4
»Sind Sie verletzt?« fragte Pyle.
»Etwas hat mich am Bein erwischt. Nichts Ernstes.«
»Los, gehen wir!« drängte mich Pyle. Ich konnte ihn eben noch ausnehmen, weil er mit einem feinen, weißen Staub bedeckt zu sein schien. Dann verschwand er plötzlich, wie ein Film von der Leinwand, wenn die Lampen des Projektionsgeräts versagen: Nur der Ton lief weiter. Ich stützte mich vorsichtig auf das gesunde Knie und versuchte aufzustehen, ohne den verletzten linken Knöchel zu belasten; dann fiel ich von neuem hin, und der Schmerz benahm mir den Atem. Das war nicht der Knöchel: Etwas war mit meinem linken Bein geschehen. Sorgen konnte ich mir nicht machen – der Schmerz ließ diesen Gedanken gar nicht aufkommen. Ganz still lag ich auf dem Boden und hoffte, es würde aufhören wehzutun. Ich hielt sogar den Atem an, wie man das bei Zahnschmerzen tut. Ich dachte nicht an die Vietminh, die bald die Ruinen des Turms durchsuchen würden: Eine zweite Granate schlug dort ein – offenbar wollten sie ganz sicher sein, ehe sie sich näherten. Wieviel Geld das kostet, dachte ich, während der Schmerz nachließ, ein paar Menschen zu töten – Pferde zu schlachten kommt so viel billiger. Ich war wohl nicht bei klarem Bewußtsein, denn plötzlich bildete ich mir ein, ich wäre in den Hof eines Abdeckers geraten, der in der kleinen Stadt, aus der ich stamme, der Schrecken meiner Kindheit war. Immer meinten wir, das angstvolle Wiehern der Pferde und den Knall des Schußbolzens zu hören.
Schon vor geraumer Weile hatte sich der Schmerz wieder eingestellt, während ich still dalag und den Atem anhielt – beides erschien mir gleich wichtig. Klar und deutlich überlegte ich, ob ich nicht in die Reisfelder kriechen sollte. Die Vietminh hatten vielleicht nicht die Zeit, einen weiten Umkreis abzusuchen, und vermutlich war jetzt bereits eine zweite Patrouille unterwegs, um mit der Besatzung des ersten Panzers Verbindung aufzunehmen. Aber ich fürchtete mich vor dem Schmerz mehr als vor den Partisanen, und ich blieb still liegen. Von Pyle war nichts zu hören: Er mußte die Felder erreicht haben. Dann hörte ich jemanden weinen. Die Laute kamen aus der Richtung des Turms, oder besser gesagt, der Turmruine. Es klang nicht wie das Weinen eines Mannes, sondern wie das eines Kindes, das sich vor der Finsternis fürchtet, aber nicht wagt zu schreien. Vermutlich kam es von einem der beiden Burschen – vielleicht war sein Gefährte getötet worden. Ich hoffte, die Vietminh würden ihm nicht die Kehle durchschneiden. Man sollte nicht mit Kindern Krieg führen, dachte ich, und ein kleiner, zusammengekauerter Leichnam in einem Graben fiel mir wieder ein. Ich schloß die Augen – auch dies half, den Schmerz zu unterdrücken – und wartete. Eine Stimme rief Worte, die ich nicht verstand. Beinahe war es jetzt, als könnte ich in der Dunkelheit und Einsamkeit und Schmerzlosigkeit Schlaf finden.
Dann hörte ich Pyle flüstern. »Thomas. Thomas.« Er hatte das lautlose Anschleichen schnell gelernt; ich hatte ihn nicht zurückkommen hören.
»Gehen Sie weg!« flüsterte ich zurück.
Er fand mich schließlich und legte sich flach neben mich. »Warum sind Sie nicht gekommen? Sind Sie verletzt?«
»Mein Bein – ich glaube, es ist gebrochen.«
»Ein Schuß?«
»Nein, nein. Ein Balken. Stein. Etwas vom Turm. Es blutet nicht.«
»Sie müssen sich zusammenreißen!«
»Gehen Sie weg, Pyle. Ich mag nicht, es tut zu weh.«
»Welches Bein ist es?«
»Das linke.«
Er kroch um mich herum und legte sich meinen Arm über die Schulter. Ich wollte wimmern wie der Bursche im Turm, und dann wurde ich wütend; aber es war schwer, im Flüsterton wütend zu sein. »Hol’ Sie der Teufel, Pyle. Lassen Sie mich allein. Ich will hierbleiben.«
»Das können Sie nicht.«
Er zog mich halb auf seine Schulter hinauf, und der Schmerz wurde unerträglich. »Seien Sie doch kein blödsinniger Held! Ich will nicht weg.«
»Sie müssen mithelfen«, sagte er, »sonst werden wir beide erwischt.«
»Sie …«
»Ruhig, sonst hört man Sie.« Ich weinte vor hilfloser Wut – man könnte kein stärkeres Wort dafür gebrauchen. Ich stützte mich auf ihn und ließ das linke Bein frei hängen – wir sahen wie unbeholfene Teilnehmer an einem Wettlauf auf drei Beinen aus, und wir wären verloren gewesen, wenn nicht im selben Augenblick, als wir aufbrachen, irgendwo weiter vorn, zwischen uns und dem nächsten Turm, ein Maschinengewehr in kurzen, raschen Stößen zu feuern begonnen hätte. Vielleicht war eine französische Patrouille im Vordringen, oder die Vietminh bemühten sich, ihr Soll von drei zerstörten Türmen pro Nacht zu erfüllen. Jedenfalls deckte der Lärm unsere langsame, schwerfällige Flucht.
Ich weiß nicht, ob ich dauernd bei Bewußtsein war: Ich glaube, die letzten zwanzig Meter muß Pyle mein ganzes Gewicht allein geschleppt haben. »Jetzt Vorsicht!« sagte er. »Wir gehen hinein.« Ringsum raschelten die trockenen Reishalme, der Schlamm gluckste und stieg an. Das Wasser reichte uns bis an die Hüften, als Pyle haltmachte. Er keuchte, und als ihm kurz der Atem stockte, klang es wie das Quaken eines Ochsenfrosches.
»Es tut mir leid«, sagte ich.
»Konnte Sie doch nicht liegenlassen«, erwiderte er.
Zunächst empfand ich Erleichterung: Wasser und Schlamm umschlossen mein Bein mit der zarten Festigkeit eines Verbands. Doch bald klapperten uns vor Kälte die Zähne. Ich fragte mich, ob Mitternacht schon vorbei war. Wenn die Vietminh uns nicht entdeckten, mußten wir sechs Stunden in dieser Lage ausharren.
»Können Sie Ihr Gewicht ein wenig verlagern?« sagte Pyle. »Nur für einen Augenblick.« Und aufs neue befiel mich meine vernunftwidrige Erbitterung – der Schmerz war die einzige Entschuldigung dafür. Ich hatte nicht darum gebeten, gerettet zu werden oder meinen Tod so qualvoll hinauszuzögern. Sehnsüchtig dachte ich an mein Lager auf der festen, trockenen Erde. Ich stand wie ein Kranich auf einem Bein und versuchte, Pyle mein Gewicht abzunehmen, und sooft ich mich rührte, kitzelten und schnitten mich die knackenden Reisstengel.
»Sie haben mir dort draußen das Leben gerettet«, sagte ich, und Pyle räusperte sich, um darauf die konventionelle Antwort zu geben, »nur damit ich hier sterben kann. Der trockene Boden wäre mir dazu lieber.«
»Pst. Nicht sprechen«, sagte er wie zu einem Schwerkranken.
»Wer zum Teufel hat Sie dazu aufgefordert, mir das Leben zu retten? Ich kam in den Osten, um getötet zu werden. Es sieht Ihrer verfluchten Unverschämtheit ähnlich …« Ich stolperte im Schlamm, und Pyle schlang sich sofort meinen Arm über die Schulter. »Nur immer mit der Ruhe«, sagte er.
»Sie haben wohl Kriegsfilme angesehen. Wir sind doch nicht zwei Marineinfanteristen, und Orden können Sie sich auch keinen verdienen.«
»Pst. Pst.« Schritte waren zu vernehmen, die sich dem Rand des Reisfelds näherten. Das Maschinengewehr stellte das Feuer ein und man hörte nichts außer dem Geräusch der Tritte und dem leisen Rascheln im Reis, das durch unser Atmen entstand. Dann hielten die Schritte an: Sie schienen nur ein paar Meter entfernt zu sein. Ich spürte, wie mich Pyles Hand an meiner gesunden Seite langsam nach unten drückte. Ganz sachte sanken wir zusammen in den Schlamm, um die Reishalme möglichst wenig in Bewegung zu versetzen. Wenn ich ein Knie auf den Boden stützte und den Kopf weit nach hinten reckte, konnte ich den Mund gerade noch über Wasser halten. Im linken Bein stellten sich die Schmerzen wieder ein, und ich sagte mir: »Wenn ich hier ohnmächtig werde, ertrinke ich.« Ich hatte den Gedanken zu ertrinken immer gehaßt und gefürchtet. Warum kann man sich seinen Tod nicht aussuchen? Es herrschte jetzt lautlose Stille: Keine sechs Meter entfernt, warteten sie auf ein Rascheln, ein Husten, ein Niesen – O Gott, dachte ich, ich muß niesen. – Wenn Pyle mich bloß allein gelassen hätte, dann wäre ich nur für mein eigenes Leben verantwortlich und nicht auch für das seine – und er wollte leben. Ich preßte die Finger meiner freien Hand fest gegen die Oberlippe, wie man das schon als Kind lernt, um sich beim Versteckenspielen nicht zu verraten. Aber der Niesreiz hielt an, drohte, jeden Moment in ein Niesen auszubrechen, und lautlos im Dunkel warteten die anderen auf dieses Niesen. Es kam, kam, war da …
Doch in derselben Sekunde, als ich nieste, feuerten die Vietminh aus ihren Maschinenpistolen und durchkämmten in einer Feuerlinie das Reisfeld. Das harte Hämmern, das wie eine Maschine klang, die in eine Stahlplatte Löcher stanzt, verschluckte mein Niesen. Ich holte tief Atem und tauchte mit dem Kopf unters Wasser – so instinktiv weicht man vor dem Ersehnten zurück, kokettiert man mit dem Tod wie eine Frau, die sich wünscht, von ihrem Geliebten überwältigt zu werden. Über uns wurde der Reis niedergefegt, und dann war der Sturm vorüber. Wir tauchten beide gleichzeitig zum Atemholen auf und hörten, wie sich die Schritte zum Turm hin entfernten.
»Wir haben’s geschafft!« sagte Pyle, und selbst in meinem Schmerz fragte ich mich, was wir geschafft hätten: ich für mein Teil das Greisenalter, den Bürostuhl eines Redakteurs, die Einsamkeit; und was ihn anlangt, so weiß ich heute, daß er damals voreilig sprach. Dann richteten wir uns im kalten Wasser darauf ein, zu warten. Auf der Straße nach Tanyin loderte ein Feuer auf: Es brannte heiter wie bei einem Fest.
»Das ist mein Wagen«, sagte ich, und Pyle meinte: »Eine Schande ist es, Thomas. Ich hasse sinnlose Vergeudung.«
»Es muß gerade noch genug Benzin dagewesen sein, um das Feuer zu entfachen. Ist Ihnen auch so kalt wie mir, Pyle?«
»Es könnte mir nicht kälter sein.«
»Wie wär’s, wenn wir hinausstiegen und uns flach auf die Straße legten?«
»Geben wir ihnen noch eine halbe Stunde Zeit.«
»Den Großteil meines Gewichts tragen aber Sie!«
»Ich kann es aushalten, ich bin noch jung.« Das war humorvoll gemeint, aber es traf mich eiskalt wie das schlammige Wasser. Ich hatte die Absicht gehabt, mich für die Art zu entschuldigen, in der ich meinem Schmerz Ausdruck gegeben hatte, aber jetzt meldete sich dieser Schmerz von neuem. »Klar, Sie sind jung. Sie können sich’s leisten, zu warten, nicht wahr?«
»Ich verstehe Sie nicht, Thomas.«
Mir schien es, als ob wir bereits eine Woche lang die Nächte miteinander verbracht hätten, und doch konnte er mich nicht mehr verstehen, wie er Französisch verstand. »Es wäre für Sie besser gewesen, wenn Sie mich dort liegengelassen hätten.«
»Ich hätte Phuong nicht unter die Augen treten können«, sagte er, und der Name lag da wie das Angebot des Bankhalters beim Glücksspiel. Ich nahm es an.
»Also ihretwegen haben Sie es getan«, sagte ich. Was meine Eifersucht noch unsinniger und demütigender machte, war der Umstand, daß ich ihr im leisesten Flüsterton Ausdruck verleihen mußte – es fehlte ihr an Lautstärke, und die Eifersucht liebt nun mal das Theatralische. »Sie meinen wohl, Sie werden sie bekommen, wenn Sie den Helden spielen. Da irren Sie sich aber gewaltig. Wenn ich tot wäre, dann hätten Sie sie haben können.«
»So habe ich es nicht gemeint«, sagte Pyle. »Wenn man liebt, dann möchte man ein ehrliches Spiel spielen, weiter nichts.«
Das stimmt, dachte ich mir, aber nicht im dem Sinn, wie er es sich in seiner Unschuld vorstellt. Wenn man liebt, dann sieht man sich selbst mit den Augen eines anderen, ist man in ein verfälschtes, veredeltes Abbild seiner selbst verliebt. In der Liebe sind wir eines ehrenhaften Verhaltens nicht fähig – auch die mutige Tat ist nichts anderes als eine Rolle, gespielt für zwei Zuschauer. Ich war vielleicht nicht mehr verliebt, aber ich erinnerte mich sehr wohl daran.
»Im umgekehrten Fall hätte ich Sie im Stich gelassen«, sagte ich.
»O nein, das hätten Sie nicht getan, Thomas.« Mit unausstehlicher Selbstgefälligkeit fügte er hinzu: »Ich kenne Sie besser als Sie sich selbst.« Voll Zorn versuchte ich von ihm abzurücken und mein Gewicht selbst zu tragen, aber wieder brauste der Schmerz heran, heulend wie ein Zug in einem Tunnel. Ich lehnte mich noch schwerer gegen ihn, um nicht tiefer ins Wasser zu sinken. Pyle schlang beide Arme um mich und hielt mich hoch. Dann fing er an, mich Zoll um Zoll gegen das Ufer und den Straßenrand hinzuschieben. Als er mich dorthin geschafft hatte, ließ er mich flach in den seichten Schlamm unter der Böschung des Feldrains gleiten, und als der Schmerz wieder von mir wich, und ich die Augen aufschlug und freier atmete, konnte ich die kunstvollen Zeichen der Gestirne sehen – fremde Zeichen, die ich nicht zu lesen verstand: Es waren nicht die Sterne der Heimat. Sein Gesicht erschien über mir und löschte den Sternenhimmel aus. »Ich gehe die Straße entlang, Thomas, bis ich auf eine Patrouille stoße.«
»Seien Sie nicht verrückt«, sagte ich. »Die schießen Sie nieder, bevor sie wissen, wer Sie sind. Wenn nicht die Vietminh Sie vorher erwischen!«
»Es ist unsere einzige Chance. Sie können nicht noch sechs Stunden im Wasser liegen.«
»Dann legen Sie mich auf die Straße.«
»Es hat wohl nicht viel Sinn, Ihnen die Maschinenpistole dazulassen?« fragte er zweifelnd.
»Natürlich nicht! Wenn Sie schon unbedingt ein Held sein wollen, dann gehen Sie wenigstens vorsichtig durch den Reis.«
»Dann würde aber die Patrouille vorbeifahren, bevor ich ihr ein Signal geben kann.«
»Außerdem sprechen Sie nicht französisch.«
»Ich werde ›Je suis Frongçais‹ rufen. Keine Sorge, Thomas. Ich werde schon aufpassen.« Ehe ich noch etwas erwidern konnte, war er aus der Reichweite einer flüsternden Stimme entschwunden – er bewegte sich so geräuschlos wie er es nun schon konnte, mit häufigen Pausen. Ich konnte ihn im Lichtschein meines brennenden Wagens deutlich sehen, aber kein Schuß folgte; bald war er über den Bereich des Feuerscheins hinaus, und lautlose Stille schlug über seinen Schritten zusammen. O ja, er war vorsichtig, so wie er auf der Bootsfahrt flußabwärts nach Phat Diem vorsichtig gewesen war, mit der Vorsicht des Helden in einer Abenteuergeschichte für Jungen, so stolz auf seine Vorsicht wie auf ein Pfadfinderabzeichen, und ohne die leiseste Ahnung, wie unsinnig und unwahrscheinlich sein Abenteuer war.
Ich lag da und lauschte auf Schüsse von seiten der Vietminh oder einer Patrouille der Fremdenlegion, aber alles blieb still – Pyle würde wahrscheinlich eine Stunde oder sogar länger brauchen, um einen Wachtturm zu erreichen, falls er überhaupt so weit kam. Ich wandte den Kopf zur Seite, so daß ich erkennen konnte, was von unserem Turm übriggeblieben war: ein Haufen von Lehm, Bambusstöcken und Holzstützen, der tiefer zu sinken schien, während die Flammen meines Wagens in sich zusammensanken. Ich empfand ein Gefühl des Friedens, sobald der Schmerz abklang – gewissermaßen ein Waffenstillstand für die Nerven: Ich hatte Lust zu singen. Ich dachte, wie seltsam es war, daß Männer meines Berufs aus dieser ganzen Nacht eine Meldung von nur zwei Zeilen machen würden; es war bloß eine ganz gewöhnliche Nacht, und das einzig Ungewöhnliche daran war ich. Dann hörte ich, wie aufs neue ein leises Wimmern von der Turmruine her einsetzte. Einer der Posten mußte immer noch am Leben sein.
Der arme Teufel, ging es mir durch den Sinn. Wären wir nicht ausgerechnet vor seinem Turm steckengeblieben, hätte er sich beim ersten Anruf aus dem Megaphon entweder ergeben können, wie sich fast alle ergaben, oder er hätte fliehen können. Aber wir waren dagewesen – zwei Weiße, und wir hatten die Maschinenpistole, und sie wagten sich nicht zu rühren. Als wir sie endlich verließen, war es zu spät. Es war meine Schuld, daß dort in der Dunkelheit jemand wimmerte: Ich hatte mich gebrüstet, unbeteiligt zu sein, nichts mit diesem Krieg zu tun zu haben. Aber jene Wunden waren von mir geschlagen worden, genauso, als hätte ich mit der Maschinenpistole geschossen, wie es Pyle hatte tun wollen.
Ich mühte mich, über die Böschung auf die Straße hinaufzukriechen. Ich wollte zu dem Verwundeten gelangen. Es war das einzige, was ich tun konnte: seinen Schmerz teilen. Doch mein eigener Schmerz stieß mich zurück. Ich konnte niemanden mehr hören. Ich lag still und nahm nichts wahr als meinen eigenen Schmerz, der wie ein riesiges Herz pochte, hielt den Atem an und betete zu Gott, an den ich nicht glaubte: »Laß mich sterben oder ohnmächtig werden. Laß mich sterben oder ohnmächtig werden.« Und dann, glaube ich, verlor ich tatsächlich das Bewußtsein, und alle Sinneseindrücke erloschen, bis ich schließlich träumte, meine Augenlider seien zusammengefroren, und irgend jemand setze einen Meißel an, um sie auseinanderzusprengen; ich wollte ihn warnen, meine Augäpfel nicht zu beschädigen, konnte aber nicht sprechen, und der Meißel drang durch, und eine Taschenlampe leuchtete mir ins Gesicht.
»Wir haben’s geschafft, Thomas«, sagte Pyle. Dessen entsinne ich mich noch; aber an die Einzelheiten, die Pyle später anderen Leuten schilderte, kann ich mich nicht erinnern: daß ich mit der Hand in die falsche Richtung gewiesen und gesagt hätte, im Turm sei ein Mann, und sie sollten sich um ihn kümmern. Jedenfalls hätte ich die sentimentale Begründung, die Pyle für mein Verhalten fand, nicht gegeben. Ich kenne mich, und ich kenne das Maß meiner Selbstsucht. Ich kann mich nicht behaglich fühlen (und mich behaglich zu fühlen, ist mein dringlichster Wunsch), wenn ein anderer Schmerzen leidet, sichtbar, hörbar oder fühlbar. Von arglosen Leuten wird dies bisweilen irrtümlich für Selbstlosigkeit gehalten, während ich doch nur einen kleinen Vorteil – in diesem Fall die sofortige Versorgung meiner Wunde – zugunsten eines viel größeren opfere, nämlich eines Seelenfriedens, in dem ich nur an mich selbst zu denken brauche.
Sie kamen zurück, um mir zu sagen, daß der Bursche tot war, und ich war glücklich – ich mußte nicht einmal große Schmerzen leiden, nachdem sich die Injektionsnadel mit dem Morphium in das verwundete Bein hineingebohrt hatte.