Erstes Kapitel

 

Ich hatte Phuong Geld für einen Kinobesuch mit ihrer Schwester gegeben, um völlig ungestört zu sein. Ich selbst ging mit Dominguez zum Dinner aus, kam aber rechtzeitig in meine Wohnung zurück und wartete bereits, als Vigot kurz vor zehn erschien. Er entschuldigte sich, daß er keinen Drink nahm – er sei zu müde, meinte er, und ein Drink würde ihn einschläfern; er habe einen sehr langen Tag hinter sich.

»Mord und plötzlicher Tod?«

»Nein. Kleine Gelegenheitsdiebstähle. Und ein paar Selbstmorde. Diese Leute sind leidenschaftliche Spieler, und wenn sie alles verloren haben, bringen sie sich um. Wenn ich gewußt hätte, wieviel Zeit ich in Leichenschauhäusern verbringen muß, wäre ich vielleicht nicht Polizeibeamter geworden. Ich kann den Geruch von Ammoniak nicht ausstehen. Nun, vielleicht trinke ich doch ein Glas Bier.«

»Ich habe leider keinen Kühlschrank.«

»Zum Unterschied vom Leichenschauhaus. Dürfte ich dann um einen kleinen englischen Whisky bitten?«

Mir fiel die Nacht ein, in der ich mit ihm in die Totenhalle hinuntergestiegen war, wo man Pyles Leichnam wie ein Tablett mit Eiswürfeln aus der Kühlanlage hervorgezogen hatte.

»Sie fahren also nicht nach Hause?« fragte er.

»Sie haben das überprüft?«

»Ja.«

Ich streckte ihm das Glas Whisky hin, damit er sehen konnte, wie ruhig meine Nerven waren. Dabei sagte ich: »Vigot, möchten Sie mir nicht erklären, weshalb Sie glauben, daß ich an Pyles Ermordung beteiligt war? Ist es eine Frage des Motivs? Etwa, weil ich Phuong zurückhaben wollte? Oder bilden Sie sich ein, daß es Rache war, weil ich sie verloren habe?«

»Nein. So dumm bin ich nicht. Man nimmt sich nicht das Buch seines Feindes als Andenken mit. Dort drüben steht es in Ihrem Bücherschrank. ›Die Rolle des Westens‹. Wer ist dieser York Harding?«

»Er ist der Mann, den Sie suchen, Vigot. Er tötete Pyle – aus der Ferne.«

»Das begreife ich nicht.«

»Er ist eine verbesserte Ausgabe eines Journalisten – diplomatische Korrespondenten nennen sich solche Leute. Er greift eine Idee auf und fälscht dann jede Situation so um, daß sie zu seiner Idee paßt. Pyle kam hierher, erfüllt von York Hardings Idee. Harding war einmal eine ganze Woche hier, auf seinem Weg von Bangkok nach Tokio. Pyle beging den Fehler, Hardings Idee in die Praxis umzusetzen. Harding schrieb von einer Dritten Kraft. Pyle bildete eine solche – einen schäbigen kleinen Banditenhäuptling mit zweitausend Mann und ein paar gezähmten Tigern. Er hat sich hier eingemischt.«

»Sie tun das niemals, nicht wahr?«

»Ich habe mich bemüht, es nicht zu tun.«

»Das ist Ihnen aber mißlungen, Fowler.« Aus irgendeinem Grund fielen mir plötzlich Hauptmann Trouin und die Ereignisse jener Nacht im Opiumhaus von Haiphong ein, die jetzt schon viele Jahre zurückzuliegen schienen. Was hatte doch Trouin damals gesagt? Daß wir alle früher oder später im Augenblick einer heftigen Gemütsbewegung Partei ergreifen und hineingezogen werden. »Sie hätten einen guten Priester abgegeben, Vigot. Was haben Sie an sich, daß es einem so leicht fallen würde, Ihnen zu gestehen – wenn es etwas zu gestehen gäbe?«

»Ich wollte niemals irgendwelche Geständnisse haben.«

»Sie haben Sie aber bekommen?«

»Hin und wieder.«

»Liegt es vielleicht daran, daß es wie bei einem Priester Ihre Aufgabe ist, nicht schockiert zu sein, sondern Verständnis zu zeigen? ›Monsieur Flic, ich muß Ihnen genau erzählen, warum ich der alten Dame den Schädel eingeschlagen habe.‹ ›Ja, Gustave, laß dir nur Zeit und sag mir, warum du es getan hast.‹«

»Sie haben eine wunderliche Phantasie, Fowler. Sagen Sie, trinken Sie nichts?«

»Für einen Verbrecher ist es bestimmt nicht ratsam, mit einem Polizeioffizier zu bechern, nicht wahr?«

»Ich habe nie behauptet, daß Sie ein Verbrecher sind.«

»Aber angenommen, der Alkohol löst sogar in mir den Wunsch aus, ein Geständnis abzulegen, was dann? In Ihrem Beruf gibt es doch kein Beichtgeheimnis.«

»Geheimhaltung ist für jemanden, der beichtet, selten von großer Wichtigkeit, selbst wenn er einem Priester beichtet. Er hat andere Beweggründe.«

»Etwa den Wunsch, sich zu reinigen?«

»Nicht immer. Manchmal möchte er sich nur selbst mit aller Klarheit so sehen, wie er ist. Manchmal ist er bloß der Täuschung überdrüssig. Sie sind kein Verbrecher, Fowler. Dennoch möchte ich wissen, warum Sie mich belogen haben. Sie sahen Pyle am Abend seines Todes.«

»Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?«

»Ich habe nicht einen Augenblick lang angenommen, daß Sie ihn töteten. Sie hätten sich kaum eines rostigen Bajonetts bedient.«

»Rostig?«

»Das sind so die Einzelheiten, die wir durch eine Obduktion ermitteln. Doch ich sagte Ihnen schon, daß die Stiche nicht die Todesursache waren. Der Schlamm von Dakow.« Er streckte sein Glas aus für einen weiteren Whisky. »Lassen Sie mich jetzt einmal überlegen. Um sechs Uhr zehn nahmen Sie einen Drink im ›Continental‹, stimmt das?«

»Ja.«

»Und um sechs Uhr fünfundvierzig unterhielten Sie sich mit einem anderen Journalisten am Eingang des ›Majestic‹?«

»Ja, mit Wilkins. Das alles habe ich Ihnen doch schon längst erzählt in jener Nacht, Vigot.«

»Richtig. Inzwischen habe ich Ihre Aussagen überprüft. Es ist bewundernswert, wie Sie sich solche belanglose Einzelheiten merken.«

»Ich bin Reporter, Vigot.«

»Vielleicht stimmen die Zeitangaben nicht ganz genau, aber niemand könnte es Ihnen übelnehmen, nicht wahr, wenn Sie sich hier um eine Viertelstunde und dort um zehn Minuten geirrt hätten. Sie hatten ja keine Veranlassung, anzunehmen, daß es einmal auf die verschiedenen Zeitpunkte ankommen würde. Im Gegenteil: wie verdächtig würde es wirken, wenn Sie in allen Ihren Angaben auf die Minute genau gewesen wären.«

»War ich das nicht?«

»Nicht ganz. Es war fünf Minuten vor sieben, als Sie sich mit Wilkins unterhielten.«

»Schon wieder zehn Minuten!«

»Natürlich. Wie ich es schon sagte. Und es hatte eben erst sechs geschlagen, als Sie ins ›Continental‹ kamen.«

»Meine Uhr geht immer ein bißchen vor«, sagte ich. »Wie spät ist es jetzt auf Ihrer Uhr?«

»Zehn Uhr acht.«

»Und auf meiner ist es zehn Uhr achtzehn. Sehen Sie.«

Er nahm sich nicht die Mühe, nachzusehen. Er sagte: »Dann betrug also der Fehler in der Berechnung des Zeitpunkts, zu dem Sie nach Ihrer Angabe mit Wilkins sprachen, volle fünfundzwanzig Minuten – nach Ihrer Uhr. Das ist ein ganz bedeutender Irrtum, nicht wahr?«

»Vielleicht korrigierte ich die Zeit ganz unbewußt. Vielleicht hatte ich an diesem Tag gerade meine Uhr zurückgestellt. Das tue ich bisweilen.«

»Was mich interessiert«, sagte Vigot, – »könnte ich noch ein wenig Soda haben? Sie haben ihn diesmal ziemlich stark gemacht – ist die Tatsache, daß Sie mir gar nicht böse sind. Es ist nicht gerade angenehm, so ausgefragt zu werden, wie ich Sie ausfrage.«

»Ich finde es interessant, wie einen Krimi. Außerdem wissen Sie ja, daß ich Pyle nicht ermordete – Sie haben es selbst gesagt.«

»Ich weiß, daß Sie beim Mord nicht anwesend waren«, sagte Vigot.

»Mir ist nicht klar, was Sie durch den Nachweis, daß ich mich hier um zehn und dort um fünf Minuten verrechnet habe, beweisen wollen.«

»Es ergibt einen kleinen Spielraum«, erwiderte Vigot, »eine kleine Lücke in der Zeit.«

»Eine Lücke – wozu?«

»Für einen Besuch Pyles bei Ihnen.«

»Warum legen Sie solchen Wert darauf, das nachzuweisen?«

»Wegen des Hundes«, sagte Vigot.

»Und des Schmutzes zwischen seinen Zehen?«

»Es war nicht Schmutz. Es war Zement. Sehen Sie, während der Hund in jener Nacht Pyle begleitete, trat er irgendwo in feuchten Zement. Es fiel mir ein, daß im Erdgeschoß Ihres Hauses Maurer an der Arbeit waren – sie sind noch immer dort. Als ich vorhin zu Ihnen heraufkam, ging ich an ihnen vorüber. Hierzulande arbeiten sie bis spät in die Nacht hinein.«

»Ich möchte nur wissen, in wie vielen Häusern Maurer zu finden sind – und feuchter Zement. Hat sich einer von ihnen an den Hund erinnert?«

»Natürlich fragte ich sie danach. Aber selbst wenn sich die Leute daran erinnert hätten, würden sie es mir nicht gesagt haben. Ich bin die Polizei.« Er brach ab, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte auf das Glas in seiner Hand. Ich hatte das Gefühl, daß ihm irgendeine Analogie eingefallen und er mit seinen Gedanken weit fort war. Eine Fliege kroch ihm über den Handrücken, er fegte sie nicht weg – genausowenig, wie Dominguez dies getan hätte. Ich hatte das Empfinden, eine unerschütterliche, tief gegründete Kraft vor mir zu haben. Wer weiß, vielleicht betete er.

Ich stand auf, teilte den Vorhang, der das Schlafzimmer abschloß, und ging hinein. Ich wollte dort nichts weiter, außer für einen Augenblick von der stummen Gestalt im Lehnstuhl loszukommen. Phuongs Bildbände standen wieder auf dem Regal. Zwischen die Tiegel mit ihren kosmetischen Mitteln hatte sie ein Telegramm gesteckt – offenbar irgendeine Nachricht von der Londoner Redaktion. Ich war nicht in der Stimmung, es zu öffnen. Alles war so, wie es vor Pyles Ankunft gewesen war. Zimmer ändern sich nicht, Ziergegenstände bleiben, wo man sie hinstellt: Nur das Herz verfällt.

Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück, und Vigot führte das Glas an seine Lippen. Ich sagte: »Ich habe Ihnen nichts mitzuteilen, ganz und gar nichts.«

»Dann werde ich mich wohl auf den Weg machen«, meinte er. »Ich glaube nicht, daß ich Sie noch einmal belästigen werde.«

An der Tür wandte er sich nochmals um, als ob er nicht gewillt wäre, die Hoffnung aufzugeben – seine Hoffnung oder die meine. »Sonderbar, daß Sie sich an jenem Abend ausgerechnet einen solchen Film ansahen. Ich hätte mir nicht gedacht, daß ein Kostümfilm Ihrem Geschmack entspricht. Was war es doch nur? ›Robin Hood‹?«

»›Scaramouche‹, glaube ich. Ich mußte irgendwie die Zeit totschlagen. Und ich brauchte Ablenkung.«

»Ablenkung?«

»Wir alle haben unseren privaten Kummer, Vigot«, erklärte ich mit Sorgfalt.

Als er gegangen war, mußte ich noch eine Stunde auf Phuong und lebende Gesellschaft warten. Seltsam, wie sehr mich Vigots Besuch beunruhigt hatte. Es war, als ob mir ein Dichter seine Werke zu einer kritischen Beurteilung gebracht und ich sie durch eine Unvorsichtigkeit zerstört hätte. Ich war ein Mann ohne Berufung – Journalismus kann man nicht ernsthaft als Berufung ansehen, aber ich war imstande, bei jemand anderem die Berufung zu erkennen. Nun, da Vigot gegangen war, um seine unvollständige Akte abzuschließen, wünschte ich, ich hätte den Mut besessen, ihn zurückzurufen und zu sagen: »Sie haben recht. Ich sah Pyle tatsächlich in jener Nacht, als er starb.«