich getan hast. Du hast mir das Leben gerettet, hast den vollen Aufprall auf dich genommen, um mich zu schützen, und alles, was ich dir geben kann, sind Worte. Es tut mir leid.“ Sie brabbelte, sie wusste, dass sie brabbelte, aber sie konnte nicht aufhören. „Wenn ich mehr hätte, ich würde es dir sofort geben.“
„Ich würde gern sagen, es sei mir ein Vergnügen gewesen. Ja, das würde ich gern sagen, aber der Aufprall hat wehgetan.“
Gerade so schluckte sie ein Lachen hinunter. „Hast du gerade einen Witz gemacht?“
„Einen Witz, wo ich doch nichts als die Wahrheit ausgesprochen habe?“ Er wedelte mit den Fingern in ihre Richtung. „Das Wasser des Lebens“, wiederholte er. „Gib es mir.“
„Oh. Hier.“ Hastig hielt sie ihm die Phiole hin.
Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Langsam, ganz vorsichtig, befreite er das Fläschchen aus ihrem Klammergriff. „Wer hat dir das gegeben?“
„Koldo.“
Ein Aufflackern puren Schocks, das selbst der stoische Zacharel nicht verbergen konnte.
Oh-oh. Hatte der Krieger irgendeine Art Regel gebrochen? „Aber ich übernehme die volle Verantwortung“, fügte sie hinzu. „Ich hab ihn darum gebeten. Deshalb sollte jegliche Strafe über mich verhängt werden.“ Koldo hatte sich mehr als eingesetzt für sie und Zacharel. Sie war ihm etwas schuldig, und ihrem neuen Motto zufolge würde sie es ihm zurückzahlen.
„Wo ist er?“
Sosehr sie Zacharel auch mochte, so viel sie ihm auch verdankte: Sie kannte ihn nicht, nicht wirklich. Sie würde ihm den anderen Typen nicht einfach zum Fraß vorwerfen. „Was willst du mit ihm machen?“
Unter seinem Auge zuckte ein Muskel. „Einem Mann, der mir geholfen hat, würde ich keinen Schaden zufügen, falls es das ist, worauf du hinauswillst.“
Hm, ja, darauf hätte sie von allein kommen sollen. Sie schluckte und wies auf den Krieger, der immer noch bewusstlos am Boden lag. „Ich hab ihm auch keinen Schaden zugefügt. Er ist so zurückgekommen.“
Zacharel erhob sich, das Gewand fiel ihm wieder bis zu den Füßen. Dann steckte er den Korken zurück auf den Flaschenhals, und einen Moment später war das ganze Ding verschwunden.
Sie konnte sich nicht zurückhalten: „Wie hast du das gemacht?“ Und was hatte er gemacht?
„Ich habe die Phiole in einer Luftfalte versteckt, die ich nun zwingen werde, mir überallhin zu folgen.“ Sorgfältig auf Abstand bedacht, als wäre sie plötzlich giftig, trat er an ihr vorbei.
Schon klar. Er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Und meine Gefühle sind nicht verletzt. Was war schon eine weitere Zurückweisung? Sie war ein Freak, eine Mörderin, ein verrücktes Mädchen, das Monster sah – das hatten ihr zumindest tausend Leute erzählt. Dann hatte sie eben die letzten paar Stunden damit verbracht, sich um das Wohlergehen dieses Mannes zu sorgen, na und? Eines Mannes, der die Wahrheit über sie kannte. Eines Mannes, der sie vorher beschützt hatte. Woher der plötzliche Sinneswandel?
Zischend sog er den Atem ein, als er sich neben dem verwundeten Mann niederkniete und die Hand über seinen frisch geschorenen Schädel gleiten ließ. „Wie konntest du zulassen, dass sie dir dein Haar nehmen, Krieger? Warum?“
Die zweite Frage hätte sie vermutlich beantworten können, doch sie hatte Koldo versprochen, die Einzelheiten ihres Deals niemals offenzulegen. Also schwieg sie. Allerdings hätte sie gern gewusst, warum die plötzliche Kahlheit seines Freundes Zacharel mehr mitnahm als der Zustand seines Rückens.
Weil beide Männer durch und durch Krieger waren? Weil physischer Schmerz für sie von geringer Bedeutung war, weil sie schon so viel davon durchgemacht hatten? Weil es schlimmer als jede Wunde war, etwas zu verlieren, das wertvoll für sie war, wie Koldos Haar es für ihn gewesen sein musste?
Und ja, sie wusste, dass ihm sein Haar kostbar gewesen war. Die kunstfertig eingeflochtenen Perlen waren ein deutlich sichtbarer Beweis für die Zeit und Sorgfalt gewesen, die er jeder einzelnen Strähne gewidmet haben musste.
„Ich kenne ihn erst seit drei Monaten, doch das Erste, was ich über ihn gelernt habe, war, wie teuer ihm sein Haar war. In all den Jahrhunderten seines Lebens hatte er es nicht ein einziges Mal schneiden lassen“, erzählte Zacharel, und Trauer färbte seine Stimme. „Nicht einmal die Spitzen. Ich weiß nicht, warum, aber nach dem, was die Gottheit mir über ihn erzählt hat, vermute ich, es hatte etwas mit seinem Vater zu tun.“
So viele Fragen purzelten in ihrem Kopf umher. „Seinem Vater? Engel werden geboren?“
„Manche der Engel unserer Gottheit wurden … werden geboren, ja, aber einige wurden in voller Lebensgröße erschaffen und ihr vom Höchsten zur Verfügung gestellt.“
„Was ist mit dir?“
„Ich wurde geboren.“ Vorsichtig hob er Koldo auf seine Arme. Mit weichen, genau abgezirkelten Schritten trug er dieses Tier von einem Mann zum Bett und legte ihn bäuchlings hinein. Wieder achtete er peinlich darauf, Annabelle nicht zu berühren. „Sein Haar wird nie nachwachsen, wusstest du das?“
„Aber warum?“
„Ein Opfer wurde dargebracht und akzeptiert. Würde sein Haar nachwachsen, hätte sein Opfer keine Bedeutung.“
Und ich habe ihn darum gebeten. Schwer senkte sich die Schuld auf ihre Schultern, zwang sie beinahe in die Knie. „Bist du dir sicher?“
„Nicht vollkommen, nein. Aber ich kenne den Rat. So funktioniert das bei uns.“
Also dann. „Trotzdem werde ich das als Grund zur Hoffnung sehen, dass sein Haar wieder nachwachsen wird. Jetzt aber zu etwas anderem: Er hat mir gesagt, ich soll ihm nichts von dem … Wasser geben“, sagte sie, „aber es würde ihm doch bestimmt helfen. Seine Schmerzen lindern.“
„Es jetzt zu trinken, würde ihn auf grausamste Art und Weise zerstören. Es ist uns nicht erlaubt, uns selbst mit dem Wasser des Lebens zu heilen, wenn die erlittenen Wunden von einer Mission herrühren, das Wasser zu erhalten. Es ist nicht einmal gestattet, dass andere Engel während des Heilungsprozesses in irgendeiner Weise helfen.“
Armer Koldo. „Er ist ein Engel?“
„Ja. Er hat seine Flügel schon vor langer Zeit verloren.“
„Und jetzt auch noch sein Haar.“ Tränen brannten ihr hinter den Augen. Kein Wunder, dass Zacharel nicht den Wunsch verspürte, mit ihr in Berührung zu kommen. Sie war eine Bedrohung. Sie zerstörte jedes Leben, mit dem sie in Kontakt kam. So war es immer gewesen.
Wieder strich Zacharel mit den Fingern über den blutigen Skalp. Koldos Kopf war nicht rasiert worden, begriff sie. Es sah vielmehr so aus, als wären ihm die Haare in einem Stück ausgerissen worden. „Er wird dich hassen, wenn du ihn bemitleidest“, erklärte er. Eine Warnung, die für sie beide galt?
Koldo hatte etwas ganz Ähnliches über Zacharel gesagt. Wenn diese beiden nicht aufpassten, würde ihr Stolz sie noch um das schönste Gruppenkuscheln bringen. „Nein, das wird er nicht, denn er wird es nie erfahren. Falls du uns hier rausbringen kannst, meine ich. Ich kann hier nicht bleiben. Ich bin schon so lange hier, und die Dämonen …“ Koldo war nicht in der Verfassung, jetzt gegen sie zu kämpfen.
„… werden dich finden, und es wäre besser, wenn sie Koldos geheime Zuflucht nicht entdeckten“, beendete er den Satz für sie.
„Genau.“
„Egal wie stark deine Anziehungskraft auf die Dämonen auch sein mag, sie hätten dich in meiner Wolke nicht finden dürfen. Hätten nicht kommen dürfen, um dich zu holen.“
„Was genau zieht sie denn an?“ In der Anstalt hatte er von Hass gesprochen, von Lügen und dem Drang zur Gewalt. Aber seitdem hatte sie ihr Bestes gegeben, sich nur auf die guten Dinge zu konzentrieren.
„Was ich dir bei unserer ersten Begegnung gesagt habe, gilt immer noch“, erwiderte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Aber du bist ein Sonderfall. Du trägst die Essenzia des Dämons am Leib, der dich gezeichnet hat, und diese Essenzia strahlt von dir aus.“
Überrascht blinzelte sie. Eine so einfache Antwort – und gleichzeitig so erschütternd. Es gab nichts, was sie tun konnte, um aufzuhören, eine Essenzia auszustrahlen, die sie nicht einmal wahrnahm. „Wie hat er mich gezeichnet?“
Steif ging Zacharel zu einer Kommode und wühlte in den Schubladen herum, bis er schließlich ein Gewand hervorzog.
Alles in ihr schrie nach Antworten, und sie konnte sich gerade so davon abhalten, ihn bei den Schultern zu packen und zu schütteln. „Sag schon! Er hat mich geküsst und abgeleckt, aber ich muss schon vorher mit ihm in Kontakt gekommen sein, denn meine Augen haben sich davor verändert. Und meine Augen, wie du einmal die Güte hattest mir mitzuteilen, sind dämonisch.“
Er sagte nichts.
Also fuhr sie fort. „Am Morgen des Mordes haben sie sich angefühlt, als hätte sie jemand blutig geschrubbt und mit Bleiche übergossen. Danach sind meine Eltern … dieser erste Dämon …“ Sie räusperte sich. „Ich verstehe nicht, warum er aufgetaucht ist. Ich hatte Geburtstag und gerade einen wunderschönen Traum gehabt. Es hätte ein perfekter Tag werden müssen.“
Zacharel versteifte sich. „Einen Traum?“
„Ja.“
„Erinnerst du dich noch daran?“
„Natürlich. Ich hab ihn mir unzählige Male durch den Kopf gehen lassen.“ Weil sie hatte herausfinden wollen, was damit nicht stimmte. Anfangs hatte sie ihn herrlich gefunden. Doch je öfter sie die Szene vor ihrem inneren Auge ablaufen ließ, desto mehr war ihr aufgefallen, dass irgendetwas daran … seltsam gewesen war.
„Erzähl mir davon.“
„Ein ultraheißer Prinz Charming hat mich vor feuerspeienden Drachen gerettet und mich gefragt, ob ich ihm helfen wollte. Ich hab Ja gesagt. Er sagte ‚Ich liebe dich und will mit dir zusammen sein‘, und ich hab geantwortet ‚Wie romantisch‘. Dann hat er gefragt ‚Willst du meine Frau werden‘, und ich hab ‚Ja‘ gesagt. Darauf kam von ihm ‚Wir sind eins‘. Und dann bin ich unter unfassbaren Schmerzen aufgewacht.“
Zacharel fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Der Prinz war der Dämon. Er hat dich hereingelegt, damit du zustimmst, seine Gemahlin zu werden.“
„Ach Quatsch. Das war bloß ein Traum.“ Ein Traum, der sie über Jahre nicht losgelassen hatte …
„Nein, du hast nur geglaubt, es wäre ein Traum. Er hat deine Gedanken verwirrt, im Schlaf warst du ihm ausgeliefert. Als er dich gefragt hat, ob du seine Frau werden willst, und du Ja gesagt hast, bist du seine Sklavin geworden.“
„Aber das ist … Ich wollte doch nicht … würde nie … So was geht?“, piepste sie.
„Wenn ein Mensch es mit sich machen lässt, dann ja.“
„Aber … woher hätte ich denn wissen sollen, was wirklich los war?“
„Das hättest du, wäre dir beigebracht worden, Lüge und Wahrheit zu unterscheiden.“ Als er wieder vor ihr stand, zog er ihr das Gewand über den Kopf. „Damit du warm und sauber bleibst.“ Unförmig hing der Stoff an ihr herab, die Ärmel flatterten ihr um die Finger und der Saum lag in Falten auf dem Boden.
„Möchtest du die Ledersachen ausziehen?“, schlug er vor.
„Ja.“ Unter dem Schutz der Robe schaffte sie es mit etwas Drehen und Winden, sich aus den dreckigen, unbequemen Kleidern zu befreien.
Als sie fertig war, bemerkte sie, dass ihre Haut prickelte, als würden Hunderte von Schmetterlingen ihren gesamten Körper abtupfen. Ein sehr merkwürdiges Gefühl, und sie war sich nicht sicher, ob es an dem Gewand lag oder an Zacharels Nähe.
Er befreite ihr Haar aus dem Kragen und strich dabei mit den Fingern über ihren Nacken. Ein Schauer überlief sie. Seine Nähe. Definitiv seine Nähe.
Diesmal zuckte er nicht wie erwartet zurück, sondern ließ seine Finger auf ihrer Haut ruhen und murmelte: „Weich.“
Tja, wer hätte das gedacht. Er war wohl doch nicht so abgeneigt, sie zu berühren, wie sie angenommen hatte. „Warum hast du vorhin jede Berührung mit mir vermieden?“, lenkte sie das Gespräch vom Thema Dämonen fort. Sie brauchte dringend eine Denkpause. „Und versuch jetzt nicht, mir zu erzählen, das wäre nicht absichtlich gewesen. Du hast dich förmlich verrenkt, um Abstand zu halten – den Trick hab ich erfunden, um mir die anderen Patienten vom Leib zu halten.“
„Wenn du bei mir bist, verliere ich alles Wichtige aus den Augen“, grollte er.
Alles Wichtige, hatte er gesagt. Was bedeutete, dass sie es nicht war. Wie charmant. „Du bist so romantisch“, murmelte sie und wischte seine Hand weg. „Du hast Glück, dass ich nicht eins von diesen Mädchen bin, die gleich in Tränen ausbrechen, wenn man sie beleidigt.“
„Das war keine Beleidigung.“ Er runzelte die Stirn, und auch wenn sie wusste, dass diese pulsierende Sinnlichkeit in seinem Ausdruck nicht seine Absicht war … Die fehlende Kühle löste in ihr genau das aus, ein erotisches Pochen, in dem sich Wollen und Begierde ineinandermischten. „Und ich hege keinerlei romantische Absichten in deine Richtung.“
„Glaub mir, das ist mir klar.“
Sein Stirnrunzeln vertiefte sich, als er einen Schritt zurücktrat. „Willst du, dass ich dich umwerbe?“
Ja. „Nein.“ Im Moment bist du auf Männer nicht gerade gut zu sprechen, weißt du noch? Nicht mal auf sexy Engel.
„Dann also zurück zum Thema.“ Zacharel räusperte sich, und selbst darin vibrierte seine angeborene Sinnlichkeit. „Wir müssen den Dämon töten, der dich für sich beansprucht hat.“
Da waren sie wieder, die Dämonen. Ende der Denkpause.
„Als du zugestimmt hast, seine Sklavin zu werden“, fuhr er fort, „hast du ihm die Erlaubnis erteilt, alles mit dir zu machen, was er will. Wenn er jedoch stirbt, wird seine Essenzia sich verflüchtigen. Die anderen, die niederen Dämonen, werden das Interesse an dir verlieren.“
„Also … muss die Gejagte zur Jägerin werden?“
„Exakt. Wenn wir das nicht schaffen, wirst du niemals Frieden finden.“
Moment. „Du hast gesagt ‚wir‘.“
„Ja.“
„Du bist bereit, mir zu helfen?“ Er hatte versprochen, sie zu trainieren, ja, aber hier ging es um mehr als Training. Das war echter Einsatz für eine Angelegenheit, die ihn nicht wirklich betraf.
„Ja“, wiederholte er.
Tiefe Dankbarkeit ergriff Besitz von ihr. „Ich bin dir etwas schuldig, nicht andersherum. Warum solltest du …“ Sie presste die Lippen aufeinander. Wenn sie so weitermachte, würde sie es ihm noch ausreden. „Danke. Einfach … danke.“
„Gern geschehen. Wenn du erst frei von seiner Essenzia bist, kannst du ein langes, glückliches Leben führen, ganz für dich allein. Ich behaupte nicht, dass es nie wieder stürmisch werden wird; diese Dinge gehören zum Leben dazu. Aber eine Katastrophe wie diese wirst du nicht noch einmal erleben.“
Und schon erkannte sie die Antwort auf ihre nicht zu Ende gestellte Frage. Zacharel wollte frei von ihr sein. Das tat weh, aber sie würde sich nicht beschweren. Hilfe war Hilfe, egal, was der Grund dafür war.
„Ich weiß, dass du schon weit mehr als deine Pflicht tust, aber ich brauche noch etwas von dir“, murmelte sie und blickte auf ihre Füße. „Würdest du … äh, na ja, verbringst du den nächsten Monat mit mir zusammen … außerhalb des Himmelreichs? Außer natürlich, du musst kämpfen. Ohne weitere Fragen zu stellen?“
Schweigen.
Ein wirklich ausdauerndes Schweigen.
Sie sah auf.
In Zacharels Augen mischten sich Zorn und Lust.
Warum Zorn? Und, wo sie schon dabei war, warum Lust?
Spielt keine Rolle.
„Bitte“, fügte sie hinzu.
„Ich werde nicht fragen, warum du mich aus dem Himmel fernhalten willst. Das ist nicht nötig. Ich weiß, wie Engel denken, und kann es mir vorstellen. Aber ich will wissen, ob du verhandelt hast“, fügte er scharf hinzu.
„Was denn verhandelt?“, fragte sie und versuchte es mit Ahnungslosigkeit. Aber … Augenblick mal. Eine Sache, die sie sowohl von Zacharel als auch von Koldo gelernt hatte? Wenn man eine Frage nicht beantworten wollte und die Ablenkungstaktik nicht funktionierte, stellte man einfach selbst eine Forderung. „Vergiss es. Du wirst den nächsten Monat an meiner Seite verbringen.“
„Sonst was?“ Einen Herzschlag später stand er vor ihr, die Hand wieder um ihren Nacken gelegt. Genauso schnell zog er sie näher zu sich, bevor sie sich wehren oder protestieren konnte.
„Sonst… äh … passiert etwas so Furchtbares, dass ich es nicht mal aussprechen kann!“
„Eine Lüge. Gar nichts wirst du tun. Aber nun gut. Ich werde dir trotzdem antworten – und ich werde dir einen Monat meiner Zeit schenken.“ Seidenweich sprach er die Worte, nachsichtig und stahlhart zugleich. „Aber es wird dich etwas kosten. Du siehst, ich weiß, wie man verhandelt.“