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Ich hinterließ eine Nachricht in der Gesandtschaft, in der ich Pyle bat, mich zu besuchen, und ging dann die Straße hinauf zu einem Drink ins »Continental«. Die Trümmer waren bereits weggeräumt worden; die Feuerwehr hatte den Platz mit ihren Schläuchen abgespritzt. Ich hatte damals noch keine Ahnung, wie wichtig Zeit und Ort noch werden sollten. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, den ganzen Abend dort zu sitzen und meine Verabredung sausen zu lassen. Dann überlegte ich, daß ich Pyle vielleicht durch eine Warnung vor der ihm drohenden Gefahr – worin immer diese bestehen mochte – einschüchtern und so von weiteren Aktivitäten abhalten konnte. Also trank ich mein Bier aus und ging nach Hause; und als ich dort angekommen war, begann ich zu hoffen, daß Pyle nicht kommen würde. Ich versuchte zu lesen, doch in meinen Bücherregalen gab es nichts, was fesselnd genug gewesen wäre. Vielleicht hätte ich rauchen sollen, aber es war niemand da, der mir eine Pfeife gerichtet hätte. Widerwillig lauschte ich nach Schritten, und endlich kamen sie. Es klopfte. Ich öffnete die Tür, doch es war nur Dominguez. Ich sagte: »Was wollen Sie denn, Dominguez?« Er sah mich etwas erstaunt an. »Was ich will?« Er blickte auf seine Uhr. »Um diese Zeit komme ich doch immer hierher. Haben Sie irgendwelche Telegramme?«
»Verzeihung – das hatte ich ganz vergessen. Nein, nichts.«
»Aber einen Bericht über die Auswirkungen des Bombenattentats? Wollen Sie bei der Zensur gar nichts einreichen?«
»Ach, arbeiten Sie einen Bericht für mich aus, Dominguez. Ich weiß nicht, wieso es kommt – ich war ja dort, und ich glaube fast, ich habe einen leichten Schock erlitten. Ich bin nicht imstande, an das Ereignis im Sinne eines Pressetelegramms zu denken.« Ich schlug nach einem Moskito, der mir um die Ohren surrte, und sah Dominguez instinktiv bei meinem Hieb zusammenzucken. »Schon gut, Dominguez, ich habe ihn sowieso verfehlt.« Er lächelte kläglich. Er konnte seine Abneigung gegen das Töten nicht rechtfertigen: Schließlich war er ein Christ – einer von jenen, die von Nero gelernt hatten, wie man Menschenleiber in Fackeln verwandelt.
»Kann ich irgend etwas für Sie tun?« erkundigte er sich. Er trank nicht, er aß kein Fleisch, er tötete nicht – ich beneidete ihn um seine Sanftmut. »Nein, Dominguez. Lassen Sie mich heute abend nur allein.« Ich sah ihm vom Fenster aus nach, wie er fortging und die Rue Catinat überquerte. Ein Rikschalenker hatte meinem Fenster gegenüber sein Fahrzeug geparkt; Dominguez wollte es mieten, aber der Mann schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich wartete er auf einen bestimmten Fahrgast aus einem der Geschäfte; denn hier war kein Standplatz für Rikschas. Als ich auf die Uhr sah, stellte ich zu meiner Überraschung fest, daß ich kaum länger als zehn Minuten gewartet hatte; und als Pyle klopfte, hatte ich seinen Schritt gar nicht gehört.
»Herein.« Doch wie gewöhnlich war es der Hund, der zuerst erschien.
»Ich war über Ihre Nachricht sehr erleichtert, Thomas. Heute morgen glaubte ich, Sie seien auf mich böse.«
»Vielleicht war ich es auch. Es war kein hübscher Anblick.«
»Jetzt wissen Sie schon so viel, daß es nicht schaden kann, wenn ich Ihnen ein bißchen mehr erzähle. Ich sprach heute nachmittag mit Thé.«
»Sie sprachen mit ihm? Ist er denn in Saigon? Ich nehme an, er kam her, um zu sehen, wie seine Bombe funktioniert.«
»Das ist streng vertraulich, Thomas. Ich habe ihn gehörig abgekanzelt.« Er redete wie der Kapitän des Fußballteams einer Schule, der bemerkt hat, daß einer seiner Spieler die Trainingsvorschriften durchbrochen hat. Trotzdem fragte ich ihn mit aufkeimender Hoffnung: »Werden Sie mit ihm Schluß machen?«
»Ich erklärte ihm, wenn er noch einmal eine wilde Demonstration veranstaltet, dann wollen wir nichts mehr mit ihm zu tun haben.«
»Sie haben noch nicht mit ihm gebrochen, Pyle?«
Ungehalten trat ich nach seinem Hund, der mir um die Knöchel schnupperte.
»Das kann ich nicht. (Leg dich, Herzog.) Auf lange Sicht ist er die einzige Hoffnung, die wir haben. Wenn er mit unserer Unterstützung an die Macht käme, könnten wir uns auf ihn verlassen …«
»Wie viele Menschen müssen denn sterben, bis Sie erkennen …« Aber ich konnte es ihm ansehen, daß dies ein wirkungsloses Argument war.
»Was erkennen, Thomas?«
»Daß es in der Politik so etwas wie Dankbarkeit nicht gibt.«
»Zumindest werden sie uns nicht so hassen, wie sie die Franzosen hassen.«
»Sind Sie sicher? Zuweilen empfinden wir eine Art Liebe für unsere Feinde, und zuweilen empfinden wir Haß gegen unsere Freunde.«
»Sie sprechen wie ein Europäer. Diese Leute sind nicht so kompliziert.«
»Ist es das, was Sie in den paar Monaten gelernt haben? Demnächst werden Sie sie kindlich nennen.«
»Nun – in gewisser Hinsicht …«
»Zeigen Sie mir ein unkompliziertes Kind, Pyle. Wenn wir jung sind, sind wir doch ein Dschungel an Kompliziertheiten. Erst mit zunehmendem Alter vereinfachen wir.« Doch wozu redete ich mit ihm? Es lag etwas Unwirkliches in den Argumenten eines jeden von uns beiden. Ich war daran, schon vor der Zeit zum Leitartikler zu werden. Ich stand auf und trat an den Bücherschrank.
»Was suchen Sie, Thomas?«
»Ach, nur ein paar Verse, die ich früher einmal sehr mochte. Können Sie mit mir heute abend essen gehen?«
»Mit dem größten Vergnügen. Ich bin so froh, Thomas, daß Sie nicht mehr böse sind. Ich weiß, daß Sie anderer Meinung sind als ich, aber wir können doch trotz unserer Meinungsverschiedenheit Freunde sein, nicht?«
»Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht.«
»Schließlich war doch Phuong viel wichtiger als diese Sache.«
»Glauben Sie das wirklich, Pyle?«
»Nun, sie ist das Wichtigste, was es gibt. Für mich. Und für Sie, Thomas, auch.«
»Für mich nicht mehr.«
»Das war heute ein furchtbarer Schock. Aber Sie werden sehen, Thomas, in einer Woche haben wir die Geschichte vergessen. Wir sorgen auch für die Angehörigen.«
»Wir?«
»Wir haben nach Washington telegrafiert. Wir werden die Erlaubnis bekommen, einen Teil unserer Geldmittel dafür aufzuwenden.«
Ich unterbrach ihn: »Also im ›Vieux Moulin‹? Zwischen neun und halb zehn?«
»Wo immer sie wollen, Thomas.« Ich trat ans Fenster. Die Sonne war hinter den Dächern versunken. Der Rikschalenker wartete noch immer auf seinen Gast. Ich blickte zu ihm nieder, und er hob das Gesicht und sah zu mir herauf.
»Erwarten Sie jemand, Thomas?«
»Nein. Es gab da nur eine Stelle, nach der ich gesucht habe.« Um mein Verhalten zu bemänteln, las ich laut vor, das Buch hoch erhoben im Tageslicht.
»Ich saus’ durch die Straßen ganz achtlos dahin.
Die Leute, die starr’n und fragen, wer ich bin.
Überfahr’ ich so’n Kerl und brech’ ihm das Bein,
Ich bezahl’ doch den Schaden, mag er noch so groß sein.
Ein Glück, daß man Geld hat wie Heu, hei ho!
Ein Glück, daß man Geld hat wie Heu!«
»Ein komisches Gedicht ist das«, sagte Pyle etwas mißbilligend.
»Der Verfasser war ein Dichter des neunzehnten Jahrhunderts, einer, der geistig erwachsen war. Von der Sorte gab es damals nicht viele.« Wieder blickte ich auf die Straße hinunter. Der Rikschafahrer war verschwunden.
»Ist Ihnen der Alkohol ausgegangen?« fragte Pyle.
»Nein, aber ich dachte nicht, daß Sie …«
»Vielleicht werde ich allmählich etwas lockerer. Ihr Einfluß«, sagte Pyle. »Ich habe das Gefühl, daß Sie mir gut tun, Thomas.«
Ich holte die Flasche und Gläser – ich vergaß eines von ihnen bei meinem ersten Gang, und dann mußte ich um Wasser nochmals zurückgehen. Alles, was ich an diesem Abend tat, brauchte sehr viel Zeit. Er sagte: »Wissen Sie, ich habe eine wunderbare Familie; aber vielleicht waren meine Leute ein wenig auf der strengen Seite. Wir besitzen eines jener alten Häuser in der Chestnut Street, rechter Hand, wenn Sie die Anhöhe hinaufgehen. Meine Mutter sammelt Glas, und mein Vater – wenn er nicht gerade seine alten Klippen erodiert – alle Manuskripte Darwins und Exemplare der ersten englandfeindlichen Verträge zwischen den einstigen amerikanischen Kolonien, deren er habhaft werden kann. Sie sehen also, daß sie in der Vergangenheit leben. Vielleicht hat deshalb York Harding einen solchen Eindruck auf mich gemacht. Er schien irgendwie den modernen Bedingungen gegenüber aufgeschlossen zu sein. Mein Vater dagegen ist Isolationist.«
»Ich würde mich mit Ihrem Vater vielleicht recht gut verstehen«, entgegnete ich. »Ich bin nämlich auch Isolationist.«
Für einen stillen Menschen war Pyle an diesem Abend in gesprächiger Stimmung. Ich hörte nicht alles, was er sagte, denn ich war mit meinen Gedanken woanders. Ich suchte mir einzureden, daß Heng andere Mittel zur Verfügung standen als das primitive und naheliegende. Doch ich wußte, daß man in einem solchen Krieg keine Zeit hat, wählerisch zu sein: Man nimmt die Waffe, die gerade zur Hand ist – die Franzosen die Napalmbombe, und Mr. Heng die Kugel oder das Messer. Ich sagte mir zu spät, daß ich nicht dazu geschaffen war, Richter zu sein – ich würde Pyle eine Weile reden lassen, und dann würde ich ihn warnen. Er konnte die Nacht in meiner Wohnung verbringen. Hier würden sie kaum eindringen. Ich glaube, er sprach gerade von seiner alten Amme – »sie stand mir tatsächlich näher als meine Mutter, und die Preiselbeerkuchen, die sie machte!« –, als ich ihm ins Wort fiel: »Haben Sie jetzt einen Revolver bei sich, ich meine, seit jener Nacht?«
»Nein, wir haben von der Gesandtschaft den Befehl erhalten …«
»Sie haben doch einen Sonderauftrag, nicht wahr?«
»Es hätte keinen Zweck – wenn sie mich erwischen wollten, könnten sie das jederzeit. Und außerdem bin ich blind wie ein Huhn. Im College nannten sie mich die Fledermaus – weil ich nur in der Dunkelheit ebensoviel, oder ebensowenig, sehen konnte wie die anderen. Als wir uns einmal nachts herumtrieben …« Wieder erzählte er drauflos. Ich kehrte ans Fenster zurück.
Auf der anderen Straßenseite wartete eine Rikscha. Ich war nicht sicher – sie sehen einander alle so ähnlich –, aber ich hatte den Eindruck, daß es jetzt ein anderer Fahrer war. Vielleicht hatte er wirklich einen Fahrgast. Der Gedanke kam mir, daß Pyle in der Gesandtschaft am sichersten sein würde. Seit meinem Signal mußten die anderen ihre Pläne für den späteren Abend gefaßt haben: Pläne, die die Brücke nach Dakow einbezogen. Wie und warum, das war mir nicht klar. Pyle würde bestimmt nicht so leichtsinnig sein, nach Sonnenuntergang durch Dakow zu fahren, und unsere Seite der Brücke war von gut bewaffneter Polizei bewacht.
»Heute rede immer nur ich«, sagte Pyle. »Ich weiß nicht, woran es liegt, aber irgendwie ist dieser Abend …«
»Sprechen Sie nur weiter«, sagte ich. »Ich bin bloß nachdenklich gestimmt, das ist alles. Vielleicht sollten wir unser Dinner lieber ausfallen lassen.«
»Nein, tun Sie das nicht. Ich habe das Gefühl gehabt, daß zwischen uns eine Wand steht, seit … nun …«
»Seit Sie mir das Leben retteten«, ergänzte ich und vermochte den bitteren Schmerz der Wunde, die ich mir selbst zugefügt hatte, nicht zu verbergen.
»Nein, das meinte ich nicht. Trotzdem: was für Gespräche führten wir doch in jener Nacht, nicht wahr? Als ob es unsere letzte sein sollte. Ich lernte viel über Sie, Thomas. Gut, ich teile Ihre Ansichten nicht, aber von Ihrem Standpunkt aus mag es richtig sein – sich nicht hineinziehen zu lassen. Und diesen Standpunkt haben Sie konsequent beibehalten. Selbst nachdem Ihnen das Bein zerschmettert worden ist, sind Sie neutral geblieben.«
»Aber irgendwo gibt es immer einen entscheidenden Wendepunkt«, sagte ich. »Einen Augenblick der Gemütserregung …«
»Den haben Sie noch nicht erreicht. Und ich bezweifle, ob Sie ihn je erreichen werden. Auch meine Haltung wird sich kaum ändern – es sei denn durch den Tod«, fügte er fröhlich hinzu.
»Nicht einmal nach heute morgen? Könnte das einen Menschen nicht völlig umstimmen?«
»Das waren nur Kriegsverluste«, sagte er. »Es war bedauerlich, aber man kann nicht immer sein Ziel treffen. Jedenfalls starben die Leute für die richtige Sache.«
»Hätten Sie dasselbe gesagt, wenn es Ihre alte Amme mit dem Preiselbeerkuchen getroffen hätte?«
Er überging meinen schwachen Hieb. »In gewissem Sinn könnte man behaupten, daß sie für die Sache der Demokratie gefallen sind.«
»Ich wüßte nicht, wie ich das ins Vietnamesische übersetzen sollte.« Mit einemmal wurde ich unsagbar müde. Ich wünschte, er möge schnell fortgehen und sterben. Dann konnte ich das Leben von neuem beginnen – und zwar dort, wo ich war, bevor er erschien.
»Sie werden mich wohl nie ernst nehmen, nicht wahr, Thomas«, beklagte er sich mit jener jungenhaften Heiterkeit, die er sich anscheinend ausgerechnet für diesen Abend aufgespart hatte. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag – Phuong ist im Kino – wie wäre es, wenn sie und ich den ganzen Abend zusammen verbringen? Ich habe nichts zu tun.« Es war, als schien ihn jemand von außen her anzuleiten, wie er seine Worte zu wählen hätte, um mir jede mögliche Ausflucht zu rauben. Er fuhr fort: »Warum gehen wir nicht ins ›Chalet‹? Ich bin seit jenem Abend nicht mehr dort gewesen. Man ißt dort genauso gut wie im ›Vieux Moulin‹, und Musik gibt es auch.«
Ich sagte: »Ich möchte lieber nicht an jenen Abend erinnert werden.«
»Verzeihung. Manchmal bin ich ein richtiger Tölpel, Thomas. Wie wär’s mit einem chinesischen Dinner drüben in Cholon?«
»Um ein gutes zu bekommen, muß man vorausbestellen. Fürchten Sie sich denn vor dem ›Vieux Moulin‹? Es ist doch gut gesichert, und auf der Brücke steht immer Polizei. Sie würden doch nicht so närrisch sein, durch Dakow zu fahren, nicht wahr?«
»Das ist nicht der Grund. Ich dachte mir nur, es wäre ein Spaß, sich einmal so richtig die Nacht um die Ohren zu schlagen.«
Er machte eine Bewegung und stieß dabei sein Glas um, das auf den Boden fiel und zerbrach. »Scherben bringen Glück«, sagte er mechanisch. »Entschuldigen Sie, Thomas.« Ich begann, die Splitter aufzulesen und in den Aschenbecher zu legen. »Was sagen Sie zu meinem Vorschlag, Thomas?« Das zerbrochene Glas erinnerte mich an die Flaschen, die in der Bar des »Pavillon« ihren bunten Inhalt verströmt hatten. »Ich habe Phuong gewarnt, daß ich vielleicht mit Ihnen ausgehen werden.« Wie schlecht gewählt war doch das Wort »gewarnt«. Ich hob den letzten Glassplitter auf. »Ich habe eine Verabredung im ›Majestic‹«, sagte ich, »und vor neun kann ich nicht.«
»Na, dann muß ich wohl oder übel ins Büro zurückgehen. Ich fürchte nur immer, daß man mich dort aufhalten wird.«
Es konnte nicht schaden, ihm noch diese eine Chance zu geben. »Es spielt keine Rolle, wenn Sie später kommen. Sollten Sie wirklich aufgehalten werden, dann besuchen Sie mich nachher hier. Um zehn bin ich wieder daheim und warte auf Sie, falls es Ihnen mit dem Dinner nicht ausgehen sollte.«
»Ich werde Sie verständigen …«
»Nur keine Umstände. Entweder kommen Sie ins ›Vieux Moulin‹ oder wir treffen uns später hier.« Damit gab ich die Entscheidung an jenen Jemand zurück, an den ich nicht glaubte: Du kannst eingreifen, wenn Du willst; durch ein Telegramm auf seinem Schreibtisch, durch eine Weisung vom Gesandten; Du kannst nicht existieren, wenn Du nicht die Macht besitzt, die Zukunft zu ändern.
»Gehen Sie jetzt, Pyle. Ich habe noch verschiedenes zu erledigen.« Ein seltsames Gefühl der Erschöpfung überkam mich, während ich ihn die Treppe hinabgehen und die Pfoten seines Hundes leise tappen hörte.