3

 

Es ist nicht leicht, zum erstenmal wieder dem Menschen zu begegnen, dem man – wie es so schön heißt – das Leben verdankt. Ich hatte Pyle während meines Aufenthalts im Lazarett der Legion nicht gesehen, und sein Fernbleiben und Schweigen, beide leicht erklärlich (denn er reagierte auf Peinlichkeiten stärker als ich), beunruhigten mich bisweilen in übertriebenem Ausmaß, so daß ich mir abends, ehe die wohltuende Wirkung des Schlafmittels einsetzte, oft vorstellte, wie er meine Treppe hinaufging, an meine Tür klopfte und in meinem Bett schlief. Ich hatte ihm damit unrecht getan, und so hatte ich zu meiner anderen, mehr förmlichen Verpflichtung noch Schuldgefühle hinzugefügt. Überdies drückte mich wohl auch wegen meines Briefs das Gewissen. (Welch ferne Vorfahren hatten mir dieses törichte Gewissen hinterlassen? Sie waren doch bestimmt frei davon gewesen, als sie in ihrer paläolithischen Welt schändeten und mordeten.)

Sollte ich meinen Lebensretter zum Dinner einladen, fragte ich mich mitunter, oder sollte ich ein Treffen in der Bar des »Continental« vorschlagen und ihm einen Drink spendieren? Es war ein ungewöhnliches gesellschaftliches Problem, dessen Lösung vielleicht davon abhing, welchen Wert man dem eigenen Leben beimaß. Ein Essen und eine Flasche Wein, oder einen doppelten Whisky? – Diese Frage beschäftigte mich mehrere Tage lang, bis Pyle selbst die Lösung herbeiführte, als er erschien und durch die versperrte Tür zu mir hereinrief. Ich verschlief gerade die Nachmittagshitze, erschöpft von dem vormittäglichen Versuch, mein Bein zu bewegen, und hörte nicht sein Klopfen.

»Thomas, Thomas.« Sein Ruf drang in meinen Traum, in dem ich durch eine lange, menschenleere Straße ging und nach einer Seitengasse suchte, die nie kam. Die Straße entrollte sich vor mir so einförmig wie der Papierstreifen eines Telegrafenapparats und hätte sich nie verändert, wenn nicht die Stimme hereingebrochen wäre – zuallererst wie Schmerzensschreie aus einem Turm, und dann plötzlich wie eine Stimme, die mich persönlich ansprach: »Thomas, Thomas.«

Flüsternd sagte ich: »Gehen Sie weg, Pyle. Kommen Sie mir nicht nahe. Ich will nicht gerettet werden.«

»Thomas!« Er hämmerte mit dem Fuß gegen die Tür; aber ich lag da und gab kein Lebenszeichen, als wäre ich wieder im Reisfeld und er ein Feind. Plötzlich bemerkte ich, daß das Pochen aufgehört hatte, jemand sprach draußen mit leiser Stimme, und jemand anders antwortete. Geflüster ist etwas Gefährliches. Ich konnte nicht erkennen, wer die Sprecher waren. Ich erhob mich behutsam von meinem Bett und erreichte mit Hilfe des Stocks die Tür des Vorderzimmers. Vielleicht hatte ich mich zu hastig bewegt und sie hatten mich gehört, denn draußen entstand eine Stille. Eine Stille, die wuchs und gleich einer Pflanze Ranken ausstreckte: Sie schien unter der Tür hereinzuwachsen und ihre Blätter im Zimmer auszubreiten, in dem ich stand. Es war eine Stille, die ich nicht mochte, und ich zerriß sie, indem ich die Tür aufstieß. Auf dem Gang stand Phuong und Pyles Hände lagen auf ihren Schultern: Nach ihrer Stellung zu schließen, mochten sie sich gerade nach einem Kuß getrennt haben.

»Ach, kommen Sie doch herein«, sagte ich, »kommen Sie herein.«

»Ich klopfte so laut, aber Sie hörten mich nicht«, sagte Pyle.

»Zuerst schlief ich, und dann wollte ich mich nicht stören lassen. Jetzt bin ich gestört. Also kommen Sie herein.« Phuong fragte ich auf französisch: »Wo hast du ihn aufgelesen?«

»Hier. Im Korridor«, sagte sie. »Ich hörte jemand klopfen und lief herauf, um ihn einzulassen.«

»Nehmen Sie Platz«, sagte ich zu Pyle. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«

»Nein, Thomas, und ich möchte mich auch nicht setzen.«

»Ich muß mich setzen. Das Bein ermüdet sehr schnell. Meinen Brief haben Sie doch erhalten?«

»Ja. Ich wollte, Sie hätten ihn nicht geschrieben.«

»Warum?«

»Weil er lauter Lügen enthält. Ich habe Ihnen vertraut, Thomas.«

»Sie sollten keinem Mann trauen, wenn eine Frau im Spiel ist.«

»Dann dürfen Sie mir in Hinkunft auch nicht trauen. Wenn Sie ausgehen, werde ich mich hier hereinschleichen; ich werde an Phuong Briefe schreiben, in einem mit Maschine beschriebenen Umschlag. Vielleicht werde ich erwachsen, Thomas.« Aber in seiner Stimme schwangen Tränen, und er sah jünger aus als je zuvor. »Konnten Sie nicht gewinnen, ohne zu lügen?«

»Nein. Das ist die europäische Doppelzüngigkeit, Pyle. Irgendwie müssen wir unseren Mangel an materiellen Gütern doch wettmachen. Aber ich muß es ungeschickt gemacht haben. Wie fanden Sie denn die Lügen heraus.?«

»Es war ihre Schwester«, sagte er. »Sie arbeitet jetzt in Joes Büro. Ich habe eben mir ihr gesprochen. Sie weiß, daß Sie nach Hause berufen worden sind.«

»Ach so, das«, sagte ich erleichtert. »Das weiß Phuong schon.«

»Und der Brief Ihrer Frau? Weiß Phuong von dem auch? Ihre Schwester hat ihn gesehen.«

»Wie?«

»Während Sie gestern außer Haus waren, kam sie her, um sich mit Phuong zu treffen, und Phuong zeigte ihn ihr. Die Schwester können Sie nicht hinters Licht führen, weil sie Englisch lesen kann.«

»Ich verstehe.« Es hatte keinen Sinn, auf irgend jemand böse zu sein, der Täter war nur zu offensichtlich ich selbst, und Phuong hatte ihrer Schwester den Brief nur gezeigt, um damit ein bißchen zu prahlen, nicht aus Mißtrauen gegen mich.

»Du hast das alles schon gestern abend gewußt?« fragte ich Phuong.

»Ja.«

»Es fiel mir auf, daß du so still warst.« Ich berührte sie am Arm. »Was für eine Furie hättest du sein können, doch du bist Phuong – du bist keine Furie.«

»Ich mußte nachdenken«, sagte sie, und es fiel mir ein, wie ich in der Nacht aufgewacht war und an der Unregelmäßigkeit ihres Atems erkannt hatte, daß sie nicht schlief. Ich hatte den Arm nach ihr ausgestreckt und sie gefragt: »Le cauchemar?« Sie hatte in der ersten Zeit nach ihrem Umzug in die Rue Gatinat unter Alpträumen gelitten, doch vergangene Nacht hatte sie bei meiner Frage den Kopf geschüttelt: Ihr Rücken war mir zugewandt, und ich hatte ein Bein zu ihr hinüber geschoben – das war stets der erste Schritt zum Liebesakt. Selbst da hatte ich keine Verstimmung bemerkt.

»Thomas, können Sie mir nicht erklären, weshalb …«

»Das ist doch sonnenklar. Ich wollte sie behalten.«

»Selbst auf ihre Kosten?«

»Natürlich!«

»Das ist nicht Liebe.«

»Vielleicht nicht Ihre Art von Liebe, Pyle.«

»Ich möchte sie beschützen.«

»Ich nicht. Sie braucht keinen Schutz. Ich möchte sie um mich wissen, ich möchte sie im Bett haben.«

»Gegen ihren Willen?«

»Pyle, sie würde nicht gegen ihren Willen bleiben.«

»Nach diesem Vorfall kann sie Sie nicht mehr lieben.« So einfältig waren seine Ideen. Ich wandte mich nach Phuong um. Sie war ins Schlafzimmer gegangen und zog die Bettdecke zurecht, auf der ich gelegen hatte; dann nahm sie eines ihrer bebilderten Bücher vom Regal und setzte sich aufs Bett, als ob unsere Unterhaltung sie überhaupt nicht berühre. Ich wußte, welches Buch es war – eine Bilderserie aus dem Leben der Königin Elisabeth. Ich konnte, auf den Kopf gestellt, die Staatskarosse auf dem Weg nach Westminster sehen.

»Liebe ist ein Wort des Westens«, sagte ich. »Wir verwenden es aus sentimentalen Gründen, oder um damit die Tatsache zu verschleiern, daß wir von einer einzigen Frau besessen sind. Diese Menschen leiden nicht an Besessenheit. Sie werden noch Schlimmes durchmachen, Pyle, wenn Sie sich nicht vorsehen.«

»Ich hätte Sie verprügelt, wenn Sie nicht ihr verletztes Bein hätten.«

»Sie sollten mir dankbar sein – und natürlich auch Phuongs Schwester. Jetzt können Sie ohne Skrupel auf Ihr Ziel lossteuern – in mancher Hinsicht sind Sie nämlich voller Skrupel, wenn es sich nicht gerade um Kunststoff handelt.«

»Kunststoff?«

»Ich hoffe zu Gott, Sie wissen, was Sie da tun. Oh, ich weiß, Ihre Motive sind edel; sie sind es immer.« Er sah verblüfft und argwöhnisch drein. »Ich wünschte manchmal, Sie hätten ein paar schlechte Motive, sie wären dann ein besserer Menschenkenner. Und das gilt auch für Ihr Land, Pyle.«

»Ich möchte ihr ein anständiges Leben bieten. In dieser Wohnung – riecht es.«

»Wir unterdrücken den Geruch mit Hilfe von Räucherstäbchen. Ich nehme an, Sie wollen ihr eine Tiefkühltruhe bieten, ein Auto für ihren eigenen Gebrauch, das neueste Fernsehgerät und …«

»Und Kinder«, sagte er.

»Vielversprechende, junge amerikanische Staatsbürger, bereit, den Eid auf die Fahne zu leisten!«

»Und was gedenken Sie ihr zu bieten? Sie wollten sie gar nicht mit nach Hause nehmen.«

»Nein, so grausam bin ich nicht. Da müßte ich ihr schon die Rückfahrkarte kaufen können.«

»Sie behalten sie also als bequeme Schlafgelegenheit, bis Sie von hier abreisen.«

»Sie ist ein Mensch, Pyle, und fähig, über ihr Schicksal selbst zu entscheiden.«

»Auf Grund falscher Angaben. Ein Kind ist sie noch.«

»Sie ist kein Kind. Sie ist widerstandsfähiger, als Sie jemals sein werden. Kennen Sie die Art von Politur, die kratzfest ist? So ist Phuong. Sie ist imstande, ein Dutzend von uns zu überleben. Sie wird alt werden, das ist alles. Sie wird leiden unter der Geburt ihrer Kinder, unter Hunger, Kälte und Rheumatismus, aber sie wird niemals so wie wir unter Gedanken leiden, unter Besessenheit – sie wird keine Kratzspuren aufweisen, sie wird nur verwelken.« Doch noch während ich diese Rede hielt und dabei Phuong beim Umblättern beobachtete (jetzt kam ein Familienbild mit Prinzessin Anne), wußte ich, daß ich – nicht anders als Pyle – daran war, einen Charakter zu erfinden. Niemals kennt man einen anderen Menschen; und alles, was ich in Wirklichkeit über Phuong wußte, war, daß sie genauso Angst hatte wie wir alle: Sie verfügte nur nicht über die Gabe, ihr Ausdruck zu verleihen, das war alles. Und ich erinnerte mich an jenes erste quälende Jahr, als ich so leidenschaftlich versucht hatte, sie zu verstehen, als ich sie angefleht hatte, mir ihre Gedanken zu verraten, und sie durch meine sinnlosen Wutausbrüche über ihre Schweigsamkeit erschreckt hatte. Selbst meine Begierde war eine Waffe gewesen, als ob, indem man das Schwert in den Leib des Opfers stieß, ihre Beherrschtheit schwinden und sie reden würde.

»Sie haben genug gesagt«, sagte ich zu Pyle. »Sie wissen jetzt alles, was es zu wissen gibt. Bitte, gehen Sie.«

»Phuong!« rief er.

»Monsieur Pyle?« erkundigte sie sich und blickte von der Betrachtung des Schlosses Windsor auf. Ihre förmliche Art wirkte in diesem Augenblick zugleich komisch und beruhigend.

»Er hat Sie angeschwindelt«, sagte Pyle.

»Je ne comprends pas.«

»Ach, verschwinden Sie«, sagte ich. »Gehen Sie zu Ihrer Dritten Kraft und zu York Harding und zur Rolle der Demokratie. Gehen Sie und spielen Sie mit Ihrem Kunststoff!«

Später mußte ich zugeben, daß er diesen Aufforderungen wortwörtlich nachgekommen war.