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Pyle fuhr fort, auszupacken. Er schichtete die Kisten so, daß sie einen schmalen Sims bildeten, auf den er den Rasierspiegel und die übrigen Toilettengegenstände stellte. »Ich zweifle, ob Sie hier Wasser kriegen werden«, sagte ich.

»Oh«, meinte er, »ich habe genug in der Thermosflasche für morgen früh.« Er setzte sich auf seinen Schlafsack und begann, die Stiefel auszuziehen.

»Wie in aller Welt sind Sie hierhergekommen?« fragte ich.

»Man ließ mich bis Nam Dinh durch, damit ich unsere Trachom-Bekämpfungsabteilung besuchen könnte, und dort mietete ich mir ein Boot.«

»Ein Boot?«

»Ach, es war so ein flacher Kahn – keine Ahnung, wie man die Dinger nennt. Das heißt, eigentlich mußte ich ihn kaufen. Kostete gar nicht viel.«

»Und sie fuhren damit ganz allein den Fluß herunter?«

»Das war nicht so schwierig. Ich ließ mich von der Strömung treiben.«

»Sie sind ja verrückt!«

»Durchaus nicht. Die einzig wirkliche Gefahr bestand darin, irgendwo auf Grund zu laufen.«

»Oder daß eine Marinepatrouille Sie zusammenschießt, oder ein französischer Flieger. Oder daß Ihnen die Vietminh die Kehle durchschneiden.«

Er lachte schüchtern. »Na, jedenfalls bin ich da.«

»Und wozu?«

»Nun, dafür gibt es zwei Gründe. Aber ich will Sie nicht so lange wach halten.«

»Ich bin nicht müde. Die Geschütze werden bald das Feuer eröffnen.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich die Kerze woanders hinstelle? Hier ist sie mir ein bißchen zu hell.« Er schien nervös zu sein.

»Also, was ist Ihr erster Grund?«

»Nun, kürzlich brachten Sie mich auf den Gedanken, daß diese Gegend sehr interessant sein könnte. Sie erinnern sich, als wir mit Granger beisammen waren … und mit Phuong.«

»Ja, und?«

»Da kam mir die Idee, ich könnte mir die Geschichte mal ansehen. Um es ganz ehrlich zu sagen, ich schämte mich ein wenig für Granger.«

»Aha. Alles ganz einfach.«

»Na, es gab doch keine wirkliche Schwierigkeit, nicht wahr?« Er begann mit den Schnürbändern seiner Stiefel zu spielen, und es trat eine lange Stille ein. »Ich war vorhin nicht ganz aufrichtig«, sagte er endlich.

»Nicht?«

»Nein, denn eigentlich bin ich gekommen, um mit Ihnen zu sprechen.«

»Sie sind hierhergekommen, um mit mir zu sprechen?«

»Ja.«

»Weshalb?«

Er sah in qualvoller Verlegenheit von den Schuhbändern auf. »Ich mußte es Ihnen gestehen – ich habe mich in Phuong verliebt.«

Ich lachte. Ich konnte einfach nicht anders. Er sagte so überraschende Dinge und blieb dabei so todernst. »Hätte das nicht warten können, bis ich zurückkam?« fragte ich. »Nächste Woche bin ich wieder in Saigon.«

»Sie hätten ums Leben kommen können«, sagte er. »Dann wäre es unehrenhaft gewesen. Und außerdem weiß ich nicht, ob ich es fertiggebracht hätte, Phuong die ganze Zeit fernzubleiben.«

»Wollen Sie damit sagen, Sie haben sich von ihr ferngehalten?«

»Selbstverständlich. Sie werden doch nicht etwa annehmen, daß ich es ihr sagen würde – ohne Ihr Wissen.«

»So etwas kommt vor«, meinte ich. »Wann ist es denn passiert?«

»Ich glaube, es war an dem Abend, als wir im ›Chalet‹ waren und ich mit ihr tanzte.«

»Und ich dachte, Sie wären gar nicht nahe genug an sie herangekommen.«

Er sah mich verdutzt an. Wenn mir sein Verhalten verrückt erschien, so war das meine für ihn offensichtlich völlig unbegreiflich. »Wissen Sie, es lag wohl daran, daß ich in jenem Haus die vielen Mädchen gesehen hatte. Sie waren so hübsch. Ja, Phuong hätte eine von ihnen sein können, und da wollte ich sie beschützen.«

»Ich denke, sie braucht keinen Schutz. Hat vielleicht Miss Hei Sie eingeladen?«

»Ja, aber ich bin nicht hingegangen. Ich habe mich ferngehalten.« Düster sagte er: »Es war schrecklich. Ich komme mir so gemein vor. Aber Sie glauben mir doch, nicht wahr, wenn Sie verheiratet wären – nun, daß ich mich niemals zwischen einen Mann und seine Frau drängen würde.«

»Sie scheinen ja sehr sicher zu sein, daß Sie sich dazwischendrängen können.« Zum erstenmal hatte er mich gereizt.

»Fowler«, sagte er. »Ich weiß Ihren Vornamen nicht …«

»Thomas. Warum?«

»Ich darf Sie doch Tom nennen, nicht? Irgendwie habe ich das Gefühl, daß uns diese Sache zusammengebracht hat. Die Liebe zu derselben Frau, meine ich.«

»Und was ist jetzt Ihr nächster Schachzug?«

Voll Begeisterung setzte er sich auf, hinter sich die Kisten. »Jetzt, wo Sie es wissen, sieht auf einmal alles ganz anders aus«, sagte er. »Ich werde Phuong bitten, mich zu heiraten, Tom.«

»Es ist mir lieber, wenn Sie mich Thomas nennen.«

»Sie wird einfach zwischen uns beiden wählen müssen, Thomas. Das ist doch ganz fair.« War es wirklich fair? Ich spürte zum erstenmal den eisigen Hauch künftiger Einsamkeit. Das Ganze war phantastisch, und doch … Pyle war vielleicht ein armseliger Liebhaber, aber ich war ein armseliger Mensch. Er hielt in seiner Hand den unermeßlichen Reichtum der Respektabilität.

Er begann sich zu entkleiden, und ich dachte: Jung ist er auch! – Wie traurig war es doch, Pyle beneiden zu müssen.

»Ich kann sie nicht heiraten. Ich habe daheim eine Frau«, sagte ich. »Sie würde sich nie von mir scheiden lassen. Sie gehört der Hochkirche an – falls Sie wissen, was das bedeutet.«

»Das bedaure ich sehr, Thomas. Übrigens, mein Vorname ist Alden, wenn Sie mich so nennen wollen …«

»Ich bleibe lieber bei Pyle«, sagte ich. »Die Vorstellung von Ihnen verbinde ich immer mit dem Namen Pyle.«

Er schlüpfte in den Schlafsack und griff nach der Kerze. »Huh! Bin ich froh, daß das vorüber ist, Thomas. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen.« Es war ihm nur zu deutlich anzusehen, daß er es jetzt nicht mehr hatte.

Nachdem er die Kerze ausgelöscht hatte, konnte ich im Schein der Flammen vor dem Fenster eben noch die Umrisse seines militärischen Bürstenhaarschnitts ausnehmen. »Gute Nacht, Thomas. Schlafen Sie gut.« Und als hätte er mit diesem Wunsch in einer schlechten Komödie ein Stichwort gegeben, eröffneten im selben Augenblick die Granatwerfer ihr Feuer, jeder Schuß ein Schwirren, ein Aufheulen, ein dumpfes Krachen.

»Grundgütiger, ist das ein Angriff?« sagte Pyle.

»Sie versuchen, einen Angriff aufzuhalten.«

»Na, dann gibt’s für uns wohl keinen Schlaf mehr?«

»Nein.«

»Thomas, ich möchte Ihnen gern sagen, was ich von der Art denke, wie Sie alles hingenommen haben – Sie sind hochnobel gewesen, wirklich hochnobel – es gibt kein anderes Wort dafür.«

»Vielen Dank.«

»Sie haben so viel mehr von der Welt gesehen als ich. Wissen Sie, in mancher Hinsicht ist Boston ein bißchen – beengend. Selbst wenn man nicht ein Lowell oder ein Cabot ist. Könnten Sie mich nicht beraten, Thomas?«

»Worin denn?«

»Phuong.«

»An Ihrer Stelle würde ich nicht meinen Ratschlägen vertrauen. Ich bin nämlich voreingenommen, ich möchte sie behalten.«

»Aber ich weiß doch, daß Sie es ehrlich meinen, absolut ehrlich. Uns beiden liegt doch nur Phuongs Vorteil am Herzen.«

Plötzlich konnte ich seine Knabenhaftigkeit nicht länger ertragen. Ich sagte: »Phuongs Vorteil ist mir schnuppe. Sie können ihren Vorteil haben, ich möchte nur ihren Körper. Ich möchte sie bei mir im Bett haben. Eher möchte ich sie ruinieren und mit ihr schlafen als – als … mich um ihren verdammten Vorteil kümmern.«

»Oh«, brachte er mit schwacher Stimme im Dunkel hervor.

Ich fuhr fort: »Wenn es Ihnen nur um ihren Vorteil geht, dann lassen Sie Phuong um Gottes willen in Ruhe. Wie jede andere Frau hätte auch sie lieber einen guten …« Das Krachen einer Granate rettete die vornehmen Bostoner Ohren vor dem angelsächsischen Wort.

Doch in Pyle steckte unerbittliche Zähigkeit. Er hatte entschieden, daß ich mich einwandfrei benahm, und so mußte ich mich auch einwandfrei benehmen. »Ich weiß, was Sie leiden, Thomas«, sagte er.

»Ich leide gar nicht.«

»O ja, Sie leiden. Ich weiß, was ich leiden würde, wenn ich Phuong aufgeben müßte.«

»Aber ich habe sie nicht aufgegeben.«

»Thomas, auch ich bin recht sinnlich, aber ich würde jede Hoffnung auf solche Dinge aufgeben, wenn ich nur Phuong glücklich sehen könnte.«

»Sie ist ja glücklich.«

»Sie kann es nicht sein – nicht in ihrer jetzigen Lage. Sie braucht Kinder.«

»Glauben Sie wirklich den ganzen Blödsinn, den ihre Schwester …?«

»Eine Schwester weiß manchmal besser, was …«

»Sie hat nur versucht, Ihnen diesen Gedanken einzureden, weil sie glaubt, Sie haben mehr Geld. Und, bei Gott, das ist ihr gelungen.«

»Ich habe nur mein Gehalt.«

»Na, jedenfalls können Sie das zu einem günstigen Kurs umwechseln.«

»Seien Sie nicht so bitter, Thomas. Solche Dinge passieren nun einmal. Ich wollte, es wäre einem anderen passiert, und nicht gerade Ihnen. Sind das unsere Granatwerfer?«

»Ja, das sind ›unsere‹ Granatwerfer. Pyle, Sie reden gerade so, als ob Phuong mich verlassen würde.«

»Natürlich wäre es möglich, daß sie sich entschließt, bei Ihnen zu bleiben«, sagte er ohne innere Überzeugung.

»Und was würden Sie in diesem Fall tun?«

»Ich würde um Versetzung ansuchen.«

»Warum gehen Sie nicht einfach fort, Pyle, ohne Unfrieden zu stiften?«

»Das wäre ihr gegenüber nicht fair, Thomas«, sagte er ganz ernst. Ich habe nie einen Menschen gekannt, der bessere Beweggründe für all das Unheil gehabt hätte, das er anrichtete. »Ich glaube, Sie verstehen Phuong nicht ganz«, schloß er.

Und als ich etliche Monate später an jenem Morgen erwachte und Phuong an meiner Seite lag, dachte ich: Und hast du sie etwa verstanden? Hättest du diese Situation vorhersehen können? Phuong so glücklich schlafend neben mir und du tot? – Die Zeit nimmt ihre Rache, aber die Rache schmeckt oft bitter. Wäre es nicht besser, wir versuchten gar nicht erst, einander zu verstehen, und fänden uns mit der Tatsache ab, daß kein Mensch jemals einen anderen versteht, nicht die Gattin den Gatten, nicht der Liebhaber die Geliebte, nicht die Eltern das Kind? Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Menschen Gott erfunden haben – ein Wesen, das fähig ist zu verstehen. Vielleicht könnte ich mir sogar, wenn ich andere verstehen oder von ihnen verstanden werden wollte, den Glauben an Gott einreden. Doch ich bin ein Reporter; Gott existiert bloß für die Verfasser der Leitartikel.

»Sind Sie auch sicher, daß es bei ihr viel zu verstehen gibt?« fragte ich ihn. »Trinken wir um Gottes willen einen Whisky! Es ist zu laut für eine Debatte.«

»Es ist ein bißchen früh«, sagte Pyle.

»Es ist verdammt spät.«

Ich goß zwei Gläser voll. Pyle nahm das seine in die Hand und starrte durch den Whisky hindurch in die Kerzenflamme. Seine Hand zitterte jedesmal, wenn eine Granate explodierte, und doch hatte er diese sinnlose Reise aus Nam Dinh unternommen.

Er sagte: »Merkwürdig, daß keiner von uns ein Prosit über die Lippen bringt.« So tranken wir also und sagten nichts.