Erstes Kapitel
Nach dem Abendessen saß ich in meinem Zimmer über der Rue Catinat und wartete auf Pyle. »Spätestens um zehn bin ich bei Ihnen«, hatte er gesagt, und als es Mitternacht geschlagen hatte, konnte ich nicht mehr stillsitzen und ging hinunter auf die Straße. Eine Schar alter Frauen in schwarzen Hosen hockte auf dem Treppenabsatz; es war Februar, und vermutlich fanden sie es im Bett zu heiß. Der Lenker einer Fahrradrikscha fuhr gemächlich vorüber, in Richtung Flußufer, und ich konnte den Schein von Lampen sehen, wo sie die neuen amerikanischen Flugzeuge ausgeladen hatten. Nirgends in der langen Straße war eine Spur von Pyle.
Er mochte natürlich aus irgendeinem Grund in der amerikanischen Gesandtschaft aufgehalten worden sein, sagte ich mir; doch in diesem Fall hätte er bestimmt das Restaurant angerufen – er nahm es mit den kleinen Höflichkeitsbezeigungen peinlich genau. Schon wollte ich in meine Wohnung zurückkehren, da sah ich im Hauseingang nebenan eine junge Frau stehen. Ihr Gesicht lag im Schatten, nur die weiße Seidenhose und das lange, geblümte Gewand waren zu sehen; trotzdem erkannte ich sie. So oft hatte sie an genau derselben Stelle und zur selben Stunde auf meine Heimkehr gewartet.
»Phuong«, sagte ich – das Wort bedeutet Phönix; aber heutzutage gibt es keine Fabelwesen mehr, und nichts erhebt sich mehr aus seiner Asche. Noch ehe sie Zeit fand, es mir zu sagen, wußte ich, daß auch sie auf Pyle wartete. »Er ist nicht hier«, sagte ich.
»Je sais. Je t’ai vu seul à la fenêtre.«
»Du kannst ebensogut oben warten«, sagte ich. »Er wird bald kommen.«
»Ich kann hier warten.«
»Lieber nicht. Die Polizei könnte dich mitnehmen.«
Sie folgte mir in meine Wohnung hinauf. Mir fielen etliche spöttische und böse Bemerkungen ein, aber weder ihr Englisch noch ihr Französisch waren so gut, daß sie die Ironie verstanden hätte; und so seltsam es klingen mag, ich trug kein Verlangen, weder sie noch selbst mich zu verletzen. Als wir den Treppenabsatz erreichten, wandten all die alten Frauen die Köpfe, und sowie wir vorüber waren, begann das Gewirr ihrer Stimmen auf und ab zu wogen, als stimmten sie ein gemeinsames Lied an.
»Worüber reden sie?« fragte ich.
»Sie glauben, ich bin wieder nach Hause gekommen«, antwortete Phuong.
In meinem Zimmer hatte das Bäumchen, das ich vor einigen Wochen zur Feier des chinesischen Neujahrsfests aufgestellt hatte, die meisten seiner gelben Blüten abgeworfen. Sie waren zwischen die Tasten meiner Schreibmaschine gefallen. Vorsichtig zog ich sie heraus. »Tu es troublé«, sagte Phuong.
»Es ist gar nicht seine Art. Er ist ein so pünktlicher Mensch.«
Ich nahm meine Krawatte ab, zog die Schuhe aus und legte mich aufs Bett. Phuong zündete den Gasherd an und setzte das Wasser für den Tee auf. Das alles hätte genau so vor sechs Monaten sein können. »Er sagt, du wirst bald abreisen«, meinte sie.
»Vielleicht.«
»Er hat dich sehr gern.«
»Darauf kann ich verzichten«, sagte ich.
Es fiel mir auf, daß sie ihr Haar jetzt anders frisierte; sie ließ es schwarz und glatt über die Schultern herabfallen. Ich erinnerte mich, daß Pyle einmal die kunstvolle Haartracht kritisiert hatte, von der Phuong meinte, sie gezieme sich für die Tochter eines Mandarins. Ich schloß die Augen, und Phuong war wieder, was sie früher gewesen war: Sie war das Zischen des Dampfs im Teekessel, das Klirren einer Tasse, eine bestimmte Stunde der Nacht und das Versprechen von Ruhe.
»Er wird nicht mehr lange ausbleiben«, sagte sie, als müsse sie mich wegen seiner Abwesenheit trösten.
Ich überlegte, worüber die beiden wohl miteinander sprachen. Pyle war ein sehr ernster Mensch, und ich hatte oft gelitten unter seinen Vorträgen über den Fernen Osten, den er seit ebenso vielen Monaten kannte, wie ich Jahre dort verbracht hatte. Die Demokratie war sein zweites Lieblingsthema – er hatte sehr entschiedene und entnervende Ansichten darüber, was die USA für die Welt taten. Phuong hingegen war wunderbar unwissend. Wenn in der Unterhaltung plötzlich der Name Hitler gefallen wäre, hätte sie uns unterbrochen und gefragt, wer das sei. Eine Erklärung wäre ziemlich schwer gefallen, weil sie niemals einem Deutschen oder einem Polen begegnet war und von der Geographie Europas nur die verschwommensten Vorstellungen hatte, während sie natürlich über Prinzessin Margaret mehr wußte als ich. Ich hörte, wie sie am Bettende ein Tablett abstellte.
»Ist er noch in dich verliebt, Phuong?«
Mit einer Annamitin ins Bett zu gehen, das ist genau so, wie wenn man einen kleinen Vogel zu sich nimmt: Sie zwitschern und singen auf dem Kopfkissen. Es hatte eine Zeit gegeben, da glaubte ich, daß keine ihrer Stimmen so schön sang wie die Phuongs. Ich streckte die Hand aus und berührte ihren Arm – auch ihre Knochen waren so zart und zerbrechlich wie die eines Vogels.
»Ist er es, Phuong?«
Sie lachte, und ich hörte, wie sie ein Zündholz anstreifte. »Verliebt?« – vielleicht war das einer der Ausdrücke, die sie nicht verstand. »Darf ich dir eine Pfeife richten?« fragte sie.
Als ich die Augen aufschlug, hatte sie die Lampe angezündet, und das Tablett war bereits vorbereitet. Das Licht gab ihrer Haut die Tönung dunklen Bernsteins, als sie sich über die Flamme beugte und vor Konzentration die Stirn runzelte, während sie das kleine Stückchen Opiumpaste erhitzte und ihre Nadel rasch hin und her drehte.
»Raucht Pyle immer noch nicht?« erkundigte ich mich.
»Nein.«
»Du solltest ihn aber dazu bringen, sonst kommt er nicht wieder.« Es gab bei ihnen diesen Aberglauben, daß ein Liebhaber, der Opium rauchte, unter allen Umständen zurückkehrte, sogar aus Frankreich. Das sexuelle Leistungsvermögen eines Mannes mochte durch das Opiumrauchen beeinträchtigt werden, aber sie zogen einen treuen Geliebten dem potenten vor. Jetzt knetete sie das winzige Kügelchen heißer Paste auf dem krummen Rand des Pfeifenkopfs, und ich konnte den Duft des Opiums riechen. Kein Geruch läßt sich mit dem seinen vergleichen. Die Zeiger des Weckers neben meinem Bett wiesen auf zwanzig Minuten nach zwölf, aber die Spannung war bereits von mir gewichen. Pyle war in den Hintergrund getreten. Das Lampenlicht fiel hell auf Phuongs Gesicht, während sie die lange Pfeife vorbereitete und sich mit der ernsten Aufmerksamkeit, die einem Kind hatte gelten können, darüber beugte. Ich liebte meine Pfeife: ein über zwei Fuß langes gerades Bambusrohr, an beiden Enden in Elfenbein gefaßt. Im unteren Drittel befand sich der Kopf, vergleichbar einer umgestülpten Windenblüte; der nach außen gewölbte Rand war durch das häufige Kneten des Opiums geglättet und nachgedunkelt. Jetzt stieß Phuong mit einer raschen Bewegung des Handgelenks die Nadel in die winzige Öffnung, gab das Opium frei, drehte den Pfeifenkopf über der Flamme um und hielt mir die Pfeife mit ruhiger Hand hin. Das Opiumkügelchen wallte sanft und leise, während ich den Rauch in die Lungen sog.
Ein geübter Raucher kann den Inhalt einer ganzen Pfeife auf einmal inhalieren, aber ich benötigte dazu immer mehrere Züge. Dann legte ich mich zurück, so daß mein Nacken auf dem Lederkissen ruhte, indessen Phuong mir die zweite Pfeife richtete.
»Die Sache ist ja sonnenklar«, sagte ich. »Pyle weiß, daß ich vor dem Schlafengehen gern ein paar Pfeifen rauche, und er will mich dabei nicht stören. Sicher wird er am Morgen vorbeikommen.«
Wieder fuhr die Nadel hinein, und ich rauchte meine zweite Pfeife. Als ich sie weglegte, sagte ich: »Kein Grund zur Beunruhigung, wirklich kein Grund zur Beunruhigung.« Ich nahm einen Schluck Tee und legte meine Hand in Phuongs Achselhöhle. »Als du mich verlassen hast, war es ein Glück für mich, daß ich dazu meine Zuflucht nehmen konnte«, sagte ich. »In der Rue d’Ormay gibt es ein gutes Haus. Was für ein Aufhebens machen doch wir Europäer von jeder Nichtigkeit! Du solltest nicht mit einem Mann zusammenleben, der nicht raucht, Phuong.«
»Er wird mich aber heiraten«, entgegnete sie. »Sehr bald schon.«
»Das ist natürlich etwas anderes.«
»Soll ich dir noch eine Pfeife richten?«
»Ja, bitte.«
Ich überlegte, ob sie bereit sein würde, heute nacht bei mir zu schlafen, falls Pyle überhaupt nicht kommen sollte. Ich wußte aber auch, daß ich kein Verlangen nach ihr empfinden würde, wenn ich vier Pfeifen geraucht hatte. Natürlich wäre es angenehm, ihren Schenkel an meiner Seite zu spüren – sie schlief immer auf dem Rücken; und wenn ich morgens erwachte, konnte ich den Tag mit einer Pfeife beginnen anstatt bloß mit meiner eigenen Gesellschaft. »Jetzt kommt Pyle nicht mehr«, sagte ich. »Bleib hier, Phuong.« Sie reichte mir die Pfeife und schüttelte den Kopf. Und als ich das Opium eingesogen hatte, machte es sehr wenig aus, ob sie blieb oder ging.
»Warum ist Pyle nicht hier?« fragte sie.
»Wie soll ich das wissen?«
»Ging er General Thé besuchen?«
»Das wüßte ich nicht zu sagen.«
»Er sagte mir, wenn er nicht mit dir zum Dinner gehen könnte, würde er hierher kommen.«
»Mach dir keine Sorgen. Er wird kommen. Bereite mir noch eine Pfeife.«
Als sie sich über die Flamme beugte, fiel mir ein Gedicht von Baudelaire ein:
»Mon enfant, ma sœur …« Wie ging es nur weiter?
Aimer à loisir,
Aimer et mourir
Au pays qui te ressemble.
Draußen am Flußufer schliefen die Schiffe, »dont l’humeur est vagabonde«. Ich dachte, ihrer Haut müßte ein zarter Duft von Opium entströmen, wenn ich daran röche, und ihre Farbe glich dem Schein der winzigen Flamme im Lämpchen. Die Blumen auf ihrem Kleid hatte ich an den Wasserläufen oben im Norden gesehen. Sie war in diesem Land heimisch wie eine Pflanze, und ich wollte nie mehr nach Hause zurückkehren.
»Ich wünschte, ich wäre Pyle«, sagte ich laut; doch der Schmerz war begrenzt und erträglich – dafür sorgte das Opium. Jemand klopfte an die Tür.
»Pyle«, sagte sie.
»Nein. Das ist nicht sein Klopfen.«
Wieder klopfte es, diesmal schon ungeduldig. Phuong erhob sich rasch, sie streifte gegen das gelbe Bäumchen, so daß es seine Blüten erneut über meine Schreibmaschine streute. Die Tür ging auf. »Monsieur Folaire«, sagte eine Stimme in Befehlston.
»Ich bin Fowler«, antwortete ich. Wegen eines Polizisten stand ich nicht auf – ich konnte seine kurze Khakihose sehen, ohne den Kopf zu heben.
Er erklärte mir in fast unverständlichem vietnamesischem Französisch, daß ich auf der Stelle – sofort – schnell – bei der Sureté zu erscheinen hätte.
»Bei der französischen Sureté oder bei der vietnamesischen?«
»Bei der französischen.« In seinem Munde klang das Wort »française« wie »françang«.
»Wozu?«
Das wußte er nicht: er hatte nur den Auftrag, mich zu holen. »Toi aussi«, sagte er zu Phuong.
»Sagen Sie gefälligst ›vous‹, wenn Sie mit einer Dame sprechen«, herrschte ich ihn an. »Wieso wußten Sie, daß sie hier ist?«
Er wiederholte bloß, daß dies seine Befehle seien.
»Ich komme morgen früh.«
»Sur le champ«, beharrte er, eine kleine, saubere, unbeugsame Erscheinung. Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten; also erhob ich mich, nahm meine Krawatte und schlüpfte in die Schuhe. In diesem Land hatte die Polizei stets das letzte Wort: Sie konnte meine Erlaubnis, mich im Staatsgebiet frei zu bewegen, rückgängig machen; sie konnte mich von den Pressekonferenzen ausschließen lassen; wenn sie wollte, konnte sie mir sogar eine Ausreisebewilligung verweigern. Das waren die offenen, die gesetzmäßigen Methoden; aber in einem Land, das sich im Krieg befand, war Gesetzmäßigkeit etwas Unwesentliches. Ich kannte einen Mann, der ganz plötzlich und auf unerklärliche Weise seinen Koch verlor. Er verfolgte seine Spur bis zur vietnamesischen Sureté, wo ihm der Beamte versicherte, daß der Mann nach einer Vernehmung wieder auf freien Fuß gesetzt worden sei. Seine Familie sah ihn nie wieder. Vielleicht hatte er sich zu den Kommunisten geschlagen, vielleicht war er in eine der privaten Armeen eingetreten, die rings um Saigon aus dem Boden schossen – die der Hoa-Haos, der Caodai-Anhänger oder des General Thé. Vielleicht saß er in einem französischen Gefängnis. Vielleicht war er drüben in Cholon, im Chinesenviertel, fröhlich damit beschäftigt, an Mädchen Geld zu verdienen. Oder vielleicht hatte ihn während des polizeilichen Verhörs der Herzschlag getroffen. Ich sagte: »Zu Fuß gehe ich nicht. Sie werden mir eine Rikscha zahlen müssen.« Man mußte seine Würde wahren.
Deshalb auch lehnte ich die Zigarette ab, die mir der französische Offizier in der Sureté anbot. Nach drei Opiumpfeifen war mein Verstand klar und hellwach; er vermochte solche Entscheidungen mit Leichtigkeit zu treffen, ohne dabei die wichtigste Frage aus den Augen zu lassen – was wollen sie von mir? Ich hatte Vigot zuvor etliche Male auf Gesellschaften getroffen – er war mir aufgefallen, weil er in unbegreiflicher Weise in seine Frau verliebt zu sein schien, eine auffallende, unechte Blondine, die ihn überhaupt nicht beachtete. Jetzt war es zwei Uhr morgens, und er saß müde und niedergeschlagen im Zigarettenrauch und in der drückenden Hitze. Seine Augen waren durch einen grünen Schirm geschützt. Auf dem Schreibtisch hatte er einen Band Pascal aufgeschlagen liegen, um sich damit die Zeit zu vertreiben. Als ich gegen seine Absicht, Phuong gesondert zu vernehmen, Einspruch erhob, gab er sofort nach – mit einem einzigen tiefen Seufzer, aus dem sein Überdruß an Saigon, an der Hitze oder am ganzen menschlichen Dasein sprechen mochte.
»Es tut mir sehr leid, daß ich Sie bitten mußte zu kommen«, sagte er auf englisch.
»Ich wurde nicht gebeten. Ich wurde beordert.«
»Ach, diese Polizisten von hier – die verstehen das nicht.« Seine Augen ruhten auf einer Seite von Les Pensées, als wäre er noch immer in jene traurigen Argumente versunken. »Ich wollte ein paar Fragen an Sie richten – wegen Pyle.«
»Da sollten Sie lieber ihn fragen.«
Er wandte sich an Phuong und verhörte sie in scharfem Ton und auf französisch. »Wie lange leben Sie schon mit Monsieur Pyle?«
»Vielleicht einen Monat – ich weiß es nicht«, sagte sie.
»Und wieviel hat er Ihnen gezahlt?«
»Sie haben kein Recht, sie das zu fragen«, sagte ich. »Sie ist nicht zu verkaufen.«
»Vorher lebte sie doch mit Ihnen, nicht wahr?« fragte er unvermittelt. »Zwei Jahre lang.«
»Ich bin ein Zeitungskorrespondent, der über Ihren Krieg berichten soll – wenn Sie ihn lassen. Verlangen Sie nicht von mir, daß ich auch noch Beiträge zu Ihrer Skandalchronik liefere.«
»Was wissen Sie über Pyle? Bitte, beantworten Sie meine Fragen, Mr. Fowler. Es widerstrebt mir, diese Fragen zu stellen, aber die Sache ist ernst. Glauben Sie mir, sie ist sehr ernst.«
»Ich bin kein Polizeispitzel. Was ich Ihnen über Pyle sagen könnte, wissen Sie selbst alles. Alter zweiunddreißig, beschäftigt bei der Wirtschaftshilfsmission, Staatsbürgerschaft amerikanisch.«
»Das hört sich an, als wären Sie ein Freund von ihm«, sagte Vigot, indem er an mir vorbei auf Phuong blickte. Ein vietnamesischer Polizist trat ein und brachte drei Tassen schwarzen Kaffees.
»Oder möchten Sie lieber Tee?« fragte mich Vigot.
»Ich bin ein Freund«, sagte ich. »Warum nicht? Ich werde eines Tages nach Hause fahren, nicht wahr? Ich kann sie nicht mitnehmen. Bei ihm wird sie gut aufgehoben sein. Ein durchaus vernünftiges Arrangement. Und er behauptet, er wird sie heiraten. Wissen Sie, das wäre möglich. Er ist nämlich in seiner Art ein guter Kerl. Ernst. Nicht einer von diesen lauten Lümmeln im ›Continental‹. Ein stiller Amerikaner«, sagte ich, ihn präzise zusammenfassend, wie ich hätte sagen können: »Eine blaue Eidechse«, »ein weißer Elefant«.
»Ja«, sagte Vigot. Plötzlich schien er auf seinem Schreibtisch nach Worten zu suchen, um mit ihnen seine Gedanken genauso präzise zu formulieren, wie ich es getan hatte. »Ein sehr stiller Amerikaner.« Er saß in seinem engen, stickig heißen Büro und wartete darauf, daß wir etwas sagten. Summend setzte ein Moskito zum Angriff an, und ich beobachtete Phuong. Opium macht hellhörig – vielleicht nur deshalb, weil es die Nerven beruhigt und die Erregung des Gemütes besänftigt. Nichts, nicht einmal der Tod, erscheint besonders wichtig. Phuong hatte nach meinem Empfinden den Ton von Vigots Worten, der wehmütig und endgültig war, nicht erfaßt, und ihre Kenntnisse des Englischen waren sehr dürftig. Während sie geduldig auf dem harten Bürostuhl saß, wartete sie noch immer auf Pyle. Ich hatte in diesem Augenblick das Warten aufgegeben und konnte sehen, daß Vigot diese beiden Tatsachen nicht entgangen waren.
»Unter welchen Umständen trafen Sie ihn zum erstenmal?« fragte er mich.
Wozu sollte ich ihm erklären, daß Pyle es war, der mich getroffen hatte? Ich hatte ihn im vergangenen September quer über den Platz zur Bar des »Continental« herüberkommen sehen: ein unverkennbar junges, unverbrauchtes Gesicht, das uns gleich einem Pfeil entgegengeschleudert wurde. Mit seinen langen, schlaksigen Beinen, dem militärischen Bürstenhaarschnitt und dem weiten Blick, der gewohnt war, ein Universitätsgelände zu überschauen, sah er aus, als könne er niemandem ein Haar krümmen. Vorne am Straßenrand waren fast alle Tische besetzt. »Gestatten Sie?« hatte er mich mit ernster Höflichkeit gefragt. »Mein Name ist Pyle. Ich bin hier neu.« Und er hatte die Beine um einen Stuhl gewickelt und ein Bier bestellt. Dann blickte er mit einer raschen Bewegung in das harte, grelle Licht der Mittagssonne hinaus.
»War das eben eine Handgranate?« fragte er erregt und zugleich hoffnungsvoll.
»Höchstwahrscheinlich der Auspuff eines Autos«, sagte ich, und plötzlich tat er mir in seiner Enttäuschung leid. So rasch vergißt man die eigene Jugend: Einstmals interessierte auch ich mich für das, was man mangels eines besseren Ausdrucks als Neuigkeit bezeichnet. Aber Handgranaten hatten ihre Wirkung auf mich verloren; sie wurden nur noch auf der letzten Seite des Lokalblättchens vermerkt – so viele in der vergangenen Nacht in Saigon, und so viele drüben in Cholon. Den Weg in die europäische Presse fanden sie überhaupt nicht mehr. Die Straße herab kamen die schönen, schmalen Gestalten in weißen Seidenhosen, langen, enganliegenden Jacken mit rosa oder lila Mustern, seitlich bis zum Oberschenkel hinauf geschlitzt: Ich betrachtete sie mit jenem Gefühl des Heimwehs, von dem ich damals schon wußte, daß ich es dereinst empfinden würde, wenn ich diese Regionen für immer verlassen hätte. »Wunderschön sind sie, nicht wahr?« sagte ich über mein Bier hinweg, und Pyle schenkte ihnen einen flüchtigen Blick, während sie die Rue Catinat hinaufschlenderten.
»Oh gewiß«, antwortete er gleichgültig. Er war einer von der ernsten Sorte. »Unser Gesandter macht sich wegen dieser Handgranaten große Sorgen. Es wäre sehr peinlich, sagt er, wenn es einen Zwischenfall gäbe – mit einem von unseren Leuten, meine ich.«
»Mit einem von Ihnen? Ja, ich glaube, das wäre eine ernste Angelegenheit. Dem Kongreß würde das bestimmt nicht gefallen.« Weshalb überkommt einen die Lust, die Unerfahrenen zu hänseln? Vor zehn Tagen war er vielleicht noch über das Common, den Park im Herzen Bostons, geschritten, die Arme voll Bücher, die er zu seiner Vorbereitung über den Fernen Osten und die Probleme Chinas gelesen hatte. Er hörte gar nicht, was ich sagte; so beschäftigt war er bereits mit den Zwangsentscheidungen der Demokratie und der Verantwortung des Westens. Er war – das sollte ich sehr bald erfahren – fest entschlossen, Gutes zu tun, nicht einem einzelnen Menschen, sondern einem Land, einem Kontinent, einer Welt. Nun, jetzt war er in seinem Element, und das ganze Universum stand ihm für seine Weltverbesserungspläne offen.
»Liegt er in der Leichenhalle?« fragte ich Vigot.
»Woher wußten Sie, daß er tot ist?« Das war eine alberne Frage aus dem Munde eines Polizisten, unwürdig eines Mannes, der Pascal las, und ebenso unwürdig eines Mannes, der seine Frau in so seltsamer Weise liebte. Ohne Intuition kann man nicht lieben.
»Ich bekenne mich nicht schuldig«, erklärte ich und sagte mir, daß dies der Wahrheit entsprach. War Pyle nicht stets seine eigenen Wege gegangen? In meinem Herzen forschte ich nach irgendeinem Gefühl, und sei es Unwillen über den Argwohn eines Polizeibeamten, doch ich konnte keines entdecken. Niemand außer Pyle selbst war für das Geschehene verantwortlich zu machen. »Wäre es nicht für uns alle besser, wir wären tot?« argumentierte das Opium in mir. Aber ich warf einen verstohlenen Blick auf Phuong, denn für sie war es hart. Sie mußte ihn auf ihre Art geliebt haben: hatte sie mich nicht gern gehabt und mich dennoch Pyles wegen verlassen? Sie hatte sich an die Jugend, die Hoffnung und die Ernsthaftigkeit angeschlossen, und jetzt hatten jene sie ärger im Stich gelassen als Alter und Verzweiflung. Sie saß da und betrachtete uns beide; offenbar hatte sie es noch nicht begriffen. Ich überlegte, daß es vielleicht gut wäre, wenn ich sie von hier wegbrächte, bevor ihr das Geschehene zu Bewußtsein kam. Also war ich bereit, alle Fragen zu beantworten, falls ich die Vernehmung zu einem raschen und zweideutigen Ende bringen konnte, um ihr erst später unter vier Augen, nicht unter dem scharfen Blick des Kriminalisten, und fern von den harten Bürostühlen und der ungeschützten grellen Lampe, um die die Nachtfalter taumelten, alles mitzuteilen.
»Über welche Stunden wünschen Sie Aufklärung?« sagte ich zu Vigot.
»Über die Zeit zwischen sechs und zehn.«
»Um sechs Uhr nahm ich im ›Continental‹ einen Drink. Die Kellner werden sich daran erinnern. Um sechs Uhr fünfundvierzig ging ich an den Kai hinunter, um zuzusehen, wie die amerikanischen Flugzeuge ausgeladen wurden. Am Eingang des ›Majestic‹ traf ich Wilkins von der ›Associated News‹. Dann ging ich nebenan ins Kino. Dort wird man sich wahrscheinlich erinnern – sie mußten mir eine größere Banknote wechseln. Vom Kino weg fuhr ich in einer Rikscha zum ›Vieux Moulin‹ – ich kam schätzungsweise um acht Uhr dreißig an und aß allein mein Dinner. Granger war dort – Sie können ihn fragen. Um ungefähr Viertel vor zehn fuhr ich in einer Rikscha nach Hause. Sie können wohl den Fahrer ausfindig machen. Ich erwartete Pyle um zehn, er kam aber nicht.«
»Warum erwarteten Sie ihn?«
»Er rief mich an und sagte, er müsse mich in einer wichtigen Angelegenheit sprechen.«
»Haben Sie eine Idee, was das sein mochte?«
»Nein. Für Pyle war alles wichtig.«
»Und seine Freundin da? Wissen Sie, wo sie war?«
»Um Mitternacht wartete sie unten auf der Straße auf ihn. Sie war besorgt. Sie weiß nichts. Nun, können Sie nicht sehen, daß sie noch immer auf ihn wartet?«
»Ja«, sagte er.
»Und Sie können doch nicht im Ernst annehmen, daß ich ihn aus Eifersucht ermordete, oder sie ihn – aus welchem Grund denn? Er wollte sie doch heiraten.«
»Ja.«
»Wo hat man ihn gefunden?«
»Er lag im Wasser unter der Brücke nach Dakow.«
Das »Vieux Moulin« befand sich neben der Brücke. Bewaffnete Polizei stand auf der Brücke, und das Restaurant war durch ein starkes Eisengitter vor Handgranaten geschützt. Nachts war es gefährlich, über die Brücke zu gehen, da sich nach Einbruch der Dunkelheit das gesamte jenseitige Flußufer in den Händen der Vietminh befand. Als ich beim Dinner saß, konnte ich nicht mehr als fünfzig Meter von seiner Leiche entfernt gewesen sein.
»Es war sein Unglück, daß er sich in die Politik hineinziehen ließ«, sagte ich.
»Um offen zu sein: besonders leid tut es mir nicht«, erwiderte Vigot. »Er hat viel Schaden angerichtet.«
»Gott bewahre uns stets vor den Unschuldigen und vor den Guten«, sagte ich.
»Vor den Guten?«
»Ja. Er war gut – auf seine Art. Sie sind Katholik. Sie würden seine Art nicht begreifen. Wie dem auch sei, letztlich war er ein verdammter Yankee.«
»Wären Sie bereit, ihn zu identifizieren? Sie müssen entschuldigen, aber es ist Vorschrift, keine sehr angenehme Vorschrift.«
Ich nahm mir nicht die Mühe, ihn zu fragen, weshalb er nicht auf einen Beamten der amerikanischen Gesandtschaft wartete, denn ich wußte Bescheid. Gemessen an unseren kaltschnäuzigen Methoden, erscheinen jene der Franzosen ein wenig altmodisch: Sie glauben noch an das Gewissen, an das Schuldgefühl und meinen, ein Verbrecher soll dem Opfer seiner Tat gegenübergestellt werden; vielleicht verliert er dann die Fassung und verrät sich. Während wir die Steintreppe zum Keller hinunterstiegen, wo die Kühlanlage leise summte, sagte ich mir von neuem, daß ich unschuldig war.
Sie zogen ihn heraus wie ein Tablett mit Eiswürfeln und ich betrachtete ihn. In der Eiseskälte waren seine Wunden zu friedlicher Gelassenheit erstarrt. »Sehen Sie, sie öffnen sich in meiner Gegenwart nicht«, sagte ich zu Vigot.
»Comment?«
»Ist das nicht unter anderem der Zweck dieser Sache? Gottesgericht in irgendeiner Form? Aber Sie haben ihn steifgefroren. Im Mittelalter hatte man noch keine Tiefkühler.«
»Sie erkennen ihn?«
»O ja.«
Pyle schien mehr denn je fehl am Platz zu sein: Er hätte daheimbleiben sollen. Ich sah ihn wie in einem Familienalbum, beim Reiten auf einer vornehmen Ranch, beim Baden auf Long Island, im Kreis seiner Kollegen in einer Wohnung im dreiundzwanzigsten Stockwerk. Er gehörte in die Welt der Wolkenkratzer und der Expreßaufzüge, der Eiscreme und der Martini-Cocktails, dorthin, wo man zum Lunch Milch trinkt und an Bord des »Merchant Adventurer« Sandwiches mit Hühnerfleisch ißt.
»Daran ist er nicht gestorben«, sagte Vigot und deutete auf eine Wunde in der Brust. »Er wurde im Schlamm ertränkt. Wir fanden Schlamm in der Lunge.«
»Sie arbeiten flink.«
»Das muß man in diesem Klima.«
Sie schoben das Tablett zurück und schlossen die Tür. Die Gummidichtung machte ein dumpfes Geräusch.
»Sie können uns also gar nicht helfen?« fragte Vigot.
»Nicht im geringsten.«
Ich ging mit Phuong zu meiner Wohnung zurück. Jetzt war ich nicht mehr auf meine Würde bedacht. Der Tod raubt uns alle Eitelkeit – sogar die Eitelkeit des betrogenen Liebhabers, der seinen Schmerz nicht zeigen darf. Sie wußte immer noch nicht, was vorgefallen war, und ich besaß nicht die Fähigkeit, es ihr allmählich und schonend beizubringen. Ich war Berichterstatter: Ich dachte in Schlagzeilen. »Amerikanischer Beamter in Saigon ermordet«. Wenn man für eine Zeitung arbeitet, lernt man nicht, wie man schlimme Nachrichten schonend beibringt, und sogar in dieser Stunde mußte ich an meine Redaktion denken und Phuong fragen: »Stört es dich, wenn wir kurz beim Telegrafenamt halten?« Ich ließ sie auf der Straße warten, sandte mein Telegramm ab und kehrte wieder zu ihr zurück. Das Ganze war nicht mehr als eine Geste: Ich wußte nur zu gut, daß die französischen Korrespondenten wohl über den Fall bereits informiert waren; falls aber Vigot sich fair benommen hatte (was durchaus im Bereich des Möglichen lag), dann würde die Zensur mein Telegramm so lange zurückhalten, bis die Franzosen ihre eigenen Meldungen eingereicht hatten. Meine Zeitung würde die Nachricht zuerst aus Paris erhalten. Nicht, daß Pyle besonders wichtig war. Es wäre nicht angegangen, die Einzelheiten seiner wahren Laufbahn zu kabeln, etwa, daß er vor seinem gewaltsamen Ende für den Tod von mindestens fünfzig Menschen verantwortlich war. Denn dies hätte die britisch-amerikanischen Beziehungen getrübt, und der Gesandte wäre höchst bestürzt gewesen. Der Gesandte war von großer Hochachtung vor Pyle erfüllt – Pyle hatte seine Studien mit gutem Erfolg abgeschlossen, in – nun, in einem jener Fächer, die man in Amerika eben studieren kann: vielleicht Public Relations oder Theaterwissenschaft, vielleicht sogar Ostasienkunde (er hatte darüber eine Menge Bücher gelesen).
»Wo ist Pyle?« fragte Phuong. »Was wollte die Polizei?«
»Komm heim«, sagte ich.
»Wird Pyle kommen?«
»Es ist so wahrscheinlich, daß er dorthin kommt wie irgendwohin anders.«
In der verhältnismäßig kühlen Luft des Treppenhauses klatschten noch immer die alten Weiber. Als ich meine Tür öffnete, erkannte ich sofort, daß mein Zimmer durchsucht worden war: Alles war ordentlicher, als ich es jemals verlassen hatte.
»Noch eine Pfeife?« fragte mich Phuong.
»Ja.«
Ich legte die Krawatte ab und zog die Schuhe aus; das Zwischenspiel war vorüber, die Nacht beinahe so, wie sie vordem gewesen war. Phuong hockte am Ende meines Betts und zündete die Lampe an. Mon enfant, ma sœur – die Haut mit der Farbe von Bernstein. Sa douce langue natale.
»Phuong«, sagte ich. Auf dem Pfeifenkopf knetete sie jetzt das Opium. »Il est mort, Phuong.« Sie hielt die Nadel in der Hand und blickte zu mir empor, stirnrunzelnd wie ein Kind, das seine Gedanken zu sammeln trachtet. »Tu dis?«
»Pyle est mort. Assassiné.«
Sie legte die Nadel weg, setzte sich zurück auf die Fersen und starrte mich unverwandt an. Es gab keine Szene, keine Tränen, nur Gedanken – die langen, in sich gekehrten Gedanken eines Menschen, der seinen ganzen Lebensweg ändern muß.
»Bleib heute nacht lieber hier«, sagte ich.
Sie nickte, nahm die Nadel wieder zur Hand und begann das Opium zu erhitzen. In dieser Nacht erwachte ich aus einer jener Perioden tiefen Opiumschlafs, die nur zehn Minuten dauern und dennoch den Eindruck einer vollen Nachtruhe hinterlassen, und bemerkte, daß meine Hand dort lag, wo sie nachts immer gelegen hatte: zwischen ihren Beinen. Sie schlief, und ihr Atem war kaum zu hören. Wieder einmal war ich nach vielen Monaten nicht allein; und dennoch, als mir Vigot in den Sinn kam, mit dem grünen Schirm über den Augen, im engen Polizeirevier, und die stillen, menschenleeren Gänge in der Gesandtschaft, und als ich die weiche, unbehaarte Haut unter meiner Hand spürte, da dachte ich plötzlich zornig: »Bin ich der einzige, dem Pyle wirklich etwas bedeutete?«