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Die Prozession der Wagen war schon weit voraus, als wir endlich losfuhren. Ich steigerte die Geschwindigkeit, um sie einzuholen, aber wir hatten die Zone der Gaodaisten bereits hinter uns gelassen und waren in das Gebiet der Hoa Haos gelangt, ohne auch nur eine Staubwolke vor uns zu erblicken. Flach und leer war das Land im Abendlicht.

Es war nicht eben die Art Gelände, die man mit einem Hinterhalt verbindet, dennoch konnten sich nur wenige Meter vom Straßenrand entfernt Menschen nackentief in den überschwemmten Reisfeldern versteckt halten.

Pyle räusperte sich, und dies war das Signal, daß eine vertrauliche Äußerung kam. »Ich hoffe, Phuong geht es gut«, sagte er.

»Meines Wissens ist sie noch nie krank gewesen.« Ein Wachtturm versank hinter uns, der nächste tauchte vor uns auf – wie die Gewichte an einer Waage.

»Gestern sah ich ihre Schwester beim Einkaufen.«

»Und ich vermute, daß sie Sie zu sich eingeladen hat«, sagte ich.

»Tatsächlich, das hat sie getan.«

»Sie gibt eben die Hoffnung nicht so schnell auf.«

»Was für eine Hoffnung?«

»Die Hoffnung, Sie mit Phuong zu verheiraten.«

»Sie erzählte mir, daß Sie von hier weggehen werden.«

»Solche Gerüchte tauchen nun mal auf.«

Pyle sagte: »Sie treiben doch wohl ein ehrliches Spiel mit mir, Thomas, nicht wahr?«

»Ehrliches Spiel?«

»Ja, ich habe um Versetzung angesucht«, sagte er, »und ich möchte nicht, daß wir beide sie verlassen.«

»Ich dachte, Sie wollten Ihre Zeit hier abdienen.«

»Das konnte ich nicht aushalten«, sagte er ohne Selbstmitleid.

»Und wann gehen Sie fort?«

»Das weiß ich noch nicht. Es heißt, daß in sechs Monaten eine Versetzung durchgeführt werden könnte.«

»Und sechs Monate lang können Sie es aushalten?«

»Ich muß wohl.«

»Was für einen Grund haben Sie angegeben?«

»Ich sagte dem Handelsattaché – Joe, Sie kennen ihn ja – mehr oder minder die Wahrheit.«

»Ich nehme an, daß er mich für einen Schweinehund hält, weil ich Ihnen nicht erlaube, mit meiner Freundin auf und davon zu gehen.«

»O nein, er ergriff eher für Sie Partei.«

Der Motor meines Wagens stotterte und stockte dann – er hatte schon eine Minute lang gestottert, glaube ich, ehe ich es bemerkte, denn ich hatte über Pyles unschuldige Frage nachgedacht, ob ich wohl ein ehrliches Spiel triebe. Sie gehörte einer psychologischen Sphäre von großer Schlichtheit an, einer Welt, wo man von Demokratie und Ehre sprach – jener Ehre, die im englischen einst Honor hieß und genauso auf alten Grabsteinen geschrieben steht – und mit diesen Worten dasselbe meinte wie schon die Väter. »Aus!« sagte ich.

»Was ist aus? Das Benzin?«

»Ja. Es war genug da. Knapp vor der Abreise füllte ich den Tank in Saigon bis oben voll. Diese Schufte in Tanyin müssen es abgezapft haben. Ich hätte es bemerken müssen. Sieht ihnen ähnlich, uns gerade noch soviel drinnen zu lassen, daß wir aus ihrer Zone herauskommen.«

»Was sollen wir jetzt tun?«

»Wir können gerade noch den nächsten Wachtturm erreichen. Hoffen wir, daß sie dort etwas Benzin haben.«

Aber wir hatten Pech. Dreißig Meter vor dem Wachtturm blieb der Wagen stecken. Wir marschierten zum Turm, wo ich von unten auf französisch zur Wache hinaufrief, daß wir Freunde seien und hinaufkämen. Ich hatte nicht die Absicht, mich von einem vietnamesischen Posten erschießen zu lassen. Es kam keine Antwort; niemand schaute oben heraus. »Haben Sie eine Pistole bei sich?« fragte ich Pyle.

»Nein, ich trage nie eine.«

»Ich auch nicht.«

Die letzten Farben des Sonnenuntergangs, grün und golden wie der Reis, tropften über den Rand dieser flachen Welt: Vom neutralen Grau des Himmels hob sich der Wachtturm schwarz wie Druckschrift ab. Die Zeit des nächtlichen Ausgehverbots mußte schon sehr nahe sein. Ich rief wieder, ohne Antwort zu erhalten.

»Wissen Sie zufällig, wie viele Türme wir seit dem letzten Fort passiert haben?«

»Ich habe nicht darauf geachtet.«

»Ich auch nicht.« Bis zum nächsten Fort waren es vermutlich gute sechs Kilometer – ein Marsch von einer Stunde. Ich rief zum drittenmal, und das Schweigen wiederholte sich gleich einer Antwort.

»Scheint unbesetzt zu sein«, sagte ich. »Ich werde hinaufsteigen und nachsehen.« Die gelbe Fahne mit den roten Streifen, die zu Orange verblaßt waren, zeigte an, daß wir das Gebiet der Hoa Haos bereits hinter uns gelassen hatten und uns im Bereich der vietnamesischen Armee befanden.

»Meinen Sie nicht, daß es besser ist, hier zu warten, ob vielleicht noch ein Wagen vorüberkommt?« sagte Pyle.

»Vielleicht, aber sie könnten noch früher kommen.«

»Soll ich zurückgehen und die Scheinwerfer einschalten? Als Signal?«

»Um Gottes willen, nein! Lassen Sie das sein!« Es war jetzt so dunkel, daß ich stolperte, als ich nach der Leiter suchte. Unter meinem Fuß knackte etwas; ich malte mir deutlich aus, wie sich der Ton über die Reisfelder hin fortpflanzte – und von wem aufgefangen wurde? Pyles Gestalt hatte nur noch verschwommene Umrisse und war ein dunkler Schatten am Straßenrand. Die Dunkelheit, sobald sie einmal kam, fiel herab wie ein Stein. »Bleiben Sie dort, bis ich Sie rufe«, sagte ich und überlegte, ob der Posten etwa die Leiter hochgezogen hatte; doch da stand sie – obwohl auch für den Feind benutzbar, bildete sie den einzigen Fluchtweg der Besatzung. Ich begann hinaufzuklettern.

So oft habe ich gelesen, woran die Leute im Augenblick der Furcht denken: an Gott, an ihre Familie, an eine Frau. Ich bewundere ihre Selbstbeherrschung. Ich dachte an gar nichts, nicht einmal an die Falltür über mir. Für die nächsten Sekunden hörte ich zu existieren auf: Ich war nichts als pure Angst. Am oberen Ende der Leiter stieß ich mit dem Kopf an, weil die Angst keine Leitersprossen zählen noch hören oder sehen kann. Dann hob ich den Kopf über den Lehmboden, niemand schoß auf mich, und die Angst wich von mir.