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Phuong hatte einen Tisch am Rande der Tanzfläche für uns besetzt, und das Orchester spielte einen Schlager, der vor fünf Jahren in Paris populär gewesen war. Zwei vietnamesische Paare, zierlich, elegant, distanziert, tanzten mit einem Flair von Zivilisiertheit, mit dem wir es nicht aufnehmen könnten. (Ich erkannte eines der Paare – es war ein Buchhalter der Banque de l’Indo-Chine und seine Gattin.) Man hatte den Eindruck, daß sie sich niemals nachlässig kleideten, niemals etwas Falsches sagten, niemals einer ungehörigen Leidenschaft anheimfielen. Wenn der Krieg in diesem Land mittelalterlich erschien, dann glichen sie der Zukunft des achtzehnten Jahrhunderts. Man hätte meinen können, Monsieur Pham-Van-Tu verfaßte in seiner Freizeit klassische Verse; zufällig wußte ich aber, daß er ein Verehrer Wordsworths war und romantische Naturpoesie schrieb. Seine Urlaube verbrachte er in Dalat, wo er noch am ehesten die Stimmung der nordenglischen Seenlandschaft vorfand. Er verbeugte sich leicht, als er an uns vorübertanzte.
Ich fragte mich, wie es fünfzig Meter von uns entfernt Granger ergangen war.
Eben entschuldigte sich Pyle bei Phuong in schauerlichem Französisch dafür, daß wir sie hatten warten lassen. »C’est impardonable«, sagte er.
»Wo waren Sie?« fragte sie ihn.
»Ich habe Granger nach Hause begleitet«, antwortete er.
»Nach Hause?« sagte ich und lachte, und Pyle warf mir einen Blick zu, als sei ich ein zweiter Granger. Mit einem Mal sah ich mich selbst, wie er mich sehen mußte, als einen Mann in mittleren Jahren, die Augen leicht gerötet, mit beginnendem Fettansatz, plump und ungelenk in der Liebe, weniger aufdringlich als Granger vielleicht, aber zynischer, weniger unschuldig; und für einen Augenblick sah ich Phuong vor mir, wie ich sie zum erstenmal gesehen hatte, als sie in einem weißen Ballkleid an meinem Tisch im »Grand Monde« vorübertanzte, achtzehnjährig und unter der Aufsicht einer älteren Schwester, die entschlossen gewesen war, sie gut mit einem Europäer zu verheiraten. Ein Amerikaner hatte sich eine Karte gekauft und sie zu einem Tanz aufgefordert. Er war etwas betrunken – aber durchaus harmlos, und ich nehme an, er war noch fremd in diesem Land und meinte, die Eintänzerinnen im »Grand Monde« seien Dirnen. Er hielt sie viel zu fest an sich gepreßt, während sie die erste Runde um das Parkett machten. Und sie – sie ging unvermittelt an ihren Platz neben der Schwester zurück, und er blieb allein, einsam und verlassen unter den übrigen Tänzern, er wußte nicht, was geschehen war oder weshalb. Und die junge Frau, deren Namen ich nicht kannte, saß still an ihrem Tisch, nippte hin und wieder an ihrem Glas Orangensaft, gehörte nur sich selbst.
»Peu-ton avoir l’honneur?« fragte Pyle eben mit seinem fürchterlichen Akzent, und einen Augenblick später sah ich sie am anderen Ende des Saales schweigend dahintanzen. Pyle hielt seine Partnerin so weit von sich, daß man hätte meinen können, er werde sich im nächsten Augenblick völlig von ihr trennen. Er war ein elender Tänzer, und sie war in jener Zeit im »Grand Monde« die beste Tänzerin, der ich je begegnet war.
Es war ein langes Liebeswerben voll Enttäuschungen gewesen. Hätte ich ihr die Ehe und eine entsprechende Vermögensübertragung anbieten können, dann wäre alles leicht gegangen, und die ältere Schwester hätte sich bei jeder unserer Zusammenkünfte still und taktvoll zurückgezogen. So aber vergingen drei Monate, ehe ich sie auch nur für einen Augenblick allein sprechen konnte. Es war auf einem Balkon des »Majestic«, und ihre Schwester fragte im Zimmer dahinter ununterbrochen, wann wir wieder hineinzukommen gedächten. Im Schein von Leuchtfeuern wurde auf dem Saigon-Fluß ein Frachtdampfer aus Frankreich entladen. Die Fahrradglocken der Rikschas schrillten wie Telefone. Und ich hätte ein junger, unerfahrener Narr sein können – so schwer fiel es mir, die richtigen Worte zu finden. Verzweifelt kehrte ich zu meinem Bett in der Rue Catinat zurück und hätte mir nie im Traum einfallen lassen, daß Phuong vier Monate später dort neben mir liegen werde, ein wenig atemlos und lachend, als sei sie überrascht, daß alles etwas anders war, als sie erwartet hatte.
»Monsieur Fowlair!« Ich hatte die beiden beim Tanzen beobachtet und nicht bemerkt, daß Phuongs Schwester mir von einem anderen Tisch aus zuwinkte. Jetzt kam sie herüber, und ich forderte sie widerstrebend auf, Platz zu nehmen. Unsere Freundschaft hatte in jener Nacht ein Ende gefunden, als sie im »Grand Monde« plötzlich von einem Unwohlsein befallen worden war und ich Phuong nach Hause begleitet hatte.
»Ich habe Sie ein ganzes Jahr lang nicht gesehen«, sagte sie.
»Ich bin sehr oft weg, in Hanoi.«
»Wer ist Ihr Freund?« erkundigte sie sich.
»Er heißt Pyle.«
»Was tut er?«
»Er gehört der amerikanischen Wirtschaftsmission an. Sie kennen das ja – elektrische Nähmaschinen für halbverhungerte Näherinnen.«
»Gibt es welche?«
»Das weiß ich nicht.«
»Jedenfalls verwenden sie keine elektrischen Nähmaschinen. Wo die wohnen, gibt es bestimmt keinen Strom.« Sie war eine Frau, die alles wörtlich nahm.
»Da müssen Sie schon Pyle fragen«, erwiderte ich.
»Ist er verheiratet?«
Ich warf einen Blick zur Tanzfläche hinüber. »Ich möchte behaupten, daß er noch nie näher als jetzt an eine Frau herangekommen ist.«
»Er tanzt sehr schlecht«, stellte sie fest.
»Richtig.«
»Aber er macht einen netten, verläßlichen Eindruck.«
»O ja.«
»Kann ich ein bißchen bei Ihnen sitzen bleiben? Meine Bekannten sind sehr langweilig.«
Die Musik hörte auf, und Pyle verbeugte sich steif vor Phuong, dann brachte er sie an den Tisch zurück und rückte ihr den Stuhl zurecht. Ich konnte es ihr ansehen, daß ihr seine förmliche Art gefiel. Wie vieles sie in ihrer Beziehung zu mir vermissen mußte, dachte ich.
»Das ist Phuongs Schwester, Miss Hei«, wandte ich mich an Pyle.
»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte er und errötete.
»Sie kommen aus New York?« fragte sie.
»Nein, aus Boston.«
»Das liegt auch in den Vereinigten Staaten?«
»O ja, ja.«
»Ist Ihr Herr Vater Geschäftsmann?«
»Nein, eigentlich nicht. Er ist Professor.«
»Ein Lehrer?« fragte sie mit einem Anflug von Enttäuschung.
»Nun, er ist gewissermaßen eine Autorität, wissen Sie. Die Leute konsultieren ihn.«
»Wegen ihrer Gesundheit? Ist er Doktor?«
»Nicht die Sorte Doktor, an die Sie denken. Er ist ein Doktor-Ingenieur. Er weiß alles über Unterwassererosion. Haben Sie eine Ahnung, was das ist?«
»Nein.«
Pyle machte einen schwachen Versuch, humorvoll zu sein: »Na, dann will ich es meinem Dad überlassen, Ihnen das zu erklären.«
»Ist er denn hier?«
»Ach, nein.«
»Aber er kommt her?«
»Nein. Das war nur ein Scherz«, sagte Pyle entschuldigend.
»Haben Sie vielleicht noch eine Schwester?« fragte ich Miss Hei.
»Nein. Weshalb?«
»Weil es so klingt, als wollten Sie Mr. Pyles Heiratswürdigkeit überprüfen.«
»Ich habe nur eine Schwester«, sagte Miss Hei und griff nach Phuongs Knie, das sie mit fester Hand umklammerte, wie der Vorsitzende in einer Debatte seine Glocke, wenn er zur Ordnung ruft.
»Sie ist eine sehr hübsche Schwester«, sagte Pyle.
»Sie ist das schönste Mädchen in ganz Saigon«, erwiderte Miss Hei, als wolle sie sein Urteil korrigieren.
»Das glaube ich gern.«
»Es ist Zeit, daß wir unser Dinner bestellen«, sagte ich. »Selbst das schönste Mädchen von Saigon muß essen.«
»Ich bin nicht hungrig«, erklärte Phuong.
»Sie ist sehr zart«, fuhr Miss Hei mit Entschiedenheit fort. In ihrer Stimme lag ein drohender Unterton. »Sie braucht Fürsorge. Sie verdient Fürsorge. Sie ist sehr, sehr treu.«
»Mein Freund ist ein Glückspilz«, sagte Pyle ernst.
»Sie liebt Kinder«, sagte Miss Hei.
Ich lachte und fing dabei Pyles Blick auf; er betrachtete mich schockiert und erstaunt, und plötzlich wurde mir klar, daß er dem, was Miss Hei zu sagen hatte, aufrichtiges Interesse entgegenbrachte. Während ich das Dinner bestellte (trotz Phuongs Beteuerung, sie sei nicht hungrig, wußte ich, daß sie ein ausgiebiges Beefsteak tatare mit zwei rohen Eiern und so weiter wohl vertragen konnte), hörte ich zu, wie er die Kinderfrage ernsthaft erörterte. »Ich habe mir schon immer gedacht, daß ich viele Kinder haben möchte«, erklärte er. »Eine große Familie ist ein wunderbarer Lebenszweck. Sie festigt die Ehe. Und auch für die Kinder ist das gut. Ich war ein Einzelkind, und das ist ein großer Nachteil.« Nie zuvor hatte ich ihn so viel reden hören.
»Wie alt ist Ihr Herr Vater?« fragte Miss Hei in ihrer Unersättlichkeit.
»Neunundsechzig.«
»Alte Leute lieben Enkelkinder. Es ist sehr traurig, daß meine Schwester keine Eltern mehr hat, die sich an ihren Kindern erfreuen könnten. Wenn der Tag kommt«, fügte sie mit einem unheildrohenden Blick auf mich hinzu.
»Und daß Sie auch keine mehr haben«, ergänzte Pyle, wie mir schien, ziemlich überflüssigerweise.
»Unser Vater stammte aus einer überaus vornehmen Familie. Er war ein Mandarin in Hue.«
»Ich habe für euch alle Dinner bestellt«, sagte ich.
Miss Hei erhob Einspruch: »Nicht für mich! Ich muß zu meinen Bekannten zurückgehen. Mr. Pyle würde ich sehr gern einmal wiedersehen. Vielleicht könnten Sie es so einrichten.«
»Wenn ich aus dem Norden zurückkomme«, erwiderte ich.
»Sie gehen nach dem Norden?«
»Ja, ich glaube, es ist Zeit, daß ich mir den Krieg ansehe.«
»Aber die gesamte Presse ist doch schon zurückgekommen«, meinte Pyle .
»Das ist für mich die günstigste Zeit. So brauche ich nicht mit Granger zusammenzutreffen.«
»Sie müssen zu meiner Schwester und zu mir zum Dinner kommen, wenn Monsieur Fowlair fort ist.« Und mit mißmutiger Höflichkeit fügte Miss Hei hinzu: »Um sie aufzuheitern.«
Nachdem sie gegangen war, sagte Pyle: »Was für eine charmante, kultivierte Frau. Und sie spricht so gut Englisch.«
»Sag’ ihm, daß meine Schwester einmal in Singapur gearbeitet hat«, forderte mich Phuong voll Stolz auf.
»Wirklich? Was denn?«
Ich übersetzte für sie: »Import und Export. Sie kann stenographieren.«
»Ich wollte, wir hätten mehr Angestellte mit ihren Fähigkeiten in unserer Wirtschaftsmission.«
»Ich werde mit ihr sprechen«, sagte Phuong. »Sie würde gern für die Amerikaner arbeiten.«
Nach dem Dinner tanzten sie noch einmal. Ich bin auch ein schlechter Tänzer, und ich besaß nicht Pyles Unbefangenheit – oder, so überlegte ich, hatte ich sie in jenen Tagen, als ich mich in Phuong verliebte, etwa doch besessen? Es mußte vor jener denkwürdigen Nacht von Miss Heis Unpäßlichkeit oftmals vorgekommen sein, daß ich im »Grand Monde« mit Phuong tanzte, nur um mich mit ihr unterhalten zu können. Eine solche Gelegenheit ergriff Pyle nicht, während sie jetzt aufs neue um das Parkett kreisten. Er war etwas entspannter, das war alles, und er hielt seine Partnerin nicht mehr auf Armeslänge von sich; aber beide waren schweigsam. Ich blickte auf Phuongs Füße, ihre schwerelosen und exakten Tanzschritte, die selbst Pyles Dahinstolpern meisterten, und war auf einmal wieder verliebt. Ich konnte es kaum glauben, daß sie in einer Stunde oder zwei mit mir zurückkehren würde in mein schäbiges Zimmer, mit der Gemeinschaftstoilette draußen und den alten Weibern, die auf dem Treppenabsatz hockten.
Ich wünschte, das Gerücht über Phat Diem wäre mir niemals zu Ohren gekommen, oder es hätte sich auf irgendeinen anderen Ort bezogen als ausgerechnet auf die eine Stadt im Norden, wo mir meine Freundschaft mit einem französischen Marineoffizier gestatten würde, ohne Zensur und ohne Kontrolle hineinzuschlüpfen. Ein Zeitungsknüller? Nicht in jenen Tagen, wo die ganze Welt nur auf Nachrichten aus Korea wartete. Eine Gelegenheit, den Tod zu finden? Weshalb sollte ich sterben wollen, wenn Phuong jede Nacht neben mir schlief? Doch ich wußte die Antwort auf diese Fragen. Von Kindheit an hatte ich nie an Beständigkeit geglaubt und mich doch danach gesehnt. Unablässig beherrschte mich die Angst, ich könnte das Glück verlieren. Noch diesen Monat, oder nächstes Jahr, würde Phuong mich verlassen. Und wenn nicht nächstes Jahr, so in drei Jahren. Der Tod war der einzige absolute Wert in meiner Welt. Wer das Leben verlor, konnte für alle Ewigkeit nie wieder irgend etwas verlieren. Ich beneidete jene, die an einen Gott glauben konnten, und mißtraute ihnen; ich hatte das Gefühl, daß sie mit Hilfe einer Fabel vom Unveränderlichen und ewig Bestehenden ihren Mut aufrechterhielten. Dem Tod kam viel größere Gewißheit zu als Gott, und mit dem Tod würde die Gefahr, daß die Liebe mit jedem Tag sterben konnte, ein Ende finden. Der Alptraum einer Zukunft voll Langeweile und Gleichgültigkeit würde mir genommen werden. Ich hätte nie ein Pazifist sein können. Einen Menschen töten hieß mit Sicherheit, ihm eine unermeßliche Wohltat zu erweisen. O ja, allenthalben liebten die Leute ihre Feinde. Nur ihre Freunde verschonten sie, damit sie das Leid und die Leere erleben konnten.
»Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen Miss Phuong entführt habe«, sagte Pyles Stimme.
»Ach, ich bin kein Tänzer, aber ich sehe ihr gern beim Tanzen zu.« So sprach man stets von ihr: in der dritten Person, als wäre sie gar nicht anwesend. Bisweilen schien sie unsichtbar zu sein wie der Friede.
Die erste Kabarettvorstellung des Abends begann: eine Sängerin, ein Jongleur, ein Komiker – er war sehr obszön, aber als ich zu Pyle hinüberblickte, stellte ich fest, daß er dieser Art Sprache offensichtlich nicht folgen konnte. Er lächelte, wenn Phuong lächelte, und lachte unbehaglich, wenn ich lachte. »Ich möchte nur wissen, wo Granger jetzt ist«, sagte ich, und Pyle warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
Dann kam die Hauptattraktion des Abends: eine Truppe von Schauspielern, die Frauen imitierten. Ich hatte die meisten von ihnen schon im Laufe des Tages in der Rue Catinat auf und ab schlendern sehen, in alten Flanellhosen und Pullovern, mit einem bläulichen Bartschatten ums Kinn und sich in den Hüften wiegend. Jetzt, in tiefausgeschnittenen Abendkleidern, mit falschem Schmuck und falschen Brüsten und rauchigen Stimmen, wirkten sie mindestens ebenso begehrenswert wie die meisten europäischen Frauen in Saigon. Eine Gesellschaft von jungen Luftwaffenoffizieren pfiff ihnen zu, und sie lächelten glamourös zurück. Ich war überrascht von der plötzlichen Heftigkeit, mit der Pyle protestierte. »Fowler«, sagte er, »gehen wir. Wir haben genug gesehen, nicht wahr? Das ist doch ganz und gar unpassend für sie.«