Drittes Kapitel
»Ist Monsieur Vigot bei dir gewesen?« fragte Phuong.
»Ja. Er ging vor einer Viertelstunde fort. War der Film gut?« Sie hatte bereits im Schlafzimmer das Tablett hergerichtet, und eben zündete sie das Lämpchen an.
»Er war sehr traurig«, sagte sie. »Aber die Farben waren wunderschön. Was wollte Monsieur Vigot?«
»Er wollte mir einige Fragen stellen.«
»Worüber?«
»Über dies und jenes. Ich glaube nicht, daß er mich nochmals belästigen wird.«
»Ich mag am liebsten Filme mit einem Happy-End«, erklärte Phuong, »Bist du zum Rauchen bereit?«
»Ja.« Ich legte mich auf das Bett, und Phuong ging mit der Nadel an die Arbeit. Sie sagte: »Sie köpften eine junge Frau.«
»Ein merkwürdiges Vorgehen.«
»Es war in der Französischen Revolution.«
»Ach, ein historischer Film. Ich verstehe.«
»Trotzdem war er sehr traurig.«
»Ich kann für Leute aus der Geschichte kein rechtes Mitgefühl aufbringen.«
»Und ihr Geliebter – er ging in seine Dachkammer zurück und er war sehr unglücklich, und er schrieb ein Lied – weißt du, er war ein Dichter, und bald sangen all die Leute, die seiner Geliebten den Kopf abgehackt hatten, dieses Lied. Es war die Marseillaise.«
»Das klingt nicht sehr historisch«, bemerkte ich.
»Er stand am Rande der Menschenmenge, während sie sangen, und er sah sehr verbittert aus, und wenn er lächelte, wußte man, daß er noch mehr verbittert war und daß er an seine Geliebte dachte. Ich mußte schrecklich weinen, und meine Schwester auch.«
»Deine Schwester? Das kann ich nicht glauben.«
»Oh, sie ist sehr empfindsam. Granger, dieser widerliche Kerl, war auch da. Er war betrunken und lachte in einem fort. Aber es war gar nicht lustig. Traurig war es.«
»Man kann es ihm nicht verübeln«, sagte ich. »Er hat Grund zum Feiern. Sein Sohn ist außer Gefahr. Das hörte ich heute im ›Continental‹. Auch mir ist ein Happy-End lieber.«
Nachdem ich zwei Pfeifen geraucht hatte, lehnte ich mich zurück, den Nacken auf dem ledernen Kissen, und legte die Hand in Phuongs Schoß. »Bist du glücklich?«
»Natürlich«, sagte sie unbekümmert. Ich hatte keine besser überlegte Antwort verdient.
»Es ist wieder genauso«, log ich, »wie vor einem Jahr.«
»Ja.«
»Du hast dir schon lange keinen Schal gekauft. Warum gehst du nicht morgen einkaufen?«
»Morgen ist ein Feiertag.«
»Ach ja, richtig, das habe ich ganz vergessen.«
»Du hast dein Telegramm noch nicht geöffnet«, sagte Phuong.
»Nein. Auch das habe ich völlig vergessen. Ich möchte heute abend nicht an die Arbeit denken. Überdies ist es zum Einreichen eines Telegramms schon zu spät. Komm, erzähle mir noch etwas über den Film.«
»Also, der Geliebte versuchte, sie aus dem Gefängnis zu befreien. Er schmuggelte Männerkleider und eine Kappe hinein, die genauso aussah wie die des Kerkermeisters. Doch als sie gerade durch das Gefängnistor hinausgehen wollte, fiel ihr langes Haar herunter, und die anderen schrien: ›Une aristocrate! Une aristocrate!‹ Ich glaube, das war ein Fehler in der Handlung. Man hätte sie entkommen lassen sollen. Dann hätten die beiden mit seinem Lied eine Menge Geld verdient und wären ins Ausland gegangen, nach Amerika – oder nach England«, setzte sie, wie sie meinte, schlau hinzu.
»Ich werde das Telegramm lieber doch lesen«, sagte ich. »Hoffentlich muß ich nicht morgen nach dem Norden fliegen. Ich hätte es gern geruhsam mit dir.«
Sie holte den Umschlag zwischen ihren Cremetiegeln hervor und reichte ihn mir. Ich öffnete ihn und las: »Habe über Deinen Brief nochmals nachgedacht stop ich handle vernunftwidrig, wie Du es hofftest stop Rechtsanwalt angewiesen, Scheidungsklage einzureichen stop Grund böswilliges Verlassen stop Gott segne Dich Helen.«
»Mußt du fort?«
»Nein«, sagte ich, »ich muß nicht fort. Ich lese es dir vor. Das ist dein Happy-End.«
Sie hüpfte vom Bett herab. »Das ist ja wundervoll. Ich muß gleich zu meiner Schwester und es ihr erzählen. Sie wird so froh sein. Ich werde zu ihr sagen: ›Weißt du, wer ich bin? Ich bin die zweite Mrs. Fowler.«
Im Bücherschrank mir gegenüber stand »Die Rolle des Westens« so beherrschend wie ein Porträtfoto – das eines jungen Mannes mit Bürstenhaarschnitt, gefolgt von einem schwarzen Hund. Er konnte niemandem mehr etwas zuleide tun. »Vermißt du ihn sehr?« fragte ich Phuong.
»Wen?«
»Pyle.« Seltsam, wie es mir sogar jetzt, sogar Phuong gegenüber unmöglich war, ihn beim Vornamen zu nennen.
»Kann ich gehen, bitte? Meine Schwester wird ganz aufgeregt sein.«
»Du hast einmal im Schlaf seinen Namen genannt.«
»Ich kann mich an meine Träume niemals erinnern.«
»Ihr hättet so vieles zusammen unternehmen können. Er war jung.«
»Du bist nicht alt.«
»Die Wolkenkratzer. Das Empire State Building …«
Sie zögerte kurz, dann sagte sie: »Ich möchte die Cheddarschlucht sehen.«
»Die ist nicht der Grand Canyon.« Ich zog sie zu mir aufs Bett herab. »Es tut mir leid, Phuong.«
»Was tut dir leid? Das ist doch ein herrliches Telegramm. Meine Schwester …«
»Ja, geh schon und sag es deiner Schwester. Aber zuerst küß mich!« Ihr aufgeregter Mund glitt mir hastig über das Gesicht, und schon war sie fort.
Ich dachte an den ersten Tag, und wie Pyle damals an meinem Tisch im »Continental« gesessen hatte, den Blick hinüber auf die Milchbar gerichtet. Seit seinem Tod war mir alles geglückt. Doch wie sehr wünschte ich, daß jemand existierte, dem ich hätte sagen können, wie leid es mir tat.
März 1952 – Juni 1955