Zweites Kapitel
1
Auf dem Weg zum Quai Mytho begegneten mir mehrere Ambulanzwagen, die von Cholon herüberkamen und zur Place Garnier fuhren. Die Geschwindigkeit, mit der sich ein Gerücht verbreitete, konnte man beinahe nach dem Ausdruck der Gesichter auf der Straße errechnen; jemandem, der wie ich aus der Richtung des Platzes kam, wandten sie sich zunächst erwartungsvoll und nachdenklich zu. Als ich aber endlich Cholon erreichte, da hatte ich die Nachricht vom Bombenanschlag bereits überholt – das geschäftige Leben ging dort ganz normal und ohne Unterbrechung weiter. Niemand wußte etwas.
Ich fand Mr. Chous Lagerhaus und stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Seit meinem letzten Besuch dort hatte sich nichts verändert. Die Katze und der Hund sprangen vom Boden zur Pappschachtel und weiter zum Koffer, wie zwei Springer im Schachspiel, die einander nie zu fassen bekommen. Das Baby kroch auf dem Fußboden umher, und die beiden alten Herrn spielten immer noch Mah-Jongg. Nur die jungen Leute waren abwesend. Sowie ich in der Tür auftauchte, begann auch schon eine der älteren Frauen Tee einzugießen. Die alte Dame saß auf dem Bett und betrachtete ihre Füße.
»Monsieur Heng?« fragte ich. Den Tee wehrte ich durch Kopfschütteln ab: Ich war nicht in der Stimmung, nochmals zahllose Tassen jenes armseligen bitteren Gebräus über mich ergehen zu lassen. »Il faut absolument que je voie Monsieur Heng.« Es schien unmöglich zu sein, ihnen die Dringlichkeit meiner Bitte nahezubringen, doch die Schroffheit, mit der ich den Tee zurückwies, verursachte vielleicht ein wenig Unruhe. Oder vielleicht hatte ich wie Pyle Blut an den Schuhen. Jedenfalls führte mich nach kurzem Zaudern eine der Frauen aus dem Zimmer und die Treppe hinab, durch das Menschengewühl zweier mit Fahnen behangener Gassen und ließ mich schließlich vor dem Eingang eines Ladens stehen, den man in Pyles Heimat vermutlich als »Bestattungssalon« bezeichnet hätte, voll mit steinernen Urnen, in denen die wiederauferstandenen Gebeine verstorbener Chinesen endlich ihre letzte Ruhestätte finden. »Monsieur Heng«, sagte ich zu einem greisen Chinesen im Eingang. »Monsieur Heng.« Dieser Ort schien mir ein passender Ruhepunkt an einem Tag, der mit der erotischen Sammlung des Plantagenbesitzers begonnen und mit den Mordopfern der Place Garnier seine Fortsetzung gefunden hatte. Jemand rief aus einem Hinterzimmer heraus, und der alte Chinese trat zur Seite und ließ mich ein.
Mr. Heng kam persönlich hervor, begrüßte mich herzlich und führte mich in ein kleines Zimmer, an dessen Wänden die schwarzen, geschnitzten und unbequemen Stühle standen, die man in jedem chinesischen Warteraum findet, kaum benützt und wenig einladend. Es schien mir aber, daß an diesem Tag die Stühle schon gebraucht worden waren, denn auf dem Tisch standen fünf winzige Teetassen, und zwei von ihnen waren noch nicht leer.
»Ich habe eine Zusammenkunft gestört«, sagte ich.
»Eine geschäftliche Angelegenheit«, sagte Mr. Heng ausweichend. »Ohne Belang. Ich freue mich immer, wenn ich Sie sehe, Mr. Fowler.«
»Ich komme eben von der Place Garnier«, sagte ich.
»Ich dachte mir schon, daß es sich darum handelt.«
»Sie haben davon gehört?«
»Man hat mich angerufen, man hielt es für das Beste, daß ich mich von Mr. Chous Haus eine Zeitlang fernhalte. Die Polizei wird heute sehr rührig sein.«
»Sie haben doch damit nichts zu tun.«
»Es ist Aufgabe der Polizei, einen Schuldigen zu finden.«
»Es war wiederum Pyle«, sagte ich.
»Ja.«
»Eine furchtbare Tat.«
»General Thé ist keine sehr beherrschte Persönlichkeit.«
»Und Plastikbomben sind kein Spielzeug für kleine Jungen aus Boston. Wer ist Pyles Vorgesetzter, Heng?«
»Ich habe den Eindruck, daß Pyle weitgehend sein eigener Herr ist.«
»Was ist er denn? Agent des O.S.S.?«
»Die Anfangsbuchstaben sind nicht das Entscheidende. Ich glaube jetzt, sie lauten anders.«
»Heng, was kann ich unternehmen? Man muß ihm das Handwerk legen.«
»Sie können die Wahrheit veröffentlichen. Oder ist Ihnen das vielleicht unmöglich?«
»Meine Zeitung interessiert sich nicht für General Thé. Dort interessiert man sich nur für Ihre Leute, Heng.«
»Mr. Fowler, Sie wollen wirklich, daß Mr. Pyle das Handwerk gelegt wird?«
»Wenn Sie ihn gesehen hätten. Er stand da und behauptete, es sei alles ein bedauerlicher Irrtum gewesen. Eigentlich hätte eine Parade stattfinden sollen. Er meinte, er müsse sich die Schuhe putzen lassen, bevor er zum Gesandten gehe.«
»Natürlich könnten Sie das, was Ihnen bekannt ist, auch der Polizei mitteilen.«
»Die interessiert sich ja auch nicht für Thé. Und glauben Sie, sie würde es wagen, einen Amerikaner anzurühren? Er genießt die Privilegien eines Diplomaten. Er ist Absolvent der Universität Harvard. Der Gesandte hält sehr viel von Pyle. Heng, dort war eine Frau, deren Baby – sie bedeckte es mit ihrem Strohhut. Der Anblick verfolgt mich. Und in Phat Diem sah ich ein anderes Kind.«
»Sie müssen versuchen, die Ruhe zu bewahren, Mr. Fowler.«
»Heng, was wird er als nächstes tun?«
»Wären Sie tatsächlich bereit, uns zu helfen, Mr. Fowler?«
»Er führt sich hier auf wie der Elefant im Porzellanladen, und wegen seiner Irrtümer müssen Menschen sterben. Hätten ihn Ihre Leute doch nur auf seiner Flußfahrt nach Nam Dinh erwischt. Das hätte für so viele Leben so viel Unterschied gemacht.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Mr. Fowler. Man muß ihn aufhalten. Ich mache Ihnen einen Vorschlag.« Jemand hüstelte leise hinter einer Tür und spuckte dann geräuschvoll aus. Heng sagte: »Laden Sie ihn doch heute abend zum Dinner im ›Vieux Moulin‹ ein. Zwischen halb neun und halb zehn.«
»Was erhoffen Sie sich davon?«
»Wir könnten auf dem Weg dorthin mit ihm sprechen«, sagte Heng.
»Es kann aber sein, daß er schon verabredet ist.«
»Dann wäre es vielleicht besser, wenn Sie ihn bäten, er möge Sie besuchen – sagen wir um sechs Uhr dreißig. Da wird er Zeit haben: Er wird gewiß kommen. Wenn es ihm möglich ist, mit Ihnen essen zu gehen, dann treten Sie mit einem Buch in der Hand ans Fenster, als ob Sie zum Lesen besseres Licht haben wollten.«
»Warum gerade das ›Vieux Moulin‹?«
»Es liegt an der Brücke nach Dakow – ich glaube, dort werden wir einen Platz ausfindig machen, wo wir uns mit ihm ungestört unterhalten können.«
»Und was haben Sie vor?«
»Das werden Sie nicht wissen wollen, Mr. Fowler. Aber ich verspreche Ihnen, daß wir so rücksichtsvoll mit ihm umgehen werden, wie es die Situation gestattet.«
Hinter der Wand bewegten sich Hengs unsichtbare Freunde gleich Ratten. »Werden Sie das für uns tun, Mr. Fowler?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich, »ich weiß nicht.«
»Früher oder später«, sagte Heng und erinnerte mich an Hauptmann Trouins Äußerungen im Opiumhaus, »muß man Partei ergreifen. Wenn man ein Mensch bleiben will.«