Viertes Kapitel
1
Vom Glockenturm der Kathedrale aus betrachtet, glich die Schlacht nur einem Bild, wie das Panorama einer Kampfszene aus dem Burenkrieg in einer alten Nummer der ›Illustrated London News‹. Ein Flugzeug warf mit dem Fallschirm Nachschubmaterial für einen eingeschlossenen Vorposten im Calcaire ab, jenen seltsamen, von Wind und Wetter zerfressenen Bergen an der Grenze von Annam, die wie Haufen von Bimsstein aussehen; und weil die Maschine jedesmal von derselben Stelle aus zum Gleitflug ansetzte, hätte man meinen können, sie habe sich von dort gar nicht fortbewegt; und auch der Fallschirm schwebte stets an demselben Punkt auf halbem Weg zur Erde. Aus der Ebene stiegen ewig gleich die Explosionswolken der Granatwerfer auf, der Rauch so fest geballt wie Stein, und die Flammen auf dem Marktplatz brannten blaß im Sonnenlicht. Die winzigen Gestalten der Fallschirmjäger bewegten sich im Gänsemarsch entlang den Kanälen, doch aus dieser Höhe schienen sie stillzustehen. Selbst der Priester, der in einem Winkel des Turms saß und sein Brevier betete, veränderte nie seine Haltung. Der Krieg war ordentlich und sauber aus dieser Entfernung.
Ich war vor dem Morgengrauen auf einem Landungsboot aus Nam Dinh hereingekommen. Wir hatten an der Marinestation nicht landen können, weil der Feind, der die Stadt in einem Umkreis von sechshundert Metern völlig umzingelt hielt, die Verbindung mit ihr abgeschnitten hatte; daher legte das Boot neben dem lodernden Marktplatz an. Wir waren im Licht der Flammen ein leicht erkennbares Ziel, aber aus irgendeinem Grund schoß niemand. Alles blieb still, nur das Knistern und Bersten der brennenden Marktbuden war zu vernehmen. Ich konnte deutlich hören, wie am Flußufer ein Senegal-Schütze, der dort Posten stand, seine Stellung veränderte.
Ich hatte Phat Diem in den Tagen vor dem Angriff gut gekannt – die eine enge, lange Straße von hölzernen Buden, die alle hundert Meter von einem Kanal, einer Kirche und einer Brücke unterteilt wurde. Nachts war sie nur mit Kerzen und Öllämpchen beleuchtet gewesen (in Phat Diem gab es keinen elektrischen Strom, außer in den Quartieren der französischen Offiziere), und bei Tag und bei Nacht hatten Menschen und Lärm die Straße erfüllt. In einer seltsam mittelalterlichen Art, überschattet und zugleich beschirmt vom Fürstbischof, war es die lebendigste Stadt im ganzen Land gewesen. Doch als ich jetzt hier landete und mich auf den Weg zum Offiziersquartier machte, schien sie so ausgestorben wie keine andere. Schutt, zerbrochenes Glas, der Geruch von verbrannter Farbe und geborstenem Verputz, die lange, menschenleere Straße, soweit das Auge reichte – dieses Bild gemahnte mich an eine Hauptverkehrsader in London in den frühen Morgenstunden nach der Entwarnung; man erwartete geradezu, ein Plakat mit der Aufschrift »Vorsicht! Blindgänger!« zu sehen.
Die Vorderwand des Offiziersgebäudes war weggeschossen worden, und die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite lagen in Trümmern. Während wir von Nam Dinh flußabwärts fuhren, hatte mir Leutnant Peraud erzählt, was sich ereignet hatte. Er war ein ernster junger Mann, ein Freimaurer, und für ihn war dies gewissermaßen ein Strafgericht über die abergläubischen Anschauungen seiner Mitmenschen. Der Bischof von Phat Diem hatte einmal Europa besucht und sich dort die Verehrung Unserer Lieben Frau von Fatima angeeignet – jener Vision der Heiligen Jungfrau, die nach der Überzeugung der Katholiken einer Gruppe von Kindern in Portugal erschienen war. Nach seiner Rückkehr ließ er ihr zu Ehren auf dem umfriedeten Domplatz eine Grotte errichten und beging ihren Festtag alljährlich mit einer feierlichen Prozession. Die Beziehungen zwischen dem Bischof und dem Oberst, der die französischen und vietnamesischen Streitkräfte in diesem Abschnitt befehligte, waren stets sehr gespannt gewesen, seit die Behörden die private Armee des Bischofs aufgelöst hatten. In diesem Jahr aber hatte der Oberst – den eine gewisse Sympathie mit dem Bischof verband, weil beiden ihr Land wichtiger erschien als die katholische Religion – eine Geste der Freundschaft gemacht und war mit den Offizieren seines Stabes an der Spitze der Prozession marschiert. Niemals zuvor hatte sich in Phat Diem eine größere Volksmenge versammelt, um Unserer Lieben Frau von Fatima ihre Verehrung darzubringen. Selbst viele Buddhisten – die rund die Hälfte der Bevölkerung ausmachten – wollten sich diesen Spaß nicht entgehen lassen, und jene, die weder an Gott noch an Buddha glaubten, dachten, daß irgendwie die vielen Banner und Weihrauchfässer und die goldene Monstranz den Krieg von ihrem Heim fernhalten würden. Das letzte Überbleibsel der bischöflichen Armee – die Musikkapelle – führte die Prozession an, ihr folgten die französischen Offiziere, die auf Befehl ihres Obersten mit frommer Miene gleich Chorknaben durch das große Tor auf den Domplatz zogen, vorüber an der weißen Statue des Heiligsten Herzens Jesu, die auf einer Insel in dem kleinen See vor dem Dom stand, unter dem Glockenturm mit seinen ausladenden, orientalisch geschwungenen Dächern vorbei und in den mit Schnitzereien reich verzierten Holzbau des Doms, dessen gigantische Säulen aus je einem einzigen Baumstamm bestanden und dessen Altar, in scharlachroter Lackarbeit gehalten, eher buddhistisch als christlich wirkte. Aus allen Dörfern zwischen den Kanälen, aus jener holländisch anmutenden Landschaft, wo junge grüne Reissprößlinge und goldene Erntefelder den Platz der Tulpen einnehmen und Kirchen jenen der Windmühlen, strömte das Volk zusammen.
Niemand bemerkte die Agenten der Vietminh, die sich ebenfalls der Prozession angeschlossen hatten; und als in der folgenden Nacht die Hauptstreitmacht der Kommunisten, wohl beobachtet von den hilflosen französischen Vorposten auf den Bergeshöhen, durch die Paßübergänge im Calcaire in die Ebene von Tonkin vorrückte, schlug das Vorkommando ihrer Agenten in Phat Diem zu.
Jetzt, nach viertägigem Ringen, war der Feind dank des Einsatzes von Fallschirmjägern eine halbe Meile rund um die Stadt zurückgedrängt worden. Das war eine Niederlage: Keine Kriegsberichterstatter wurden zugelassen, keine Telegramme konnten abgesandt werden; denn die Zeitungen durften nur Siege melden. Die Behörden würden mich in Hanoi festgehalten haben, wenn sie von meiner Absicht gewußt hätten. Aber je weiter man sich vom Hauptquartier entfernt, desto lockerer wird die Überwachung, bis man schließlich, wenn man in die Reichweite des feindlichen Feuers vordringt, zum willkommenen Gast wird – was für den Etat-Major in Hanoi eine Bedrohung gewesen ist, und für den Oberst in Nam Dinh eine Sorge, bedeutet für den Leutnant im Feld einen Scherz, eine Zerstreuung, einen Beweis für das Interesse der Außenwelt, so daß er für ein paar gesegnete Stunden sich selbst ein bißchen dramatisieren und sogar die Verwundeten und Gefallenen in seinen eigenen Reihen in einem falschen heroischen Licht sehen kann.
Der Priester schloß sein Brevier und sagte: »Also, das wäre erledigt.« Er war Europäer, aber kein Franzose, denn der Bischof hätte in seiner Diözese keinen französischen Geistlichen geduldet. Entschuldigend sagte er: »Ich muß hier heraufkommen, verstehen Sie, um von all den armen Menschen dort unten ein wenig Ruhe zu haben.« Das Krachen der Granatwerfer schien näherzurücken, oder vielleicht erwiderte der Feind endlich das Feuer der Franzosen. Das Schwierigste war seltsamerweise, ihn aufzuspüren: Es gab ein Dutzend schmaler Fronten, und zwischen den Kanälen, in den Bauernhöfen und Reisfeldern, boten sich unzählige Gelegenheiten zu einem Hinterhalt.
Unmittelbar zu unseren Füßen stand, saß und lag die gesamte Bevölkerung von Phat Diem. Katholiken, Buddhisten, Heiden; sie alle hatten ihre wertvollste Habe – einen Kochherd, eine Lampe, einen Spiegel, einen Kleiderschrank, etliche Matten, ein Heiligenbild – zusammengepackt und waren damit in den umfriedeten Domplatz gezogen. Hier im Norden wurde es bei Einbruch der Dämmerung bitter kalt, und die Kirche war bereits voll von Menschen: es gab kein schützendes Dach mehr; selbst auf den Treppen, die hinauf zum Glockenturm führten, war jede Stufe besetzt, und ständig drängten sich weitere Flüchtlinge, mit kleinen Kindern und Hausgeräten beladen, durch die Tore. Was immer ihre religiöse Überzeugung sein mochte, hier glaubten sie sich in Sicherheit. Während wir diese Szene betrachteten, schob sich ein junger Mann in vietnamesischer Uniform und mit einem Gewehr in der Hand durch die Massen: Ein Priester hielt ihn an und nahm ihm die Waffe ab. Der Geistliche an meiner Seite sagte zur Erklärung: »Wir sind hier neutral. Dies ist das Territorium Gottes.« Ich dachte: Es ist eine sonderbare, arme Bevölkerung, die Gott in seinem Königreich hat, verschüchtert, frierend und hungernd – »Ich weiß nicht, wie wir alle diese Menschen ernähren sollen«, sagte mir der Priester – man sollte doch meinen, ein großer König brächte Besseres zustande. Doch dann dachte ich: Wohin immer man geht, es ist überall dasselbe – nicht jene sind die mächtigsten Herrscher, die über das glücklichste Volk gebieten.
Unten waren bereits kleine Verkaufsbuden errichtet worden. Ich sagte: »Hier sieht es aus wie auf einem riesigen Markt, aber es gibt nicht ein lachendes Gesicht.«
Der Priester entgegnete: »Sie haben vorige Nacht furchtbar gefroren. Wir müssen die Klostertüren geschlossen halten, sonst würden sie uns überfluten.«
»Und Sie haben es dort drinnen hübsch warm, wie?«
»Nicht sehr warm. Außerdem hätten wir nicht für ein Zehntel von ihnen Platz. Ich weiß, was Sie jetzt denken«, fuhr er fort. »Aber es ist wichtig, daß einige von uns gesund bleiben. Wir haben das einzige Spital in ganz Phat Diem, und unsere einzigen Krankenpflegerinnen sind diese Nonnen.«
»Und Ihr Chirurg?«
»Ich tue, was in meiner Macht steht.« Da erst bemerkte ich, daß seine Soutane blutbespritzt war.
»Kamen Sie herauf, um mich zu suchen?« fragte er.
»Nein, ich wollte mich nur orientieren.«
»Ich fragte Sie bloß deshalb, weil ich in der vergangenen Nacht einen Mann hier oben hatte. Er wollte beichten. Er hatte ein bißchen Angst bekommen, wissen Sie, nach allem, was er unten am Kanal gesehen hatte. Man konnte ihm keinen Vorwurf machen.«
»Dort sieht es wohl übel aus?«
»Ja, die Fallschirmjäger nahmen sie ins Kreuzfeuer. Arme Kerle! Ich meinte, Sie wären in einer ähnlichen Stimmung.«
»Ich bin kein Katholik. Sie könnten mich nicht einmal als Christen bezeichnen, glaube ich.«
»Es ist seltsam, was die Angst bei einem Menschen bewirkt.«
»Bei mir würde sie nie so etwas bewirken. Wenn ich überhaupt an einen Gott glaubte, wäre mir doch der Gedanke der Beichte immer noch verhaßt. In einem Ihrer Kasten zu knien! Mich vor einem anderen Menschen förmlich zu entblößen! Sie müssen mir verzeihen, Hochwürden, aber mir erscheint das morbid – geradezu unmännlich.«
»Oh, ich nehme an, Sie sind ein guter Mensch«, entgegnete er leichthin. »Wahrscheinlich haben Sie nie viel zu bereuen gehabt.«
Ich blickte die Reihe der Kirchen entlang, die in gleichmäßigen Abständen zwischen den Kanälen aufragten, und dann gegen das Meer hinaus. Vom zweiten Turm in der Kette blitzte ein Licht herüber. »Sie haben aber nicht alle Ihre Kirchen neutral gehalten«, sagte ich.
»Das ist auch nicht möglich«, meinte er. »Die Franzosen haben sich bereit erklärt, den Platz rund um den Dom in Frieden zu lassen. Mehr können wir nicht erwarten. Dort drüben, wo Sie eben hinsehen, ist ein Posten der Fremdenlegion.«
»Ich werde jetzt gehen. Leben Sie wohl, Hochwürden.«
»Leben Sie wohl. Und viel Glück. Nehmen Sie sich vor den Heckenschützen in acht.«
Ich mußte mich durch das Menschengewühl zwängen, um zum Ausgang zu gelangen, kam am See vorüber und an der weißen Statue mit ihren süßlich ausgebreiteten Armen, und hinaus auf die lange Straße. In jeder Richtung konnte ich beinahe einen Kilometer weit sehen, und außer mir waren auf dieser ganzen Strecke nur zwei lebendige Wesen zu erblicken – zwei Soldaten mit getarnten Stahlhelmen und schußbereiten Maschinenpistolen; behutsam gingen sie am Straßenrand dahin und entfernten sich dabei immer mehr von mir. Ich sage »lebendige Wesen«, weil in einer Tornische ein Toter lag, mit dem Kopf auf der Straße. Das Summen der Fliegen, die sich dort versammelten, und das leiser und leiser werdende Platschen der Soldatenstiefel waren die einzigen hörbaren Laute. Den Kopf abgewandt, ging ich rasch an der Leiche vorüber. Als ich mich ein paar Minuten später umsah, war ich mit meinem Schatten ganz allein, und außer den Geräuschen, die ich verursachte, war nichts zu vernehmen. Ich kam mir vor wie eine Zielscheibe auf einem Schießstand, und es durchzuckte mich der Gedanke, daß es, falls mir hier etwas zustieß, viele Stunden dauern konnte, bis man mich auflas. Zeit genug, daß sich die Fliegen einfanden.
Nachdem ich zwei Kanäle überquert hatte, bog ich in eine Seitengasse, die zu einer Kirche führte. Ein Dutzend Soldaten saßen dort in den Tarnuniformen der Fallschirmjäger auf dem Boden, während zwei Offiziere eine Karte studierten. Niemand nahm von mir Notiz, als ich mich zu ihnen gesellte. Ein Mann, von dem die langen Antennenstäbe eines tragbaren Funksprechgeräts aufragten, sagte: »Wir können jetzt losmarschieren«, und alle erhoben sich.
In meinem gebrochenen Französisch fragte ich sie, ob ich sie begleiten dürfe. Dieser Krieg hatte den Vorteil, daß ein europäisches Gesicht an sich schon ein Passierschein für das Kampfgebiet war: Ein Europäer konnte nicht in Verdacht kommen, ein feindlicher Agent zu sein. »Wer sind Sie?« fragte der Leutnant.
»Ich berichte über den Krieg«, sagte ich.
»Amerikaner?«
»Nein, Engländer.«
Er sagte: »Es ist ein sehr kleines Unternehmen, aber wenn Sie mitkommen wollen …« Er begann, seinen Stahlhelm abzunehmen. »Nein, nein«, sagte ich, »der ist für die Kämpfenden.«
»Wie Sie wünschen.«
In Schützenreihe gingen wir hinter der Kirche hinaus, der Leutnant an der Spitze. Am Ufer eines Kanals machte er für einen Augenblick halt, damit der Funker mit den Patrouillen an unseren beiden Flanken Verbindung aufnehmen konnte. Die Geschosse der Granatwerfer brausten über uns hinweg und schlugen außer Sichtweite ein. Hinter der Kirche hatten sich uns weitere Soldaten angeschlossen, so daß wir jetzt etwa dreißig Mann stark waren. Mit leiser Stimme erklärte mir der Leutnant, während er immer wieder mit dem Finger auf die Karte losstach: »Dreihundert sind aus diesem Dorf hier gemeldet worden. Sie massieren sich vielleicht zu einem Angriff heute nacht. Wir wissen es nicht. Niemand hat sie bis jetzt entdeckt.«
»Wie weit ist das?«
»Etwa dreihundert Meter.«
Über Funk kam ein Befehl, und wir brachen schweigend auf. Rechts von uns verlief ein schnurgerader Kanal, links lagen niedriges Buschwerk, Felder und wiederum Buschwerk. »Die Luft ist rein«, flüsterte der Leutnant und winkte uns beruhigend zu, als wir uns in Bewegung setzten. Vierzig Meter weiter verlief ein zweiter Kanal mit den Resten einer Brücke, einer einzigen Planke ohne Geländer, quer zu unserer Marschrichtung. Durch ein Zeichen forderte uns der Leutnant auf, Schützenkette zu bilden. Dann kauerten wir uns auf dem Boden hin, den Blick auf das unbekannte Gelände gerichtet, das jenseits der Planke nur zwölf Meter vor uns lag. Die Männer schauten ins Wasser und wandten sich wie auf ein Kommandowort alle zugleich wieder ab. Zunächst sah ich nicht, was sie gesehen hatten, doch als ich es sah, kehrten meine Gedanken, ich weiß nicht, weshalb, zum »Chalet«, zu den Frauenimitatoren und zu den jungen pfeifenden Offizieren zurück, und zu Pyles Worten: »Das ist doch ganz und gar unpassend.«
Der Kanal war voll von Leichen: Heute fällt mir dazu ein Irish-Stew ein, das zuviel Fleisch enthält. Die Toten lagen übereinander: ein Kopf, grau wie ein Seehund und so namenlos wie ein Sträfling mit kahlgeschorenem Schädel, ragte gleich einer Boje aus dem Wasser heraus. Blut war nicht zu sehen: das war wohl längst davongeflossen. Ich habe keine Ahnung, wie viele es waren: sie mußten bei dem Versuch, sich über den Kanal zurückzuziehen, ins Kreuzfeuer geraten sein, und ich glaube, jedermann an unserem Ufer dachte in diesem Augenblick: Was sie können, können wir auch. Ich wandte ebenfalls den Blick ab; wir wollten nicht daran erinnert werden, wie wenig wir zählten, wie rasch, wie einfach und wie namenlos der Tod kam. Obschon mein Geist den Zustand des Todes herbeisehnte, fürchtete ich mich wie eine Jungfrau vor dem Geschlechtsakt. Ich hätte es vorgezogen, wenn der Tod nach gehöriger Warnung gekommen wäre, damit ich mich hätte vorbereiten können. Doch worauf? Ich wußte es nicht, auch nicht wie, es sei denn, indem ich um mich blickte auf das wenige, das ich verlassen würde.
Der Leutnant hockte neben dem Mann mit dem Funkgerät und starrte auf den Fleck Boden zwischen seinen Füßen. Das Instrument begann Befehle zu schnarren, und er erhob sich mit einem Seufzer, als sei er eben aus dem Schlaf gerüttelt worden. Allen Bewegungen dieser Truppe war eine seltsame Kameradschaftlichkeit eigen, wie wenn sie alle ranggleich gewesen wären und nun einen Auftrag ausführten, den sie schon unzählige Male miteinander erledigt hatten. Keiner wartete auf einen Befehl. Zwei Mann traten an die Planke heran und versuchten darüberzugehen, doch ihre schweren Waffen brachten sie aus dem Gleichgewicht; sie mußten sich rittlings auf das Brett setzen und sich Zoll um Zoll hinüberarbeiten. Ein anderer Soldat hatte ein flaches Boot entdeckt, das weiter unten am Kanal unter Büschen versteckt gelegen war, und brachte es zu der Stelle, wo der Leutnant stand. Zu sechst stiegen wir ein, und der Soldat begann das Boot mit einer langen Stange zum anderen Ufer hinüberzustoßen, aber wir liefen auf eine Untiefe, die von Menschenleibern gebildet wurde, und blieben stecken. Der Mann stieß mit seiner Bootsstange zu, trieb sie in diesen Menschenbrei hinein, und eine Leiche löste sich, tauchte auf und schwamm, wie ein Badender, der sich an der Wasseroberfläche sonnt, in voller Länge neben dem Boot dahin. Dann kamen wir wieder los, und als wir endlich das jenseitige Ufer erreichten, kletterten wir heraus, ohne rückwärts zu schauen. Nicht ein einziger Schuß war gefallen: Wir lebten noch; der Tod hatte sich zurückgezogen, bis zum nächsten Kanal vielleicht. Ich hörte, wie gleich hinter mir jemand in feierlichem Ernst auf deutsch sagte »Gott sei Dank«. Abgesehen vom Leutnant bestand fast die ganze Gruppe aus Deutschen.
Vor uns lagen die Gebäude eines Bauernhofs. Der Leutnant betrat, eng an die Hauswand gepreßt, als erster das Gehöft, und wir folgten ihm im Gänsemarsch und jeweils in Abständen von etwa zwei Metern. Wieder ohne einen Befehl verteilten sich die Männer über den ganzen Hof. Das Leben war daraus geflohen – nicht eine einzige Henne hatte man zurückgelassen; nur zwei abscheuliche Öldrucke hingen an den Wänden der einstigen Wohnstube, von denen der eine das Heiligste Herz Jesu darstellte, der andere die Heilige Maria mit dem Christuskind, was dem ganzen baufälligen Anwesen etwas Europäisches gab. Man wußte, woran diese Leute glaubten, selbst wenn man ihren Glauben nicht teilte: Sie waren menschliche Wesen, nicht bloß graue, ausgeschwemmte Kadaver.
Der Krieg besteht so oft aus Herumsitzen und Nichtstun, daraus, auf andere zu warten. Wenn man keinerlei Sicherheit hat, wieviel Zeit einem noch bleibt, erscheint es nicht der Mühe wert, auch nur mit einer Gedankenkette zu beginnen. Die Wachtposten taten, was sie vorher schon so viele Male getan hatten, und gingen hinaus vor den Bauernhof. Was immer sich nun vor unserer Front regte, galt als Feind. Der Leutnant machte eine Eintragung in seine Karte und meldete unsere Stellung durch das Funkgerät. Fast mittägliche Stille senkte sich herab: Sogar die Granatwerfer waren verstummt, und kein Flugzeug zeigte sich am Himmel. Ein Soldat kritzelte mit einem Zweig sinnlose Figuren in den Schmutz des Hofes. Nach einer Weile war es, als ob uns der Krieg vergessen hätte. Ich hoffte, daß Phuong meine Anzüge in die Putzerei geschickt hatte. Ein kalter Windstoß wirbelte das Stroh im Hof umher. Einer der Soldaten verschwand diskret hinter einer Scheune, um sich zu erleichtern. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich vor meiner Abreise dem britischen Konsul in Hanoi eine Flasche Whisky bezahlt hatte, die mir von ihm überlassen worden war.
Zwei Schüsse fielen vor uns, und ich dachte: Das ist es! Jetzt kommt es! Eine deutlichere Warnung brauchte ich nicht. In freudiger Erregung erwartete ich die Unendlichkeit.
Aber nichts geschah. Wieder einmal hatte ich das Ereignis »übervorbereitet«. Erst nach endlos scheinenden Minuten kam einer der Posten herein und erstattete dem Leutnant eine Meldung, aus der ich die Worte »Deux civils« heraushörte.
»Gehen wir nachsehen«, sagte der Leutnant zu mir. Wir folgten dem Soldaten und bahnten uns auf einem schmutzigen, von Unkraut überwucherten Pfad, der zwischen zwei Feldern verlief, einen Weg. Etwa zwanzig Meter hinter dem Gehöft stießen wir in einem schmalen Graben auf das, was wir suchten: eine Frau und einen kleinen Jungen. Beide waren ohne Zweifel tot. Auf der Stirn der Frau war ein winziges, klar umgrenztes Fleckchen geronnenen Bluts, und das Kind sah aus, als schliefe es. Es mochte etwa sechs Jahre alt gewesen sein, und es lag da, die knochigen Knie hoch hinaufgezogen, wie ein Embryo im Mutterleib. »Malchance«, sagte der Leutnant. Er beugte sich hinab und drehte das Kind um. Es trug um den Hals ein Heiligenmedaillon, und ich sagte mir: »Das Amulett wirkt nicht.« Ein angenagtes Stück Brot lag unter seiner Leiche. Ich hasse den Krieg, dachte ich.
»Na, haben Sie genug?« sagte der Leutnant. Er sprach in grimmigem Ton, fast so, als sei ich für diese Toten verantwortlich zu machen. Vielleicht ist für den Soldaten der Zivilist jene Person, die ihn zum Töten anstellt, die die Mordschuld in den Sold mit einschließt und auf solche Weise sich selbst der Verantwortung entzieht. Wir gingen schweigend zu dem Bauernhof zurück und setzten uns auf das Stroh, geschützt vor dem Wind, der gleich einem Tier zu ahnen schien, daß die Dunkelheit nahte. Der Mann, der vorhin im Staub gekritzelt hatte, verrichtete jetzt seine Notdurft, und der andere, der sich zuvor erleichtert hatte, kritzelte nun wirr im Staub. Ich dachte darüber nach, wie Mutter und Kind in jenen Augenblicken völliger Stille, nachdem die Posten aufgestellt worden waren, geglaubt haben mußten, daß es nun sicher genug war, den Graben zu verlassen. Ich fragte mich, ob sie dort schon lange gelegen hatten – das Brot war sehr trocken gewesen. Vermutlich waren sie auf diesem Bauernhof zu Hause.
Das Funkgerät war wieder in Betrieb. Der Leutnant sagte müde: »Man wird das Dorf bombardieren. Die Patrouillen werden für die Nacht eingezogen.« Wir standen auf und machten uns auf den Rückmarsch, fuhren mit dem Boot wieder um den Leichenberg herum, zogen in Schützenreihe an der Kirche vorüber. Wir hatten uns nicht sehr weit entfernt gehabt und doch schien mir der Weg ziemlich lang dafür, daß die Ermordung jener beiden das einzige Ergebnis war. Die Flugzeuge waren aufgestiegen, und hinter uns begannen die Bomben zu fallen.
Es war bereits stockdunkel, als ich das Offiziersquartier erreichte, wo ich die Nacht verbringen wollte. Die Temperatur war nur ein Grad über Null, und die einzige Wärme weit und breit gab es am immer noch brennenden Marktplatz. Die eine Wand des Offiziershauses war durch die Granaten eines Panzergewehrs zerstört worden, die Türen hatten sich geworfen, und die Vorhänge aus Segelleinen, die man überall angebracht hatte, vermochten die Zugluft nicht abzuhalten. Der Dynamo funktionierte nicht, und wir mußten Barrikaden aus Schachteln und Büchern errichten, damit die Kerzen überhaupt brannten. Ich spielte mit einem gewissen Hauptmann Sorel um kommunistisches Geld Quatre Cent Vingt-et-un; um Drinks konnte ich nicht spielen, weil ich Gast der Offiziersmesse war. Langweilig schwankte das Glück hin und her. Ich öffnete meine Flasche Whisky, um uns ein wenig zu erwärmen, worauf sich die anderen Offiziere um uns sammelten. Der Oberst sagte: »Das ist das erste Glas Whisky seit meiner Abreise von Paris.«
Ein Leutnant, der die Posten inspiziert hatte, kam von seiner Runde zurück. »Vielleicht werden wir eine ruhige Nacht haben«, sagte er.
»Vor vier werden sie nicht angreifen«, meinte der Oberst. »Haben Sie einen Revolver?« fragte er mich.
»Nein.«
»Ich werde Ihnen einen beschaffen. Lassen Sie ihn schön auf dem Kopfkissen liegen.« Und höflich fügte er hinzu: »Ich fürchte, Sie werden Ihre Matratze ziemlich hart finden. Und um drei Uhr dreißig setzt unser Granatwerferfeuer ein. Wir suchen jede Truppenansammlung zu zersprengen.«
»Wie lange, glauben Sie, wird das so weitergehen?« fragte ich.
»Wer weiß? Wir können keine Truppen mehr von Nam Dinh abziehen. Dies hier ist nur ein Ablenkungsmanöver. Wenn wir mit den Verstärkungen, die wir vorgestern bekamen, durchhalten können, ohne noch weitere anfordern zu müssen, dann kann man das schon als Sieg bezeichnen.«
Von neuem hatte sich der Wind erhoben; er strich ums Haus und suchte Einlaß. Der Segeltuchvorhang bauschte sich (unwillkürlich dachte ich daran, wie im »Hamlet« Polonius hinter dem Wandteppich erstochen wird), und das Kerzenlicht flackerte unruhig. Die Schatten wirkten theatralisch. Wir hätten eine Wanderbühne beim Spiel in einer Scheune sein können.
»Haben Ihre Vorposten standgehalten?«
»Soweit uns bekannt ist, ja.« Der Oberst bot ein Bild tiefer Erschöpfung, als er fortfuhr: »Verstehen Sie mich recht: Das hier ist nichts, ist eine völlig belanglose Angelegenheit – verglichen mit dem, was sich hundert Kilometer von uns entfernt in Hoa Binh abspielt. Dort tobt wirklich eine Schlacht.«
»Noch ein Glas, Herr Oberst?«
»Danke, nein. Er ist wunderbar, Ihr englischer Whisky, aber Sie sollten sich lieber etwas davon für die Nacht aufbewahren, falls Sie es brauchen. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich möchte noch ein wenig schlafen. Sobald die Granatwerfer einsetzen, ist es ja unmöglich. Hauptmann Sorel, Sie sorgen dafür, daß Monsieur Fowlair alles hat, was er benötigt: eine Kerze, Streichhölzer, einen Revolver.« Er ging auf sein Zimmer.
Für uns alle war es das Zeichen zum Aufbruch. In einem kleinen Lagerraum hatte man für mich eine Matratze auf den Boden gelegt, und ich war rings von Kisten umgeben. Ich lag nur sehr kurze Zeit noch wach – selbst die Härte des Fußbodens versprach Ruhe. Ich überlegte, doch sonderbarerweise ohne eine Spur von Eifersucht, ob Phuong in der Wohnung war. Der Besitz eines Körpers schien mir in dieser Nacht höchst belanglos – vielleicht hatte ich an jenem Tag zu viele Körper gesehen, die niemand gehörten, nicht einmal sich selbst. Wir waren alle entbehrlich. Als ich einschlief, träumte ich von Pyle. Er tanzte ganz allein auf einer Bühne, mit steifen Bewegungen, die Arme nach einer unsichtbaren Partnerin ausgestreckt, und ich beobachtete ihn von einem Sitz aus, der einem Klavierstuhl glich; in der Hand hielt ich eine Pistole, für den Fall, daß irgend jemand ihn in seinem Tanz zu stören versuchte. Eine Programmtafel, die wie in einem englischen Variete neben der Bühne aufgestellt war, verkündete: »Der Liebestanz. Jugendverbot!« Im Hintergrund des Zuschauerraums regte sich etwas, ich umklammerte den Griff meiner Waffe fester. Dann erwachte ich.
Meine rechte Hand lag auf dem Revolver, den man mir geliehen hatte, und in der Tür stand ein Mann, in der Hand eine Kerze. Er trug einen Stahlhelm, dessen Rand seine Augen überschattete. Erst als er zu sprechen begann, erkannte ich ihn: Es war Pyle. Verlegen sagte er: »Tut mir furchtbar leid, daß ich Sie aufgeweckt habe. Man sagte mir, ich könnte hier schlafen.«
Ich war noch nicht völlig wach. »Woher haben Sie diesen Stahlhelm?« fragte ich.
»Ach, den hat mir jemand geliehen«, gab er vage zur Antwort. Hinter sich schleppte er jetzt einen Tornister herein und begann daraus einen wollgefütterten Schlafsack hervorzuziehen.
»Sie sind glänzend ausgerüstet«, stellte ich fest, während ich mir klarzuwerden versuchte, warum jeder von uns eigentlich hier war.
»Das ist die normale Reiseausrüstung unserer Sanitätsmannschaften. In Hanoi lieh man mir eine.« Er holte eine Thermosflasche und einen kleinen Spirituskocher aus dem Tornister hervor, dann eine Haarbürste, Rasierzeug und eine Dose mit einer Verpflegungsration. Ich blickte auf die Uhr. Es war kurz vor drei.