Erstes Kapitel

 

Pyle hatte sich selbst zu einem Drink eingeladen, wie er es nannte; ich wußte aber sehr wohl, daß er eigentlich nicht trank. Jetzt, nach Ablauf mehrerer Wochen, schien jenes phantastische Zusammentreffen in Phat Diem kaum glaublich: Sogar die Einzelheiten unserer damaligen Gespräche hatte ich nur noch undeutlich in Erinnerung. Sie ähnelten den fehlenden Buchstaben auf einem römischen Grabstein, und ich einem Archäologen, der die Lücken der Inschrift entsprechend seiner wissenschaftlichen Ausrichtung ausfüllt. Ich kam sogar auf den Gedanken, daß Pyle mich zum besten gehalten hatte und daß unsere Unterhaltung eine sorgsam ausgeklügelte und humorvolle Tarnung seiner wahren Absichten gewesen war. Denn in Saigon klatschte man bereits darüber, daß er sich in einem jener Dienste betätigte, die unbegreiflicherweise als geheim bezeichnet wurden. Vielleicht bereitete er amerikanische Waffenlieferungen für eine »Dritte Kraft« vor – für die Blaskapelle des Bischofs, den letzten Rest seines jugendlichen, verängstigten und unbesoldeten Aufgebots. Das Telegramm, das mich in Hanoi erwartet hatte, behielt ich in der Tasche. Es hatte keinen Sinn, Phuong davon zu erzählen, denn dies hätte nur die wenigen Monate, die wir noch vor uns hatten, mit Tränen und Streitereien vergiftet. Selbst meine Ausreiseerlaubnis wollte ich mir erst im letzten Augenblick besorgen, für den Fall, daß sie bei der Einwanderungsbehörde einen Verwandten hatte.

»Pyle kommt um sechs«, sagte ich zu ihr.

»Dann werde ich zu meiner Schwester gehen«, erwiderte sie.

»Nein, bleib hier, ich glaube, er möchte dich gerne sehen.«

»Er mag weder mich noch meine Familie. Während du fort warst, besuchte er meine Schwester nicht ein einziges Mal, obwohl sie ihn eingeladen hatte. Sie war sehr gekränkt.«

»Du brauchst wirklich nicht wegzugehen.«

»Wenn er mich hätte sehen wollen, hätte er uns beide ins ›Majestic‹ eingeladen. Er will mit dir allein sprechen – über das Geschäft.«

»Was für ein Geschäft hat er?«

»Es heißt, er importiert eine ganze Menge Dinge.«

»Was für Dinge?«

»Drogen, Medikamente …«

»Die sind für die Trachom-Bekämpfung im Norden bestimmt.«

»Möglich. Die Zollbeamten dürfen die Sendungen nicht öffnen. Sie sind Diplomatengepäck. Aber einmal kam ein Irrtum vor – der Mann wurde entlassen. Der Erste Sekretär der Gesandtschaft drohte, alle Einfuhren zu stoppen.«

»Was war in der Kiste?«

»Kunststoff.«

»Du meinst nicht etwa Bomben?«

»Nein. Nur Kunststoff.«

Als Phuong gegangen war, schrieb ich einen Brief nach Hause. Ein Mann von Reuter reiste in wenigen Tagen nach Hongkong und konnte den Brief dort aufgeben. Ich wußte, daß mein Appell aussichtslos war, aber ich wollte mir nicht später den Vorwurf machen, daß ich nicht alles unternommen hatte, was in meiner Macht stand. Ich schrieb dem Chefredakteur, daß dies ein ungünstiger Augenblick zur Ablösung des Korrespondenten sei. General de Lattre liege in Paris im Sterben; die Franzosen dächten daran, sich ganz aus Hoa Binh zurückzuziehen; nie sei der Norden in größerer Gefahr gewesen als gerade jetzt. Ich eignete mich nicht zum Auslandsredakteur, schrieb ich ihm – ich war Berichterstatter, ich hatte über nichts eine wirkliche Meinung. Auf der letzten Seite meines Briefes führte ich sogar persönliche Gründe ins Treffen, obwohl es unwahrscheinlich war, daß sich unter den grellen Lampen, inmitten der grünen Augenschirme und der stereotypen Phrasen – »das Interesse des Blattes«, »Die Situation fordert …« – irgendein menschliches Mitgefühl halten konnte.

Ich schrieb: »Aus rein privaten Gründen bin ich sehr unglücklich darüber, daß ich von Vietnam wegversetzt werde. Ich glaube nicht, daß ich in England, wo ich nicht nur finanzielle, sondern auch familiäre Schwierigkeiten haben würde, mein Bestes für unsere Zeitung zu geben imstande wäre. Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich sogar lieber auf meinen Posten verzichten als nach Großbritannien zurückkehren. Dies erwähne ich nur, um zu zeigen, wie stark meine Einwände sind. Ich glaube sagen zu dürfen, daß Sie mit meiner Arbeit als Korrespondent nicht unzufrieden gewesen sind; und dies ist die erste Gefälligkeit, um die ich Sie bitte.« Dann sah ich meinen Artikel über die Schlacht von Phat Diem durch, damit ich ihn mit dem Brief und aus Hongkong datiert an die Zeitung absenden konnte. Die Franzosen würden jetzt keinen ernsthaften Einspruch erheben – die Belagerung war aufgehoben worden: Eine Niederlage konnte als Sieg ausposaunt werden. Dann zerriß ich die letzte Seite meines Briefs an den Chefredakteur. Es war zwecklos – die »privaten Gründe« würden nur zu schlüpfrigen Witzen Anlaß geben. Jeder Korrespondent besaß, so wurde angenommen, an Ort und Stelle eine Freundin. Der Chefredakteur würde mit dem Nachtredakteur witzeln, und dieser wiederum würde den Gedanken voll Neid in seine Vorstadtvilla heimtragen und damit zu seiner treuen Gattin ins Bett steigen, die noch aus seiner Jahre zurückliegenden Glasgower Zeit stammte. Ich konnte mir das Haus, das kein Mitleid kennt, so gut vorstellen: In der Diele stand ein beschädigtes Dreirad, und irgend jemand hatte seine Lieblingspfeife zerbrochen; im Wohnzimmer wartete ein Kinderhemd auf einen fehlenden Knopf. »Private Gründe«: wenn ich im Presseklub trank, wollte ich nicht durch Witze an Phuong erinnert werden.

Es klopfte. Ich öffnete Pyle die Tür, und noch vor ihm kam sein schwarzer Hund herein. Pyle blickte über meine Schulter ins Zimmer und fand es leer. »Ich bin allein«, sagte ich. »Phuong ist bei ihrer Schwester.« Er errötete. Ich bemerkte, daß er ein Hawaii-Hemd trug, wenngleich dieses in Farbe und Muster verhältnismäßig zurückhaltend war. Das überraschte mich: Hatte man ihm etwa unamerikanisches Verhalten vorgeworfen? Pyle sagte: »Ich hoffe, ich störe nicht …«

»Aber keineswegs! Einen Drink?«

»Ja, bitte. Könnte ich Bier haben?«

»Leider. Wir haben keinen Kühlschrank – wir lassen uns das Eis immer holen. Wir wär’s mit einem Whisky?«

»Nur einen ganz kleinen, wenn ich bitten darf. Ich habe nicht viel übrig für harte Getränke.«

»Eiswürfel?«

»Bitte, und reichlich Soda – wenn Sie genug davon haben.«

Ich sagte: »Wir haben uns seit Phat Diem nicht mehr gesehen.«

»Haben Sie meinen Brief bekommen, Thomas?«

Als er mich jetzt mit dem Vornamen anredete, war es gewissermaßen wie eine Erklärung, daß er nicht im Scherz gesprochen, daß er nicht eine andere Tätigkeit getarnt hatte, daß er vielmehr hier war, um Phuong zu bekommen. Ich bemerkte, daß sein Bürstenschnitt frisch gestutzt war; erfüllte vielleicht auch das Hawaii-Hemd die Aufgabe eines männlichen Prachtgefieders?

»Ich habe Ihren Brief bekommen«, antwortete ich, »ich nehme an, ich sollte Sie niederschlagen.«

»Natürlich, Thomas«, sagte er. »Sie haben jedes Recht dazu. Aber ich war Boxer im College – und ich bin um vieles jünger als Sie.«

»Nein, ich würde unklug handeln, nicht wahr?«

»Wissen Sie, Thomas, es gefällt mir nicht, daß wir hinter Phuongs Rücken über sie reden, und ich bin sicher, Sie denken ebenso. Ich dachte, sie würde hier sein.«

»Nun, worüber sollen wir sprechen – über Kunststoff?« Ich hatte nicht die Absicht gehabt, ihn so zu überrumpeln.

Er sagte: »Sie wissen davon?«

»Phuong hat es mir erzählt.«

»Wie konnte sie nur …«

»Sie können versichert sein, daß es Stadtgespräch ist. Was ist denn so wichtig daran? Verlegen Sie sich etwa auf das Spielwarengeschäft?«

»Wir haben es nicht gern, wenn die Einzelheiten unseres Hilfsprogramms die Runde machen. Sie wissen ja, wie der Kongreß ist – und dann kommen diese Senatoren zu Besuch angereist. Wegen unserer Trachom-Teams hatten wir schon eine Unmenge Scherereien, weil sie statt eines bestimmten Medikaments ein anderes verwendeten.«

»Aber die Sache mit dem Kunststoff begreife ich noch immer nicht.«

Sein schwarzer Hund saß auf dem Boden, hechelnd, und nahm viel zuviel Platz ein; seine Zunge sah wie ein verbrannter Pfannkuchen aus. Pyle sagte vage: »Ach, wissen Sie, wir wollen einigen einheimischen Industrien auf die Beine helfen, und wir müssen uns dabei vor den Franzosen in acht nehmen. Die wollen, daß alles in Frankreich gekauft wird.«

»Daraus mache ich ihnen keinen Vorwurf. Zum Kriegführen braucht man Geld.«

»Haben Sie Hunde gern?«

»Nein.«

»Ich dachte, die Briten seien große Hundeliebhaber.«

»Und wir glauben, die Amerikaner lieben Dollars, aber es muß wohl Ausnahmen geben.«

»Ich weiß nicht, was ich ohne Herzog täte. Wissen Sie, manchmal fühle ich mich so verdammt einsam …«

»Sie haben doch eine Menge Kameraden in Ihrer Abteilung.«

»Der erste Hund, den ich hatte, hieß Prinz. Ich nannte ihn so nach dem Schwarzen Prinzen. Sie kennen ihn ja, den Mann, der …«

»Sämtliche Frauen und Kinder in Limoges niedermetzeln ließ.«

»Das ist mir nicht bekannt.«

»Ja, die Geschichtsbücher gehen diskret darüber hinweg.«

Noch oft sollte ich diesen Ausdruck von Schmerz und Enttäuschung in seinen Augen und um seinen Mund sehen, wenn die Wirklichkeit seinen romantischen Vorstellungen widersprach, oder wenn ein Mensch, den er liebte oder bewunderte, unter das unerreichbar hohe Niveau herabsank, das er festgesetzt hatte. Ich entsinne mich, daß ich bei York Harding einmal einen groben sachlichen Fehler entdeckte, und ich mußte Pyle trösten: »Irren ist schließlich nur menschlich.« Er hatte nervös gelacht und gesagt: »Sie halten mich wahrscheinlich für einen Narren, aber – nun, ich hielt ihn eigentlich für unfehlbar.« Er fügte hinzu: »Mein Vater traf ihn ein einziges Mal; da war er sehr von ihm eingenommen, und mein Vater ist verflixt schwer zufriedenzustellen.«

Der große schwarze Hund namens Herzog, der schon lange genug gehechelt hatte, um eine Art Rechtsanspruch auf die Luft hier zu erwerben, begann jetzt im Zimmer umherzuschnüffeln. »Könnten Sie Ihrem Hund befehlen, still zu sein?« sagte ich.

»Ach, entschuldigen Sie. Herzog. Herzog. Setz dich, Herzog.« Herzog setzte sich und begann sich geräuschvoll die Geschlechtsteile zu lecken. Ich füllte unsere Gläser, wobei es mir im Vorübergehen gelang, Herzog in seiner Toilette zu stören. Die Ruhe währte nicht lange. Bald begann er sich zu kratzen.

»Herzog ist furchtbar intelligent«, sagte Pyle.

»Was geschah eigentlich mit Prinz?«

»Wir waren auf der Farm in Connecticut, und dort wurde er überfahren.«

»Ging es Ihnen nahe?«

»Freilich war ich sehr traurig. Er hat mir eine Menge bedeutet, aber schließlich muß man vernünftig sein. Nichts hätte ihn mir wiedergeben können.«

»Und wenn Sie Phuong verlieren, werden Sie dann auch vernünftig sein?«

»O ja, ich hoffe es. Und Sie?«

»Ich möchte es bezweifeln. Ich könnte sogar zum Amokläufer werden. Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht, Pyle?«

»Nennen Sie mich doch Alden, Thomas.«

»Lieber nicht. Der Name Pyle hat für mich – gewisse Assoziationen. Also, haben Sie darüber schon einmal nachgedacht?«

»Natürlich nicht. Sie sind der anständigste Kerl, der mir je begegnet ist. Wenn ich mich daran erinnere, wie Sie sich verhielten, als ich plötzlich hereinplatzte …«

»Ich erinnere mich, daß ich knapp vor dem Einschlafen daran dachte, wie vorteilhaft es wäre, wenn jetzt ein Angriff erfolgte und Sie dabei umkämen. Heldentod. Für die Demokratie.«

»Machen Sie sich nicht über mich lustig, Thomas.« Er rückte unruhig mit seinen langen Beinen. »Ich muß Ihnen wohl ein bißchen doof vorkommen, aber ich merke es, wenn Sie Scherze machen.«

»Ich mache keine Scherze.«

»Ich weiß, daß Sie nur Phuongs Bestes wollen, wenn Sie es ehrlich eingestehen.«

In diesem Augenblick vernahm ich Phuongs Schritte auf der Treppe. Ich hatte gegen alle Wahrscheinlichkeit gehofft, daß Pyle bereits fort sein würde, wenn sie zurückkam. Auch er hörte ihre Schritte und erkannte sie. »Da ist sie ja!« sagte er, obwohl er nur einen einzigen Abend gehabt hatte, um sich ihren Gang einzuprägen. Sogar der Hund erhob sich und stellte sich zur Tür, die ich zur Kühlung offengelassen hatte, fast, als hätte er sie als Mitglied von Pyles Familie anerkannt. Ich war der Eindringling.

»Meine Schwester war nicht daheim«, sagte Phuong und blickte vorsichtig zu Pyle hinüber.

Ich fragte mich, ob sie die Wahrheit sprach, oder ob ihr die Schwester befohlen hatte, schleunigst wieder zurückzukommen.

»Du erinnerst dich an Monsieur Pyle?« sagte ich.

»Enchantée.« Sie war die Höflichkeit selbst.

»Ich bin so froh, Sie wiederzusehen«, sagte er errötend.

»Comment?«

»Ihr Englisch ist nicht sehr gut«, sagte ich.

»Und mein Französisch ist verheerend. Ich nehme aber jetzt Unterricht und kann schon verstehen – wenn Phuong nur langsam spricht.«

»Ich werde den Dolmetscher spielen«, sagte ich. »An den hiesigen Akzent muß man sich erst gewöhnen. Also, was wollen Sie sagen? Setz dich, Phuong. Monsieur Pyle ist eigens deinetwegen hergekommen. Sind Sie auch ganz sicher«, wandte ich mich an Pyle, »daß es Ihnen nicht lieber wäre, ich ließe Sie mit ihr allein?«

»Nein, ich möchte, daß Sie alles hören, was ich zu sagen habe. Sonst wäre es nicht fair.«

»Nun, dann schießen Sie los!«

Feierlich, als ob er diesen Teil seiner Ansprache auswendig gelernt hätte, erklärte er, daß er für Phuong große Liebe und Achtung empfinde. Er habe dies seit jenem Abend gefühlt, als er mit ihr getanzt hatte. Er erinnerte mich ein wenig an einen Butler, der eine Gesellschaft von Touristen durch ein großes Schloß führt. In Pyles Fall war das Schloß sein Herz, und in die Privatgemächer, wo die Familie wohnte, durften wir nur einen kurzen und verstohlenen Blick werfen. Ich übersetzte alles mit peinlicher Genauigkeit – so klang es noch übler; und Phuong saß still daneben, die Hände im Schoß gefaltet, als sitze sie im Kino.

»Hat sie das verstanden?« fragte Pyle.

»Soweit ich es beurteilen kann, ja. Sie wünschen nicht, daß ich in Ihre Worte ein bißchen Feuer hineinlege?«

»O nein«, antwortete er. »Übersetzen Sie bloß. Ich möchte sie nicht durch Gefühle beeinflussen.«

»Ich verstehe.«

»Sagen Sie ihr, daß ich sie heiraten möchte.«

Ich sagte es ihr.

»Was hat sie geantwortet?«

»Sie hat mich gefragt, ob Sie im Ernst sprechen. Darauf sagte ich ihr, daß Sie von der ernsten Sorte wären.«

»Es ist schon eine verrückte Situation – daß ich Sie bitte, für mich zu übersetzen«, sagte er.

»Ziemlich verrückt.«

»Und doch erscheint es mir natürlich. Schließlich sind Sie mein bester Freund.«

»Nett, daß Sie das sagen.«

»Es gibt niemanden, an den ich mich in der Not lieber wenden würde als an Sie«, sagte er.

»Und ich vermute, Ihre Liebe zu meiner Freundin ist eine Art Notlage.«

»Natürlich. Ich wollte, es wäre jemand anders als Sie, Thomas.«

»Nun, was soll ich ihr als nächstes sagen? Daß Sie ohne sie nicht leben können?«

»Nein, das wäre zu emotional. Und es entspricht auch nicht ganz der Wahrheit. Ich müßte natürlich von hier fortgehen. Aber man kommt schließlich über alles hinweg.«

»Während Sie also nachdenken, was Sie sagen wollen, dürfte ich für mich selbst ein Wort einlegen?«

»Aber selbstverständlich. Das ist nur recht und billig.«

»Nun, Phuong«, sagte ich, »willst du mich verlassen und zu ihm gehen? Er wird dich heiraten. Ich kann es nicht. Du weißt, warum.«

»Gehst du denn fort?« fragte sie, und ich mußte an den Brief des Chefredakteurs in meiner Tasche denken.

»Nein.«

»Niemals?«

»Wie kann man das versprechen? Auch Pyle kann es nicht. Ehen gehen auseinander. Sie zerbrechen oft schneller als eine Affäre wie die unsere.«

»Ich mag nicht gehen«, erwiderte sie, doch der Satz klang nicht tröstlich; er enthielt ein unausgesprochenes Aber.

Pyle sagte: »Ich glaube, ich sollte alle meine Karten auf den Tisch legen. Ich bin nicht reich. Aber wenn mein Vater stirbt, dann habe ich ungefähr fünfzigtausend Dollar. Ich bin gesund – darüber besitze ich ein ärztliches Attest, das erst zwei Monate alt ist, und ich kann sie über meine Blutgruppe informieren.«

»Ich weiß nicht, wie ich das übersetzen soll. Wozu dient es denn?«

»Nun, damit wir die Gewißheit haben, daß wir miteinander Kinder haben können.«

»Ist das die Art, wie man in Amerika eine Liebeserklärung macht – Bezifferung des Einkommens und der Blutgruppe?«

»Das weiß ich nicht, ich habe das noch nie gemacht. Daheim würde vielleicht meine Mutter mit ihrer Mutter sprechen.«

»Über Ihre Blutgruppe?«

»Spotten Sie nicht, Thomas. Ich bin wahrscheinlich altmodisch. Wissen Sie, ich fühle mich ein wenig hilflos in dieser Situation.«

»Ich auch. Meinen Sie nicht, daß wir das Ganze abblasen und um sie würfeln sollten?«

»Jetzt spielen Sie den Herzlosen, Thomas. Ich weiß doch, daß Sie sie auf Ihre Art genau so sehr lieben wie ich.«

»Also, dann reden Sie weiter, Pyle.«

»Sagen Sie ihr, ich erwarte nicht, daß sie mich gleich liebt. Das kommt schon mit der Zeit. Aber sagen Sie ihr, was ich ihr anbiete, ist Sicherheit und Respekt. Das klingt nicht sehr aufregend, aber vielleicht ist es besser als Leidenschaft.«

»Leidenschaft kann sie sich jederzeit beschaffen«, sagte ich, »mit Ihrem Chauffeur, während Sie im Büro sind.«

Pyle wurde puterrot. Unbeholfen erhob er sich und rief: »Das ist ein dreckiger Witz! Ich lasse sie nicht beleidigen. Sie haben kein Recht …«

»Sie ist noch nicht Ihre Frau.«

»Was können Sie ihr bieten?« fragte er mich wütend. »Ein paar hundert Dollar, wenn Sie nach England abfahren. Oder werden Sie sie mit der Wohnungseinrichtung weitergeben?«

»Die Wohnungseinrichtung gehört nicht mir.«

»Das Mädchen auch nicht. Phuong, willst du mich heiraten?«

»Was ist mit der Blutgruppe?« sagte ich. »Und mit dem Gesundheitszeugnis? Sie werden sicherlich eines von ihr brauchen. Vielleicht sollten Sie meines auch haben. Und ihr Horoskop – aber nein, das ist ein indischer Brauch.«

»Willst du mich heiraten?«

»Sagen Sie es auf französisch«, sagte ich. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich noch irgendwas für Sie übersetze.«

Ich stand auf, und der Hund knurrte. Es machte mich wütend. »Sagen Sie Ihrem verdammten Herzog, er soll still sein. Das ist meine Wohnung, nicht seine.«

»Willst du mich heiraten?« wiederholte Pyle. Ich machte einen Schritt auf Phuong zu, und der Hund knurrte wieder.

Ich sagte zu Phuong: »Sag ihm, er soll verschwinden und seinen Köter mitnehmen.«

»Geh mit mir fort«, sagte Pyle. »Avec moi.«

»No«, sagte Phuong, »no.« Plötzlich wich der Zorn von uns beiden; so einfach war das ganze Problem – durch ein Wort von zwei Buchstaben zu lösen. Ich empfand ein Gefühl ungeheurer Erleichterung. Pyle stand mit halboffenem Mund und einem Ausdruck vollkommener Ratlosigkeit im Gesicht vor uns. Er sagte: »Sie hat gesagt ›no‹.«

»Soviel Englisch kann sie.« Plötzlich war mir zum Lachen zumute: Was für einen Narren hatte doch jeder von uns aus dem anderen gemacht. »Setzen Sie sich, Pyle, und trinken Sie noch einen Whisky.«

»Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.«

»Nur einen – für den Heimweg.«

»Ich darf doch nicht Ihren ganzen Whisky austrinken«, murmelte er.

»Ich bekomme soviel ich will von der Gesandtschaft.« Ich bewegte mich zum Tisch, und der Hund fletschte die Zähne.

Pyle fuhr ihn wütend an: »Leg dich, Herzog! Und benimm dich!« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Es tut mir schrecklich leid, Thomas, wenn ich irgend etwas Ungehöriges gesagt habe. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.« Er nahm sein Glas und sagte wehmütig: »Der Bessere gewinnt. Ich bitte Sie nur um das eine, Thomas: Verlassen Sie sie nicht.«

»Selbstverständlich werde ich sie nicht verlassen«, sagte ich.

»Will er vielleicht eine Pfeife rauchen?« fragte mich Phuong.

»Wollen Sie eine Pfeife rauchen?«

»Nein, danke, Opium rühre ich nicht an; außerdem haben wir im diplomatischen Dienst sehr strenge Vorschriften. Ich trinke nur das hier aus, und dann gehe ich. Es tut mir leid wegen Herzog. Gewöhnlich ist er sehr ruhig.«

»Bleiben Sie doch zum Abendessen.«

»Falls es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich jetzt lieber allein sein, glaube ich.« Er grinste verlegen. »Außenstehende würden wahrscheinlich sagen, daß wir beide uns recht sonderbar benommen haben. Ich wollte, Sie könnten sie heiraten, Thomas.«

»Wollen Sie das tatsächlich?«

»Ja. Seit ich damals dieses Haus sah – Sie wissen, das Haus unmittelbar neben dem ›Chalet‹, habe ich solche Angst.«

Ohne Phuong anzusehen, stürzte er schnell den ungewohnten Whisky hinunter, und als er sich verabschiedete, berührte er ihre Hand nicht, sondern machte nur eine linkische, eckige kleine Verbeugung. Ich beobachtete, wie Phuongs Blick ihn bis zur Tür verfolgte. Als ich am Spiegel vorbeikam, sah ich mich selbst: den obersten Knopf meiner Hose offen, den Anfang eines Bauchs. Draußen sagte er: »Ich verspreche Ihnen, daß ich sie nicht besuchen werde, Thomas. Das hier soll uns nicht in die Quere kommen, nicht wahr? Ich werde um Versetzung ansuchen, sowie meine Dienstzeit hier beendet werden kann.«

»Wann wird das sein?«

»In ungefähr zwei Jahren.«

Ich ging ins Zimmer zurück und dachte: Was für einen Zweck hat das Ganze? Ich hätte den beiden ebensogut sagen können, daß ich fortgehe. – Pyle brauchte dann sein blutendes Herz nur ein paar Wochen lang als Dekoration herumzutragen … Meine Lüge würde sogar sein Gewissen erleichtern.

»Soll ich dir eine Pfeife richten?« fragte Phuong.

»Ja, in einem Augenblick. Ich möchte nur noch einen Brief schreiben.«

Es war der zweite Brief, den ich an diesem Tag schrieb, aber jetzt zerriß ich kein Blatt davon, obwohl ich genau so wenig Hoffnung auf eine günstige Antwort hatte. Ich schrieb: »Liebe Helen! Im April werde ich nach England zurückkehren, um den Posten des Auslandsredakteurs zu übernehmen. Du kannst Dir vorstellen, daß ich darüber nicht sehr glücklich bin. England ist für mich der Schauplatz meiner Niederlage. Ich hatte den festen Vorsatz gehabt, unserer Ehe Bestand zu geben, genauso, wie wenn ich Deinen christlichen Glauben geteilt hätte. Bis zum heutigen Tag bin ich mir nicht klar geworden, was eigentlich schiefging (ich weiß, daß wir beide uns bemüht haben), ich glaube, es lag an meinem Temperament. Mir ist wohl bewußt, wie grausam und böse ich sein kann. Jetzt ist es ein bißchen besser – das verdanke ich dem Osten. Ich bin nicht sanfter geworden, aber ruhiger. Vielleicht liegt es auch einfach daran, daß ich fünf Jahre älter geworden bin – in jenem Lebensalter, wo fünf Jahre einen beträchtlichen Anteil jener Zeit ausmachen, die einem noch verbleibt. Du bist stets sehr großmütig gewesen und hast mir seit unserer Trennung niemals Vorwürfe gemacht. Könntest Du noch ein wenig großmütiger sein? Ich weiß sehr wohl, daß Du mich vor unserer Heirat gewarnt hast, es könne nie eine Scheidung geben. Damals nahm ich dieses Risiko auf mich und kann mich deshalb heute nicht beklagen. Dennoch bitte ich Dich jetzt, in eine Scheidung einzuwilligen.«

Phuong rief vom Bett, daß sie das Tablett mit der Pfeife bereit habe.

»Einen Augenblick!« sagte ich.

»Ich könnte diese Bitte irgendwie einkleiden«, schrieb ich weiter, »und sie ehrenhafter und würdiger erscheinen lassen, indem ich vorgebe, daß ich sie im Interesse eines anderen Menschen vorbringe. Doch dies ist nicht der Fall, und wir beide haben einander stets die Wahrheit gesagt. Es geschieht für mich, und nur für mich allein. Ich liebe eine andere Frau sehr. Seit über zwei Jahren leben wir zusammen. Sie ist mir treu ergeben gewesen; aber ich weiß, daß ich für sie nicht unentbehrlich bin. Wenn ich sie verlasse, dann wird sie eine Weile ein bißchen unglücklich sein, nehme ich an, aber es wird keine Tragödie geben. Sie wird einen anderen Mann heiraten und Kinder haben. Es ist dumm von mir, Dir das alles zu sagen, weil ich Dir damit die Antwort geradezu in den Mund lege. Doch weil ich bisher streng bei der Wahrheit geblieben bin, wirst Du mir vielleicht glauben, wenn ich Dir sage, daß der Verlust dieser Frau für mich den Anfang des Todes bedeuten würde. Ich bitte Dich nicht, ›vernünftig‹ zu sein – die Vernunft steht ganz auf Deiner Seite –, oder barmherzig. ›Barmherzigkeit‹ ist für meine Lage ein viel zu großes Wort, und gerade ich verdiene sie wohl auch nicht. Worum ich Dich vermutlich wirklich bitte, ist, daß Du Dich plötzlich vernunftwidrig, in Widerspruch zu Deinem Charakter verhältst. Ich möchte, daß Du« (ich zögerte vor dem Wort und traf dann doch nicht das Richtige) »Zuneigung empfindest und handelst, ehe Du Zeit zum Nachdenken hast. Ich weiß, das wäre am Telefon leichter als über eine Entfernung von achttausend Seemeilen. Wenn Du mir doch nur das eine Wort ›Einverstanden‹ kabeln wolltest!«

Als ich fertig war, hatte ich ein Gefühl, als wäre ich eine weite Strecke gelaufen und hätte dabei ungeübte Muskeln beansprucht. Ich legte mich aufs Bett, während Phuong meine Pfeife fertig machte. »Er ist jung«, sagte ich.

»Wer?«

»Pyle.«

»Das ist nicht so wichtig.«

»Ich würde dich heiraten, Phuong, wenn ich könnte.«

»Das meine ich auch, aber meine Schwester glaubt es nicht.«

»Ich habe gerade an meine Frau geschrieben und sie gebeten, sich von mir scheiden zu lassen. Das habe ich bisher noch nie versucht. Es besteht also immerhin eine Chance.«

»Eine große Chance?«

»Nein, aber eine kleine doch.«

»Mach dir jetzt keine Sorgen. Rauche.«

Ich sog den Rauch ein, während sie meine zweite Pfeife vorzubereiten begann. »Phuong, war deine Schwester wirklich nicht zu Hause?« fragte ich sie.

»Ich sagte es dir bereits – sie war ausgegangen.« Es war töricht, sie dieser zügellosen Wahrheitssucht auszusetzen, einer Sucht des Westens wie die Sucht nach Alkohol. Durch den Whisky, den ich mit Pyle getrunken hatte, wurde die Wirkung des Opiums abgeschwächt. Ich sagte: »Ich log dich vorhin an, Phuong. Ich bin nach England beordert worden.«

Sie legte die Pfeife hin. »Aber du wirst nicht hingehen?«

»Wovon werden wir leben, wenn ich mich weigere?«

»Ich könnte mit dir fahren. Ich möchte gern London sehen.«

»Es wäre für dich dort sehr ungemütlich, wenn wir nicht verheiratet wären.«

»Aber vielleicht wird sich deine Frau scheiden lassen.«

»Vielleicht.«

»Ich fahre auf jeden Fall mit dir«, sagte sie. Sie meinte es ernst, doch ich sah am Ausdruck ihrer Augen, wie dahinter eine lange Kette von Gedanken begann, während sie die Pfeife wieder zur Hand nahm und sich anschickte, das Opiumkügelchen zu erhitzen. Sie sagte: »Gibt es in London Wolkenkratzer?«, und ich liebte sie ob der Unschuld ihrer Frage. Sie mochte aus Höflichkeit lügen, aus Angst, selbst aus Gewinnsucht, doch nie hätte sie die Schläue besessen, ihre Lügen zu verbergen.

»Nein, um die zu sehen, mußt du schon nach Amerika fahren.«

Über die Nadel hinweg warf sie mir einen schnellen Blick zu und erkannte ihren Fehler. Während sie das Opium knetete, begann sie dann aufs Geratewohl über die Kleider zu plaudern, die sie in London tragen würde, wo wir wohnen sollten, schwatzte von der Untergrundbahn, von der sie in einem Roman gelesen hatte, und von den zweistöckigen Autobussen. Würden wir hinfliegen oder mit dem Schiff reisen? »Und die Freiheitsstatue …«, sagte sie.

»Nein, Phuong, die ist auch amerikanisch.«