Fünftes Kapitel

 

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Ich hatte angenommen, ich würde nur eine Woche von Saigon fort sein, aber es vergingen fast drei, ehe ich dorthin zurückkehrte. Vor allem erwies es sich als schwieriger, aus dem Gebiet von Phat Diem herauszukommen, als dort hineinzugelangen. Die Straße zwischen Nam Dinh und Hanoi war unterbrochen, und einen Platz in einem Flugzeug konnte man für einen Reporter, der ohnehin nicht hätte dort sein dürfen, nicht erübrigen. Als ich Hanoi erreichte, waren die Zeitungskorrespondenten zur Unterweisung über den jüngst errungenen Sieg eben heraufgeflogen worden, und in der Maschine, die sie zurückbrachte, war für mich kein Platz frei. Pyle hatte noch am Morgen nach seiner Ankunft Phat Diem verlassen; er hatte seine Mission – mit mir über Phuong zu sprechen – erfüllt; es gab also nichts, was ihn noch festgehalten hätte. Ich hatte ihn schlafend zurückgelassen, als um fünf Uhr dreißig das Granatwerferfeuer eingestellt worden war; und als ich von einer Tasse Kaffee und einigen Keks in der Offiziersmesse zurückkehrte, war er bereits verschwunden. Ich nahm an, daß er einen kleinen Spaziergang unternommen habe – nach der Bootsfahrt von Nam Dinh herunter würden ihn ein paar Heckenschützen kaum gestört haben; er war ebenso unfähig, sich den Schmerz oder die Gefahr vorzustellen, die ihm selbst drohten, wie er unfähig war, den Schmerz zu empfinden, den er anderen bereiten mochte. Bei einem Anlaß – doch das war Monate später – verlor ich die Selbstbeherrschung und stieß seinen Fuß geradezu hinein, in den Schmerz, meine ich, und ich entsinne mich heute noch, wie er sich abwandte, perplex seinen beschmutzten Schuh betrachtete und erklärte: »Ich muß sie mir putzen lassen, bevor ich den Gesandten aufsuche.« Da wußte ich, daß er seine Phrasen bereits in dem Stil formte, den er von York Harding gelernt hatte. Und doch meinte er es auf seine Art ehrlich: Es war reiner Zufall, daß die Opfer jeweils von anderen gebracht werden mußten – bis zu jener letzten Nacht unter der Brücke von Dakow.

Erst bei meiner Rückkehr nach Saigon sollte ich erfahren, daß Pyle, während ich meinen Kaffee trank, einen jungen Marineoffizier überredet hatte, ihn in einem Landungsboot mitzunehmen, das ihn nach der üblichen Patrouillenfahrt heimlich in Nam Dinh an Land setzte. Er hatte Glück und gelangte, vierundzwanzig Stunden bevor die Straße amtlich als unterbrochen gemeldet wurde, mit seinem Trupp zur Trachom-Bekämpfung nach Hanoi zurück. Als ich dorthin kam, war er bereits nach Süden weitergereist, hatte aber beim Barmann des Presselagers einen Brief für mich hinterlassen.

»Lieber Thomas«, schrieb er, »ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie nobel Sie neulich waren. Das Herz fiel mir in die Hosen, das kann ich Ihnen sagen, als ich in das Zimmer kam, wo ich Sie finden sollte.« (Wo war es denn auf der langen Bootsfahrt den Fluß herunter gewesen?) »Es gibt nicht viele Männer, die die ganze Sache so gelassen aufgenommen hätten. Sie waren großartig, und nun, da ich Ihnen alles gestanden habe, komme ich mir lange nicht mehr so gemein vor wie vorher.« (War er denn der einzige, der zählte? fragte ich mich wütend, und doch wußte ich, daß er es nicht so meinte. Für ihn nahm die ganze Angelegenheit in dem Augenblick eine glückliche Wendung, in dem er sich nicht mehr gemein vorkam – ich würde glücklicher sein, Phuong würde glücklicher sein, die ganze Welt würde glücklicher sein, sogar der Handelsattaché und der Gesandte. Der Frühling hatte in Indochina Einzug gehalten, nun, da Pyle sich nicht mehr gemein vorkam.) »Ich habe hier vierundzwanzig Stunden auf Sie gewartet; aber wenn ich nicht heute abreise, werde ich erst in einer Woche nach Saigon gelangen, und mein Arbeitsfeld liegt im Süden. Den Jungs, die die Trachom-Bekämpfungstrupps anführen, habe ich gesagt, sie sollen sich mit Ihnen in Verbindung setzen – sie werden Ihnen gefallen. Es sind Prachtkerle und leisten ganze Männerarbeit. Machen Sie sich keine Sorgen, weil ich vor Ihnen nach Saigon zurückfahre. Ich verspreche Ihnen, Phuong bis zu Ihrer Rückkehr nicht zu besuchen. Ich möchte nicht, daß Sie später einmal das Gefühl haben, ich sei Ihnen gegenüber in irgendeiner Weise unfair gewesen. Mit herzlichsten Grüßen, Ihr Alden.«

Schon wieder diese sichere Annahme, daß »später einmal« ich es sein sollte, der Phuong verlieren würde. Stützt sich denn Selbstvertrauen auf den Wechselkurs? Wir Engländer pflegten einst gewisse Charaktereigenschaften mit unserem soliden Pfund Sterling zu vergleichen. Sind wir jetzt gezwungen, von einer Dollarliebe zu reden? Eine Dollarliebe würde Heirat, einen Stammhalter und den Muttertag einschließen, obwohl später auch Reno und die Jungferninseln dazukommen mochten, oder wohin die Amerikaner sonst heutzutage gehen, wenn sie sich scheiden lassen wollen. Eine Dollarliebe hatte gute Vorsätze, ein reines Gewissen und scherte sich den Teufel um alle anderen. Meine Liebe hingegen hatte keine Vorsätze: Sie kannte die Zukunft. Man konnte nicht mehr tun, als zu versuchen, der Zukunft ihre Härte zu nehmen, sie, wenn sie kam, anderen schonend beizubringen, und da hatte sogar das Opium seine Qualitäten. Doch niemals hätte ich geahnt, daß die erste Zukunft, die ich Phuong schonend beibringen mußte, Pyles Tod sein sollte.

Da ich nichts Besseres zu tun wußte, begab ich mich zur Pressekonferenz. Granger war natürlich dort. Den Vorsitz führte ein junger und viel zu hübscher französischer Oberst. Er sprach französisch, und ein untergeordneter Offizier übersetzte. Die französischen Korrespondenten saßen beisammen wie eine gegnerische Fußballmannschaft. Es fiel mir schwer, mich auf die Ausführungen des Obersten zu konzentrieren; immer wieder wanderten meine Gedanken zu Phuong und der einen bangen Frage zurück: Angenommen, Pyle hat recht und ich verliere sie – wohin kann man von hier aus noch gehen?

Der Dolmetscher erklärte: »Der Oberst gibt Ihnen bekannt, daß der Feind eine empfindliche Niederlage und schwere Verluste erlitten hat – etwa in Stärke eines Bataillons. Seine Nachhut zieht sich derzeit auf improvisierten Flößen über den Roten Fluß zurück. Sie wird von unserer Luftwaffe ununterbrochen bombardiert.« Der Oberst fuhr sich mit der Hand durch das elegant gekämmte strohblonde Haar und tänzelte, den Zeigestab schwenkend, an der langen Reihe von Wandkarten entlang. Ein amerikanischer Korrespondent stellte die Frage: »Wie hoch sind die französischen Verluste?«

Der Oberst kannte die Bedeutung dieser Frage nur zu genau – meist wurde sie in dieser Phase der Pressekonferenz aufgeworfen –, aber er wartete, mit dem gütigen Lächeln eines beliebten Lehrers den Zeigestab erhoben, bis die Frage übersetzt war. Dann gab er mit geduldiger Miene eine zweideutige Antwort.

»Der Oberst sagt, daß unsere Verluste nicht schwer waren. Die genauen Ziffern sind allerdings noch nicht bekannt.«

Das war stets das Zeichen zum Aufruhr. Man sollte meinen, der Oberst hätte früher oder später eine Methode gefunden, um mit seiner Klasse von widerspenstigen Schülern fertig zu werden, oder der Schulleiter hätte ein anderes Mitglied seines Lehrkörpers, das besser Disziplin halten konnte, mit dieser Aufgabe betraut.

»Will uns der Oberst allen Ernstes glauben machen«, ließ sich Granger vernehmen, »daß er wohl Zeit gehabt hat, die Toten des Feindes zu zählen, nicht aber seine eigenen?«

Mit Langmut wob der Oberst sein Gespinst von Ausflüchten weiter, von dem er genau wissen mußte, daß schon die nächste Frage es zerstören würde. Die französischen Berichterstatter saßen in düsterem Schweigen da. Sollten ihre amerikanischen Kollegen den Oberst zu einem Eingeständnis reizen, dann würden sie sich gierig darauf stürzen, aber an einem Kesseltreiben gegen ihren Landsmann würden sie sich nicht beteiligen.

»Der Oberst sagt, daß die feindlichen Streitkräfte überrannt werden. Es ist zwar möglich, die Gefallenen hinter der Kampflinie zu zählen, aber während die Schlacht noch im Gang ist, können Sie von den vorrückenden französischen Einheiten keine Zahlenangaben erwarten.«

»Es dreht sich nicht darum, was wir erwarten«, entgegnete Granger, »sondern was der Etat-Major weiß oder nicht weiß. Wollen Sie uns im Ernst einreden, daß die einzelnen Züge ihre Verluste nicht laufend mittels Funkgerät melden?«

Die Gelassenheit des Obersten war im Schwinden. Hätte er uns doch nur, so dachte ich, gleich zu Beginn den Wind aus den Segeln genommen und mit aller Entschiedenheit erklärt, daß er die Verlustziffern wohl kenne, sie aber nicht bekanntzugeben gedenke. Schließlich war das der Krieg der Franzosen, nicht der unsere. Wir hatten keinen gottgegebenen Anspruch auf Informationen. Wir mußten nicht zwischen dem Roten und dem Schwarzen Fluß gegen die Truppen Ho Chi Minhs und zugleich in Paris gegen die Abgeordneten der Linken kämpfen. Wir starben nicht.

Bissig stieß plötzlich der Oberst die Mitteilung hervor, daß die französischen Verluste zu denen des Feindes im Verhältnis von eins zu drei gestanden hätten. Dann kehrte er uns den Rücken und starrte wütend auf seine Landkarten. Diese Männer, die nun tot waren, waren seine Kameraden gewesen, hatten demselben Jahrgang von St. Cyr angehört – für ihn waren sie keine Ziffern wie für Granger. »Na, jetzt kommen wir endlich vom Fleck«, sagte Granger und sah sich mit einem Blick einfältigen Triumphs in der Runde seiner Kollegen um; gesenkten Hauptes machten die Franzosen ihre düsteren Notizen.

»Das ist mehr, als man über Korea sagen kann«, bemerkte ich, indem ich seine Worte mit Absicht mißverstand. Doch damit wies ich Granger nur eine neue Angriffsrichtung.

»Fragen Sie den Herrn Oberst«, sagte er, »was das französische Kommando als nächstes unternehmen wird. Er sagt, der Feind sei auf der Flucht über den Schwarzen Fluß …«

»Roten Fluß«, verbesserte ihn der Übersetzer.

»Ist mir gleichgültig, welche Farbe der Fluß hat. Was wir gerne hören möchten, ist, was die Franzosen jetzt zu tun gedenken.«

»Der Feind ist auf der Flucht.«

»Und was geschieht, wenn er auf das andere Ufer kommt? Was werden Sie dann tun? Werden Sie auf Ihrem Ufer sitzenbleiben und sagen: ›Das wäre erledigt‹« Die französischen Offiziere lauschten der tyrannischen Stimme in finsterer Geduld. Heutzutage verlangt man sogar Demut von einem Soldaten. »Werden Sie ihnen Weihnachtskarten abwerfen?«

Der Hauptmann übersetzte mit Sorgfalt, selbst bis hin zu dem Ausdruck »cartes de Noël«. Der Oberst schenkte uns ein frostiges Lächeln. »Weihnachtskarten nicht«, sagte er.

Ich glaube, daß die Jugend und die Schönheit des Obersten auf Granger besonders aufreizend wirkten. Der Oberst war – zumindest nach Grangers Auffassung – nicht der Männertyp, der sich in Männergesellschaft wohlfühlte. Granger sagte: »Sonst werfen Sie ja nicht viel ab.«

Plötzlich sprach der Oberst Englisch, gutes Englisch. Er erklärte: »Wenn das von den Amerikanern versprochene Kriegsmaterial eingetroffen wäre, könnten wir mehr abwerfen.« Trotz seiner Eleganz war er ein schlichter Mann. Er glaubte, daß einem Zeitungskorrespondenten die Ehre seines Vaterlands mehr bedeutete als eine interessante Nachricht. Scharf fragte Granger (er war tüchtig: er merkte sich Daten sehr gut): »Sie wollen also sagen, daß von dem für Anfang September in Aussicht gestellten Material noch nichts angekommen ist?«

»Nein, nichts ist angekommen.«

Jetzt hatte Granger seine Neuigkeit: Er begann zu schreiben.

»Entschuldigen Sie«, sagte der Oberst, »aber diese Äußerung ist nicht zur Veröffentlichung bestimmt, sondern bloß Hintergrundinformation.«

»Aber, Herr Oberst«, protestierte Granger. »Das ist doch etwas Neues. Da können wir Ihnen helfen.«

»Nein, das ist Sache der Diplomaten.«

»Was kann es schon schaden?«

Die französischen Berichterstatter waren in Verlegenheit: Sie sprachen sehr wenig Englisch. Der Oberst hatte die Regeln übertreten. Unter erregtem Gemurmel steckten sie die Köpfe zusammen.

»Das kann ich nicht beurteilen«, sagte der Oberst. »Vielleicht würden die amerikanischen Zeitungen sagen: ›Diese Franzosen beklagen sich in einem fort und betteln ständig.‹ Und in Paris würden die Kommunisten den Vorwurf erheben, daß die Franzosen ihr Blut für Amerika vergießen, und Amerika schickt ihnen nicht einmal einen gebrauchten Hubschrauber. Damit ist nichts getan. Am Ende würden wir noch immer keine Hubschrauber haben, und der Feind wäre noch immer da, fünfzig Meilen vor Hanoi.«

»Aber das eine kann ich wenigstens abdrucken – nicht wahr? –, daß Sie dringend Hubschrauber benötigen?«

»Sie können schreiben, daß wir vor sechs Monaten noch drei Hubschrauber hatten und jetzt einen«, sagte der Oberst. »Einen«, wiederholte er in einer Art staunender Verbitterung. »Sie können schreiben, daß ein Soldat, der in diesen Kämpfen verwundet wird, nicht schwer verwundet, sondern bloß verwundet, weiß, daß er wahrscheinlich ein toter Mann ist. Zwölf Stunden, vielleicht vierundzwanzig Stunden auf der Tragbahre bis zum Sanitätswagen, dann elende Karrenwege, eine Panne, möglicherweise ein Hinterhalt, Gangrân. Da ist es besser, man ist sofort tot.« Die französischen Berichterstatter beugten sich vor und versuchten, zu verstehen. »Das können Sie schreiben«, schloß der Oberst und sah dabei gerade wegen seiner körperlichen Schönheit nur noch bösartiger aus. »Interprétez«, befahl er, stapfte aus dem Zimmer und überließ dem Hauptmann die ungewohnte Aufgabe, aus dem Englischen ins Französische zu übersetzen.

»Den habe ich an seinem wunden Punkt getroffen«, sagte Granger voll Genugtuung und zog sich in einen Winkel an der Bar zurück, um dort sein Telegramm abzufassen. Das meine war bald geschrieben: Nichts, was ich von Phat Diem aus hätte melden können, wäre von der Zensur durchgelassen worden. Wäre die Story gut genug gewesen, hätte ich nach Hongkong fliegen und sie von dort absenden können. Doch war irgendeine Nachricht gut genug, um ihretwegen die Ausweisung zu riskieren? Ich bezweifelte es. Die Ausweisung hätte das Ende eines ganzen Lebens, hätte den Sieg Pyles bedeutet. Und da: als ich in mein Hotel zurückkehrte, erwartete mich in meinem Brieffach tatsächlich sein Sieg, das Ende der Affäre – ein Glückwunschtelegramm zur Beförderung. Diese Marter hatte Dante für seine verdammten Liebenden nie ersonnen. Paolo avancierte nie zum Purgatorio.

Ich ging hinauf in mein nüchternes Zimmer, wo der Kaltwasserhahn tropfte (in ganz Hanoi gab es kein heißes Wasser), und setzte mich auf den Rand des Bettes; über mir hing gleich einer mächtigen Wolke der Bausch des Moskitonetzes. Ich sollte die Stelle des Auslandsredakteurs übernehmen, sollte jeden Nachmittag um halb vier in dem finsteren viktorianischen Gebäude in der Nähe des Bahnhofs Blackfriars erscheinen, wo sich neben der Fahrstuhltür eine Gedenktafel für Lord Salisbury befindet. Man hatte mir diese Freudenbotschaft aus Saigon nachgesandt, und ich fragte mich, ob sie bereits Phuong zu Ohren gekommen war. Ich sollte nicht mehr Berichterstatter sein: Ich sollte Ansichten haben, und als Gegenleistung für dieses wertlose Privileg nahm man mir meine letzte Chance im Zweikampf mit Pyle. Seiner Unschuld konnte ich meine Erfahrung entgegenstellen, das Alter war im Spiel um die Liebe eine ebenso gute Karte wie die Jugend. Doch jetzt hatte ich nicht einmal mehr die begrenzte Zukunft von zwölf Monaten zu bieten, und eine Zukunft war Trumpf. Ich beneidete den ärmsten, von Heimweh gequälten Offizier, der dazu verurteilt war, hier sein Leben aufs Spiel zu setzen. Ich hätte gern geweint, aber meine Tränendrüsen waren so ausgetrocknet wie die Heißwasserleitung. Oh, ich verzichtete auf die Heimat – ich wollte nur mein Zimmer in der Rue Catinat.

Es war kalt in Hanoi nach Einbruch der Dunkelheit, und die Lichter waren gedämpfter als jene in Saigon; sie paßten besser zur dunkleren Kleidung der Frauen und zum Krieg. Ich ging durch die Rue Gambetta zur »Pax Bar« – ich wollte nicht im »Metropole« mit den höheren französischen Offizieren, ihren Gattinnen und ihren Freundinnen trinken. Und als ich bei der Bar anlangte, vernahm ich fernen Geschützdonner aus der Richtung von Hoa Binh. Bei Tag wurde er vom Lärm des Straßenverkehrs übertönt, aber jetzt war alles still bis auf das Geklingel der Fahrradglocken, mit dem die Rikschafahrer um ihre Kunden warben. Pietri saß an seinem gewohnten Platz. Er hatte einen merkwürdig langgezogenen Schädel, der ihm auf den Schultern saß wie eine Birne auf einer Schüssel; er war Beamter der Sureté und war mit einer hübschen Tonkinesin verheiratet, der die »Pax Bar« gehörte. Auch er hatte kein besonderes Verlangen heimzukehren. Er stammte aus Korsika, zog aber Marseille vor, und Marseille gegenüber zog er jederzeit seinen Platz auf dem Gehsteig der Rue Gambetta vor. Ich fragte mich, ob er den Inhalt meines Telegramms bereits kannte.

»Quatre Cent Vingt-et-un?« fragte er.

»Warum nicht?«

Wir begannen zu würfeln, und es schien mir unmöglich, daß es für mich je wieder ein Leben geben könnte fern der Rue Gambetta und der Rue Catinat, ohne den schalen Geschmack von Vermouth-Cassis, das anheimelnde Klappern der Würfel und ohne den Kanonendonner, der gleich einem Uhrzeiger rings um den Horizont wanderte.

Ich sagte: »Ich fahre zurück.«

»Nach Hause?« fragte Pietri, während er vier-zwei-eins warf.

»Nein. Nach England.«