3
Auf dem Boden brannte ein winziges Öllämpchen. An der Wand kauerten zwei Männer und beobachteten mich. Der eine hatte eine Maschinenpistole, der andere ein Gewehr; aber beide waren genauso erschrocken, wie ich es gewesen war. Sie sahen wie Schuljungen aus; doch bei den Vietnamesen bricht das Alter so plötzlich herein wie der Sonnenuntergang – heute sind sie Knaben und morgen Greise. Ich war froh, daß meine Hautfarbe und der Schnitt meiner Augen als Passierschein galten – jetzt würden sie nicht einmal aus Angst schießen.
Ich erhob mich aus der Öffnung im Boden, während ich beruhigend auf sie einredete, ihnen erzählte, daß mein Auto draußen stand und mir das Benzin ausgegangen war. Vielleicht hatten sie irgendwo im Turm ein paar Liter aufbewahrt, die ich ihnen abkaufen konnte. Es kam mir eher unwahrscheinlich vor, als ich mich umsah. In dem kleinen runden Raum gab es nichts außer einer Kiste Munition für die Maschinenpistole, einem kleinen hölzernen Bettgestell und zwei Tornistern, die an einem Nagel in der Wand hingen. Näpfe mit Resten von Reis und ein paar hölzerne Eßstäbchen bewiesen, daß die beiden ohne viel Appetit gegessen hatten.
»Gerade soviel, um das nächste Fort zu erreichen?« fragte ich.
Die Männer kauerten an der Wand, und der eine – der mit dem Gewehr – schüttelte den Kopf.
»Wenn Sie uns nichts geben können, dann müssen wir die Nacht hier verbringen.«
»C’est défendu.«
»Von wem?«
»Sie sind Zivilist.«
»Kein Mensch wird mich zwingen, unten auf der Straße sitzenzubleiben und mir die Kehle durchschneiden zu lassen.«
»Sind Sie Franzose?«
Nur einer der Männer hatte gesprochen. Der andere saß da, den Kopf zur Seite gewandt, und beobachtete die Schießscharte in der Wand. Er konnte unmöglich mehr sehen als ein Stück Himmel in der Größe einer Postkarte: Er schien zu horchen, und so begann auch ich zu horchen. Die Stille füllte sich mit Geräuschen: Laute, denen man schwerlich einen Namen hätte geben können – ein Knacken, ein Knistern, ein Rascheln, etwas, das wie ein Hüsteln klang, und ein Flüstern. Dann hörte ich Pyle: Er war offenbar zum unteren Ende der Leiter gekommen. »Alles in Ordnung, Thomas?«
»Kommen Sie herauf!« rief ich zurück. Er begann die Leiter zu erklimmen, und der stumme Soldat fuhr mit seiner Maschinenpistole herum – ich glaube nicht, daß er ein einziges Wort gehört hatte: Es war eine ungeschickte, nervöse Reflexbewegung. Mir wurde klar, daß er vor Angst gelähmt war. Ich schnauzte ihn an wie ein Feldwebel: »Leg die Knarre hin!«, und ich verwendete einen unflätigen französischen Ausdruck, von dem ich annahm, daß er ihm geläufig war. Der Mann gehorchte automatisch. Inzwischen war Pyle heraufgekommen. Ich sagte: »Sie bieten uns den sicheren Aufenthalt im Turm bis zum Morgen an.«
»Fein«, sagte Pyle. Etwas schien ihm Kopfzerbrechen zu bereiten. Er sagte: »Sollte eigentlich nicht einer von diesen zwei Schafsköpfen Wache schieben?«
»Sie ziehen es vor, nicht angeschossen zu werden. Ich wünschte, Sie hätten etwas Stärkeres zum Trinken mitgebracht als Limonensaft!«
»Nächstes Mal werde ich das wohl tun«, sagte Pyle.
»Wir haben eine lange Nacht vor uns!« Nun, da Pyle bei mir war, vernahm ich die Geräusche nicht mehr. Selbst die beiden Soldaten schienen weniger verkrampft zu sein.
»Was geschieht, wenn die Vietminh sie angreifen?« fragte Pyle.
»Sie werden einen Schuß abgeben und davonrennen. Jeden Morgen können Sie es im Extrème-Orient lesen: ›In der vergangenen Nacht geriet südwestlich von Saigon eine Vorpostenstellung vorübergehend in die Hände der Vietminh.‹«
»Eine unerfreuliche Aussicht.«
»Zwischen uns und Saigon stehen vierzig solcher Türme. Wir haben also die Chance, daß es einen anderen erwischt.«
»Jetzt könnten wir diese belegten Brote brauchen«, sagte Pyle. »Ich meine doch, daß einer von den Burschen Ausschau halten sollte.«
»Er fürchtet sich, daß eine Kugel hereinschauen könnte.« Mittlerweile hatten wir uns auf dem Boden ausgestreckt, worauf die Spannung der beiden Vietnamesen ein wenig nachließ. Ich empfand Mitleid mit ihnen: Für zwei schlecht ausgebildete Soldaten war es keine leichte Aufgabe, Nacht für Nacht hier oben zu sitzen und nie zu wissen, wann sich die Vietminh durch die Reisfelder an die Straße heranmachen würden. Ich sagte zu Pyle: »Glauben Sie, wissen die zwei, daß sie für die Demokratie kämpfen? Wir sollten Ihren York Harding da haben, um es ihnen zu erklären.«
»Immer machen Sie sich über Harding lustig«, sagte Pyle.
»Ich mache mich über jeden lustig, der so viel Zeit damit vergeudet, über etwas zu schreiben, was gar nicht existiert – über geistige Konzeptionen.«
»Für ihn existieren sie. Haben Sie denn keine geistigen Konzeptionen? Zum Beispiel Gott?«
»Ich habe keine Veranlassung, an einen Gott zu glauben. Haben Sie eine?«
»Ja. Ich bin Unitarier.«
»An wie viele Millionen Arten von Gott glauben die Menschen? Ja, sogar ein Katholik glaubt jeweils an einen ganz anderen Gott, wenn er erschrocken oder glücklich oder hungrig ist.«
»Wenn es einen Gott gibt, dann ist er vielleicht so unermeßlich groß, daß er jedem Menschen anders erscheint.«
»Wie der riesige Buddha in Bangkok«, sagte ich. »Man kann ihn nicht mit einem Blick in seiner ganzen Größe überschauen. Doch der hält wenigstens still.«
»Ich meine, Sie versuchen bloß, den Abgebrühten zu spielen«, sagte Pyle. »An irgend etwas müssen Sie doch glauben. Niemand kann ganz ohne Glauben weiterleben.«
»Oh, ich bin kein Anhänger von Bischof Berkeley. Ich glaube daran, daß mein Rücken an dieser Wand lehnt. Ich glaube daran, daß dort drüben eine Maschinenpistole ist.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Ich glaube sogar, was ich berichte, und das ist mehr, als die meisten Ihrer Zeitungskorrespondenten tun.«
»Zigarette?«
»Danke, ich rauche nicht – außer Opium. Aber geben Sie den Wachtposten eine. Es ist besser, wir erhalten uns ihre Freundschaft.« Pyle stand auf, bot den Soldaten Zigaretten an, gab ihnen Feuer und kam dann zurück. »Ich wollte, Zigaretten hätten eine symbolische Bedeutung ähnlich wie Salz«, sagte ich.
»Trauen Sie ihnen denn nicht?«
»Kein französischer Offizier würde gern mit zwei verängstigten Vietnamesen die Nacht in einem solchen Turm zubringen. Ja, es ist bekannt, daß sogar schon ein ganzer Zug Soldaten seine Offiziere ausgeliefert hat. Bisweilen haben die Vietminh mit einem Megaphon mehr Erfolg als mit einem Panzergewehr. Ich kreide ihnen das nicht übel an. Sie glauben auch an nichts. Sie, Pyle, und Ihre Gesinnungsgenossen versuchen einen Krieg zu führen mit Hilfe von Menschen, die daran einfach nicht interessiert sind.«
»Sie wollen keinen Kommunismus.«
»Sie wollen genug Reis«, sagte ich. »Sie wollen nicht erschossen werden. Sie wollen, daß ein Tag ungefähr dem anderen gleicht. Sie wollen nicht, daß wir Weißen hier sind und ihnen sagen, was sie wollen.«
»Wenn Indochina geht …«
»Diese Walze kenne ich zur Genüge. Dann geht auch Siam, geht Malaia, geht Indonesien. Was heißt ›geht‹? Wenn ich an Ihren Gott glaubte und an ein Leben im Jenseits, würde ich meine künftige Harfe gegen Ihre goldenen Krone wetten, daß es in fünfhundert Jahren kein New York und kein London geben mag, doch auf diesen Feldern werden die Bauern noch immer ihren Reis pflanzen, sie werden ihre Erzeugnisse an langen Stangen zum Markt bringen und dabei ihre spitzen Hüte tragen. Und die kleinen Jungen werden auf den Büffeln reiten. Ich mag die Büffel; sie können unseren Geruch, den Geruch von Europäern, nicht ausstehen. Und vergessen Sie nicht: In den Augen eines Büffels sind Sie auch ein Europäer.«
»Die Leute werden gezwungen werden, das zu glauben, was man ihnen vorredet; sie werden nicht selbständig denken dürfen.«
»Denken ist Luxus. Glauben Sie, der Bauer sitzt da und denkt an Gott und an die Demokratie, wenn er abends in seine Lehmhütte zurückgekehrt ist?«
»Sie reden, als ob es im ganzen Land nur Bauern gäbe. Was ist mit den Gebildeten? Werden die glücklich sein?«
»O nein«, sagte ich, »wir haben sie nach unseren Ideen erzogen. Wir haben sie gefährliche Spiele gelehrt, und deshalb sitzen wir jetzt hier und hoffen, daß man uns nicht die Gurgel durchschneidet. Wir verdienen es, daß man sie uns durchschneidet. Ich wünschte nur, Ihr Freund Harding säße auch hier. Ich möchte wissen, wieviel er dafür übrig hätte.«
»York Harding ist ein sehr mutiger Mensch. Also in Korea …«
»Er war nicht im Militärdienst, oder? Er hatte eine Rückfahrkarte in der Tasche. Wenn man eine Rückfahrkarte hat, dann wird der Mut zu einer geistigen Übung, ähnlich der Selbstgeißelung eines Mönchs. Wieviel kann ich aushalten? Diese armen Teufel hier können nicht ins Flugzeug steigen und heimfahren. He!« rief ich zu ihnen hinüber. »Wie heißt ihr?« Ich dachte, die Kenntnis ihrer Namen würde sie irgendwie in den Kreis unserer Unterhaltung einbeziehen. Sie gaben keine Antwort: Sie sahen nur finster hinter ihren Zigarettenstummeln zu uns herüber. »Sie halten uns für Franzosen«, sagte ich.
»Das ist es ja gerade«, meinte Pyle. »Sie sollten nicht gegen Harding sein, Sie sollten gegen die Franzosen und ihren Kolonialismus sein.«
»Ismen und Kratien! Geben Sie mir Tatsachen. Ein Gummiplantagenbesitzer verprügelt einen Arbeiter – gut, ich bin gegen ihn. Er hat vom Kolonialminister nicht die Weisung erhalten, das zu tun. In Frankreich würde er wahrscheinlich seine Frau verprügeln. Ich habe einen Priester gesehen, so arm, daß er nur eine einzige Hose besaß; er arbeitete während einer Choleraepidemie fünfzehn Stunden am Tag, ging von Hütte zu Hütte, aß nichts als Reis und Salzfische und las mit einem alten Becher und einem Holzteller die Messe. Ich glaube nicht an Gott, und doch bin ich für diesen Priester. Weshalb sprechen Sie hier nicht von Kolonialismus?«
»Es ist Kolonialismus. Harding sagt, daß es oft gerade die guten Verwaltungsbeamten sind, die es schwer machen, ein an sich schlechtes System zu ändern.«
»Jedenfalls sterben tagtäglich die Franzosen – das ist kein geistiges Konzept. Die Franzosen verführen diese Leute nicht mit halben Lügen, wie eure Politiker das tun – und die unsrigen auch. Ich bin in Indien gewesen, Pyle, und ich weiß, welchen Schaden die Liberalen anrichten. Wir haben keine liberale Partei mehr – der Liberalismus hat alle anderen Parteien infiziert. Wir sind alle entweder liberale Konservative oder liberale Sozialisten: Wir alle haben ein reines Gewissen. Ich bin lieber ein Ausbeuter, der für das kämpft, was er ausbeutet, und mit ihm fällt. Sehen Sie sich doch die Geschichte Burmas an. Wir gehen hin und dringen in das Land ein. Die einheimischen Stämme unterstützen uns. Wir siegen. Aber genau so wie ihr Amerikaner waren wir damals keine Verfechter des Kolonialsystems. O nein: wir schlossen mit dem König Frieden, gaben ihm seine Provinzen zurück und ließen es geschehen, daß unsere Verbündeten ans Kreuz geschlagen und in Stücke gesägt wurden. Sie waren unschuldig. Sie hatten geglaubt, wir würden bleiben. Aber wir waren ja liberal, wir wollten ein reines Gewissen haben.«
»Das war vor langer Zeit.«
»Hier werden wir es genauso machen. Erst ermutigen wir sie und dann lassen wir sie im Stich – mit unzulänglicher Ausrüstung und einer Spielzeugindustrie.«
»Spielzeugindustrie?«
»Ja, Ihr Kunststoff.«
»Ach ja, ich verstehe.«
»Ich weiß nicht, wozu ich jetzt über Politik rede. Sie interessiert mich gar nicht, ich bin bloß Reporter. Ich bin nicht engagé.«
»Wirklich nicht?« sagte Pyle.
»Nur um ein Diskussionsthema zu haben – bloß damit uns diese verdammte Nacht schneller vergeht. Ich ergreife nicht Partei. Wer immer hier gewinnt, ich werde darüber berichten.«
»Wenn die anderen gewinnen, dann werden Sie Lügen berichten.«
»Gewöhnlich kann man das schon irgendwie umgehen, und ich habe in unseren Zeitungen auch nicht viel Achtung vor der Wahrheit bemerken können.«
Ich glaube, die Tatsache, daß wir dort saßen und uns unterhielten, machte den beiden Soldaten Mut: Vielleicht meinten sie, der Klang unserer weißen Stimmen – denn auch Stimmen haben eine Farbe, gelbe Stimmen singen, schwarze Stimmen gurgeln, während die unseren bloß reden – werde eine größere Zahl von Anwesenden vortäuschen und so die Vietminh vom Turm fernhalten. Sie griffen nach ihren Schüsseln und begannen wieder zu essen, und während sie mit den Eßstäbchen scharrten, beobachteten sie uns über den Rand der Näpfe hinweg.
»Sie meinen also, wir haben bereits verloren?«
»Das ist nicht der springende Punkt«, sagte ich. »Ich lege keinen besonderen Wert darauf, daß Sie gewinnen. Ich möchte, daß die beiden armen Tröpfe hier glücklich sind – weiter nichts. Ich wollte, sie müßten nicht erschrocken in finsterer Nacht hier kauern.«
»Für die Freiheit muß man kämpfen.«
»Ich habe in dieser Gegend noch keinen Amerikaner kämpfen sehen. Und was die Freiheit anlangt, so weiß ich nicht, was sie bedeutet. Fragen Sie die beiden doch.« Ich rief auf französisch zu den Männern hinüber: »La liberté – qu’est-ce que c’est la liberté?« Sie schluckten ihren Reis, starrten zu uns herüber und sagten kein Wort.
»Wollen Sie denn, daß alle Menschen über den gleichen Leisten geschlagen werden? Sie debattieren nur um des Debattierens willen. Sie sind ein Intellektueller. Sie treten genauso für die Bedeutung des Individuums ein wie ich – oder Harding«, sagte Pyle.
»Warum haben wir sie erst jetzt entdeckt?« fragte ich. »Vor vierzig Jahren redete kein Mensch davon.«
»Damals war sie auch noch nicht bedroht.«
»Die unsere war nicht bedroht, o nein, aber wer kümmerte sich um die Individualität eines einzelnen Mannes im Reisfeld? Und wer kümmert sich heute darum? Der einzige, der ihn als Mensch behandelt, ist der politische Kommissar. Der sitzt bei ihm in seiner Hütte, erkundigt sich nach seinem Namen und hört sich seine Beschwerden an; er opfert vielleicht eine Stunde am Tag, um ihn zu lehren – was, ist Nebensache, er wird wie ein Mensch behandelt, wie jemand, der wertvoll ist. Hören Sie auf, im Osten gedankenlos das Schlagwort von der Bedrohung der Seele des Individuums nachzuplappern. Hier würden Sie sich damit auf der falschen Seite befinden – es sind die anderen, die für die Rechte des Individuums eintreten, wir treten nur für den gemeinen Soldaten Nummer 23.987 ein, die kleinste Einheit in der globalen Strategie.«
»Die Hälfte von dem, was Sie da sagen, meinen Sie gar nicht so«, sagte Pyle unbehaglich.
»Wahrscheinlich drei Viertel. Ich bin schon lange in diesem Land. Wissen Sie, es ist gut, daß ich nicht engagé bin. Sonst könnte ich in Versuchung geraten, gewisse Dinge zu tun – denn hier im Osten – nun, ich mag Ihren Ike nicht. Ich mag – die beiden Kerle hier. Dies ist ihr Land. Wie spät ist es? Meine Uhr ist stehengeblieben.«
»Halb neun vorbei.«
»Noch zehn Stunden, dann können wir aufbrechen.«
»Es wird ziemlich kalt werden«, meinte Pyle; er zitterte.
»Das hätte ich nie erwartet.«
»Rings um uns ist Wasser. Ich habe eine Decke im Wagen. Die wird genügen.«
»Ist es nicht gefährlich?«
»Es ist noch zu früh für die Vietminh.«
»Lassen Sie mich gehen.«
»Nein, ich bin an die Dunkelheit besser gewöhnt.«
Als ich aufstand, hörten die Soldaten zu essen auf. »Je reviens, tout de suite«, sagte ich zu ihnen. Ich ließ die Beine in die Öffnung der Falltür baumeln, tastete nach der Leiter und stieg hinunter. Es ist merkwürdig, wie ein Gespräch beruhigt, besonders eines über abstrakte Dinge: Es scheint die seltsamste Umgebung zu normalisieren. Ich hatte keine Angst mehr: Es war, als hätte ich ein Zimmer verlassen, in das ich zurückkehren würde, um die Unterhaltung fortzusetzen – der Wachtturm war die Rue Catinat, die Bar des »Majestic« oder gar ein Zimmer in der Nähe des Gordon Square.
Ich stand eine Minute lang unter dem Turm, damit sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Es gab Sternenlicht, aber keinen Mondschein. Mondschein erinnert mich immer an eine Leichenhalle, an den kalten Widerschein einer ungeschützten Glühbirne auf einer Marmorplatte; das Sternenlicht hingegen ist voll Leben, ist niemals still; fast scheint es, als ob jemand aus jenen unermeßlichen Räumen uns eine Botschaft des guten Willens zukommen lassen wollte, denn schon die Namen der Sterne klingen freundlich. Venus ist jede Frau, die wir lieben; die beiden Bären sind die Bären aus der Kindheit, und vermutlich ist das Kreuz des Südens für jene, die gleich meiner Frau gläubig sind, eine Lieblingshymne oder ein Gebet beim Schlafengehen. Einmal zitterte ich so, wie es Pyle zuvor getan hatte. Aber die Nacht war heiß genug, nur die seichten Wasserflächen beiderseits der Straße gaben ihrer Schwüle gleichsam einen frostigen Überzug. Ich wollte zum Wagen gehen, und während ich so auf der Straße stand, glaubte ich einen Augenblick, er sei nicht mehr da. Das erschütterte mein Selbstvertrauen, selbst noch, als mir einfiel, daß er ja dreißig Meter vor dem Turm ausgerollt war. Unwillkürlich duckte ich mich beim Gehen: Ich hatte das Gefühl, auf diese Weise weniger leicht aufzufallen.
Ich mußte den Kofferraum aufschließen, um an die Decke zu gelangen, und das Klicken und Quietschen in der nächtlichen Stille ließ mich zusammenfahren. Es behagte mir gar nicht, als einziger ein Geräusch zu machen in dieser nächtlichen Dunkelheit, die voll von Menschen sein mußte. Die Decke über die Schulter geworfen, ließ ich den Deckel des Kofferraums jetzt viel behutsamer herab, als ich ihn vorhin gehoben hatte; und dann, gerade als der Verschluß einschnappte, flammte der Himmel in Richtung Saigon hell auf, und über der Straße kam der Donner einer gewaltigen Explosion herangerollt. Ein Maschinengewehr ratterte einmal und noch einmal ganz kurz und verstummte wieder, ehe der Donner verhallt war. Ich dachte: Jemanden hat es jetzt erwischt! Und aus weiter Ferne vernahm ich Stimmen, die vor Schmerz, aus Angst oder vielleicht sogar im Triumph aufschrien. Ich weiß nicht, weshalb, aber irgendwie hatte ich die ganze Zeit mit einem Angriff von jenem Stück der Straße her gerechnet, das wir bereits passiert hatten. Einen Moment lang fand ich es unfair, daß die Vietminh dort vorne sein sollten, zwischen uns und Saigon. Es war, als wären wir unbewußt der Gefahr entgegengefahren, statt von ihr weg, genauso, wie ich jetzt auf meinem Weg zum Turm aufs neue ihr entgegenging. Ich ging, weil es weniger Lärm verursachte, als wenn ich gelaufen wäre, aber mein Körper drängte mich zu rennen.
Am Fuß der Leiter angekommen, rief ich zu Pyle hinauf: »Ich bin es – Fowler!« (Nicht einmal jetzt konnte ich es über mich bringen, ihm gegenüber meinen Vornamen zu gebrauchen.) Oben im Turm hatte sich die Szene verändert. Die Reisnäpfe standen wieder auf dem Fußboden; der eine Soldat hatte sein Gewehr an der Hüfte, er saß mit dem Rücken zur Wand und starrte Pyle an; und Pyle kniete in einiger Entfernung von der gegenüberliegenden Wand, den Blick auf die Maschinenpistole geheftet, die zwischen ihm und dem zweiten Soldaten auf dem Fußboden lag. Es sah so aus, als habe er begonnen, zu der Waffe hinzukriechen, sei aber unterwegs aufgehalten worden. Der Arm des zweiten Wachtpostens war nach der Maschinenpistole ausgestreckt: Keiner von den dreien hatte gekämpft oder auch nur mit Gewalt gedroht. Das Ganze ähnelte sehr jenem Kinderspiel, bei dem man ein Ziel erreichen soll, aber nicht in Bewegung gesehen werden darf, weil man sonst zum Ausgangspunkt zurückgeschickt wird.
»Was geht hier vor?« sagte ich.
Die beiden Wächter blickten auf mich, und Pyle sprang vor und zog die Maschinenpistole an sich.
»Ist das ein Spiel?« fragte ich, »Ich traue ihm nicht, wenn er die Waffe hat«, sagte Pyle, »und es kommen plötzlich die Vietminh.«
»Jemals mit einer Maschinenpistole geschossen?«
»Nein.«
»Das ist schön. Ich auch nicht. Ich bin froh, daß sie geladen ist – wir wüßten gar nicht, wie man sie nachlädt.«
Die beiden Wachen hatten den Verlust ihrer Waffe mit Fassung hingenommen. Der eine senkte sein Gewehr und legte es quer über seine Schenkel; der andere sank an der Wand in sich zusammen und schloß die Augen wie ein Kind, das sich für unsichtbar hält, wenn es selbst nichts sieht. Vielleicht war er froh, die Verantwortung los zu sein. Irgendwo in weiter Ferne begann von neuem das Maschinengewehr zu stottern – drei kurze Feuerstöße und dann Stille. Der zweite Wachtposten preßte die Augenlider noch fester zusammen.
»Sie wissen nicht, daß wir sie nicht bedienen können«, sagte Pyle.
»Angeblich stehen die beiden auf unserer Seite.«
»So. Und ich meinte, für Sie gebe es keine Seite.«
»Touché!« sagte ich. »Wenn das nur die Vietminh wüßten.«
»Was spielt sich dort draußen ab?«
Wiederum zitierte ich die morgige Ausgabe der Zeitung ›Extrème-Orient‹: »In der vergangenen Nacht wurde fünfzig Kilometer von Saigon ein Vorposten angegriffen und vorübergehend von Freischärlern der Vietminh besetzt.«
»Glauben Sie, daß wir in den Feldern sicherer wären?«
»Es wäre vor allem schrecklich naß.«
»Sie scheinen sich gar keine Sorgen zu machen«, sagte Pyle.
»Ich habe eine Heidenangst – aber die Dinge stehen besser, als sie sein könnten. In der Regel greifen sie in einer Nacht nicht mehr als drei Wachtposten an. Unsere Chancen haben sich also wesentlich gebessert.«
»Was ist das?«
Es war das Dröhnen eines schweren Kraftfahrzeugs, das unten auf der Straße in Richtung Saigon fuhr. Ich trat an die Schießscharte und blickte hinab; in diesem Augenblick fuhr unten ein Panzer vorbei.
»Die Patrouille«, sagte ich. Das Geschütz im Turm des Tanks schwenkte erst nach der einen, dann nach der anderen Seite. Ich wollte hinunterrufen, doch welchen Zweck hätte das gehabt? Sie hatten keinen Platz für zwei nutzlose Zivilisten. Der Lehmboden zitterte, als der Tank vorüberrumpelte, und dann war er verschwunden. Ich schaute auf die Uhr – acht Uhr einundfünfzig – und wartete; ich wollte die Zeit feststellen, die bis zum Aufflammen des Mündungsfeuers verstreichen würde. Es war wie die Berechnung der Distanz eines Blitzes mit Hilfe des Zeitabstands, in dem der Donnerschlag folgte. Beinahe vier Minuten vergingen, ehe das Geschütz das Feuer eröffnete. Einmal meinte ich, daß es durch eine Panzerabwehrwaffe erwidert werde, dann aber war alles still.
»Sowie sie zurückkommen, könnten wir ihnen ein Signal geben, damit sie uns bis zum Lager mitnehmen«, sagte Pyle.
Eine Explosion erschütterte den Turm. »Falls sie zurückkommen«, sagte ich, »das klang nämlich wie eine Mine.« Als ich wieder auf die Uhr sah, war es neun Uhr fünfzehn, und der Panzer war nicht zurückgekehrt. Es war auch nicht mehr geschossen worden.
Ich setzte mich neben Pyle und streckte die Beine aus. »Wir sollten lieber versuchen, ein wenig zu schlafen. Etwas anderes können wir nicht tun.«
»Die Posten machen mich nicht glücklich«, sagte Pyle.
»Die sind in Ordnung, solange die Vietminh nicht auftauchen. Klemmen Sie die Maschinenpistole zur Sicherheit unter Ihre Beine.« Ich schloß meine Augen und suchte mir einzubilden, ich sei ganz woanders – säße aufrecht in einem jener Abteile vierter Klasse, die es vor Hitlers Machtergreifung auf den deutschen Eisenbahnen gab, in jenen Zeiten, als man jung war und die ganze Nacht aufrecht sitzen konnte, ohne melancholisch zu werden, damals als Wachträume noch voll Hoffnung und nicht voll Angst waren. Dies war die Stunde, da Phuong immer meine Opiumpfeifen vorzubereiten begann. Ich fragte mich, ob mich ein Brief erwartete, und hoffte auf das Gegenteil, weil ich wußte, was ein solcher Brief enthalten würde; und solange keiner kam, konnte ich wachend vom Unmöglichen träumen.
»Schlafen Sie?« fragte mich Pyle.
»Nein.«
»Glauben Sie nicht, daß wir die Leiter einziehen sollten?«
»Ich beginne langsam zu begreifen, warum die beiden es nicht tun. Sie ist der einzige Fluchtweg.«
»Ich wollte, der Panzer käme zurück.«
»Jetzt kommt er nicht mehr.«
Ich bemühte mich, nur in größeren Abständen auf die Uhr zu sehen, doch diese Abstände waren nie so lange, wie sie mir erschienen: neun Uhr vierzig, zehn Uhr fünf, zehn Uhr zwölf, zehn Uhr zweiunddreißig, zehn Uhr einundvierzig.
»Sind Sie wach?« fragte ich Pyle.
»Ja.«
»Woran denken Sie?«
Er zögerte. »An Phuong«, sagte er.
»Ja?«
»Ich überlegte gerade, was sie jetzt wohl tut.«
»Das kann ich Ihnen sagen. Sie wird mittlerweile zu dem Schluß gekommen sein, daß ich die Nacht in Tanyin verbringe – es wäre nicht das erste Mal. Sie wird auf dem Bett liegen, neben sich ein brennendes Räucherstäbchen, um die Moskitos fernzuhalten, und wird sich die Bilder in einer alten Nummer von Paris-Match ansehen. Wie die Franzosen hat sie ein leidenschaftliches Interesse für die englische Königsfamilie.«
Voll Sehnsucht sagte er: »Es muß wunderbar sein, es so genau zu wissen«, und ich konnte mir in der Dunkelheit seine sanften Hundeaugen vorstellen. Seine Eltern hätten ihn Fido nennen sollen, nicht Alden.
»So genau weiß ich es natürlich nicht – aber vermutlich stimmt es. Es hat keinen Sinn, eifersüchtig zu sein, wenn man die Dinge nicht ändern kann. ›Keine Barrikade für einen Bauch‹.«
»Manchmal verabscheue ich Ihre Ausdrucksweise, Thomas. Wissen Sie, wie mir Phuong erscheint? Taufrisch – wie eine Blume.«
»Arme Blume!« meinte ich. »Rund um sie wächst eine Menge Unkraut.«
»Wo haben Sie sie kennengelernt?«
»Sie war Eintänzerin im ›Grand Monde‹.«
»Eintänzerin!« rief er aus, als ob dieser Gedanke für ihn geradezu schmerzlich sei.
»Keine Sorge. Das ist ein durchaus achtbarer Beruf«, sagte ich.
»Sie haben so schrecklich viel Erfahrung, Thomas.«
»Ich habe schrecklich viele Jahre auf dem Buckel. Wenn Sie mein Alter erreichen …«
»Ich war noch nie mit einer Frau zusammen«, sagte er, »nicht richtig. Nicht, was man ein wirkliches Erlebnis nennen würde.«
»Bei Ihnen in Amerika scheint man sehr viel Energie damit zu verschwenden, daß man den Frauen nachpfeift.«
»Ich habe das noch niemandem erzählt.«
»Sie sind noch jung. Sie brauchen sich deshalb nicht zu schämen.«
»Haben Sie eine Menge Frauen gehabt, Fowler?«
»Ich weiß nicht, was Sie sich unter einer Menge vorstellen. Nicht mehr als vier Frauen sind in meinem Leben für mich von irgendwelcher Bedeutung gewesen – oder ich für sie. Bei den etlichen vierzig anderen fragt man sich hinterher, warum man es tat. Weil man glaubt, man sei es seiner Gesundheit schuldig, oder aus dem Gefühl einer gesellschaftlichen Verpflichtung. Beide Annahmen sind irrig.«
»Sie glauben also, daß sie irrig sind?«
»Ich wollte, ich könnte jene Nächte wiederhaben. Ich bin noch immer verliebt, Pyle, und habe den Höhepunkt meines Lebens doch schon hinter mir. Oh, natürlich spielte auch der Stolz eine Rolle. Es dauert lange, bis man den Stolz aufgibt, den man daraus bezieht, daß man begehrt wird. Gott allein weiß, warum wir diesen Stolz haben, wenn wir uns umblicken und sehen, wer alles begehrt wird.«
»Sie glauben nicht, daß mit mir etwas nicht in Ordnung ist, nicht wahr, Thomas?«
»Nein, Pyle.«
»Das heißt nicht, daß ich es nicht brauche, Thomas, wie jeder andere auch. Ich bin nicht – abwegig.«
»Keiner von uns braucht es so, wie wir behaupten. Es spielt da ein gutes Stück Selbsthypnose mit. Heute weiß ich, daß ich niemanden brauche – außer Phuong. Doch das lernt man erst mit der Zeit. Wenn Phuong nicht da wäre, könnte ich ein ganzes Jahr lang ohne eine ruhelose Nacht leben.«
»Sie ist aber da«, erwiderte er mit einer Stimme, die ich kaum vernehmen konnte.
»Am Anfang ist man völlig wahllos und am Ende gleicht man dem eigenen Großvater, treu ergeben einer einzigen Frau.«
»Da wirkt es wohl ziemlich naiv, wenn man so anfängt …«
»Durchaus nicht.«
»Das steht aber nicht im Kinsey-Report.«
»Gerade deshalb ist es nicht naiv.«
»Wissen Sie, Thomas, daß es mir guttut, hier zu sitzen und mit Ihnen zu plaudern. Irgendwie kommt es mir jetzt gar nicht mehr gefährlich vor.«
»Dasselbe Gefühl hatten wir in London während der deutschen Luftangriffe, wenn eine plötzliche Kampfpause eintrat. Aber sie kamen immer wieder.«
»Wenn jemand Sie fragte, was Ihr stärkstes sexuelles Erlebnis war, was würden Sie sagen?«
Die Antwort darauf wußte ich sofort. »Als ich eines frühen Morgens im Bett lag und einer Frau in einem roten Morgenmantel zusah, wie sie sich das Haar bürstete.«
»Joe meint, sein stärkstes Erlebnis war, mit einer Chinesin und mit einer Negerin zugleich im Bett zu sein.«
»Mit zwanzig Jahren hätte ich mir auch so etwas ausgedacht.«
»Joe ist fünfzig.«
»Ich frage mich, in welche geistige Altersstufe man ihn beim Militär eingereiht hat.«
»War Phuong die Frau im roten Morgenmantel?«
Ich wünschte, er hätte diese Frage nicht gestellt.
»Nein«, sagte ich, »die Frau kam vorher. Damals, als ich meine Frau verließ.«
»Und was geschah dann?«
»Ich verließ auch diese Frau.«
»Warum?«
Ja, warum? »Wir sind Narren«, sagte ich, »wenn wir lieben. Ich hatte panische Angst, sie zu verlieren. Ich meinte zu sehen, daß sie sich allmählich veränderte – ob es tatsächlich der Fall war, weiß ich nicht; aber ich konnte die Ungewißheit schließlich nicht mehr ertragen. So stürmte ich vorwärts, dem Ende entgegen – wie ein Feigling auf den Feind zurennt und eine Auszeichnung erringt. Ich wollte den Tod hinter mir haben.«
»Den Tod?«
»In gewissem Sinn war es ein Tod. Dann kam ich in den Osten.«
»Und fanden Phuong?«
»Ja.«
»Und haben Sie bei Phuong nicht dasselbe Gefühl?«
»Nein, nicht dasselbe. Sehen Sie, jene andere liebte mich. Ich fürchtete, die Liebe zu verlieren. Jetzt fürchte ich nur, Phuong zu verlieren.« Warum habe ich das gesagt, fragte ich mich. Er bedurfte wahrhaftig keiner Ermutigung von meiner Seite.
»Aber sie liebt Sie doch, nicht wahr?«
»Nicht auf dieselbe Weise. Das liegt nicht im Wesen dieser Frauen. Das werden Sie noch entdecken. Es ist eine abgedroschene Phrase, sie als Kinder zu bezeichnen – jedoch sie haben eine Eigenschaft, die durchaus kindlich ist: Sie lieben einen als Gegenleistung für Güte, für Sicherheit, für die Geschenke, die man ihnen gibt, und sie hassen einen für einen Schlag oder für eine Ungerechtigkeit. Sie alle wissen nicht, wie das ist – ein Zimmer zu betreten und plötzlich in einen wildfremden Menschen verliebt zu sein. Für einen alternden Mann, Pyle, bedeutet das große Sicherheit – eine Frau wie Phuong wird nicht aus ihrem Heim davonlaufen, solange dieses Heim glücklich ist.«
Ich hatte nicht die Absicht gehabt, ihn zu verletzen. Daß ich es getan hatte, wurde mir erst klar, als er mit unterdrücktem Zorn erwiderte: »Sie könnte aber größere Sicherheit und größere Güte vorziehen.«
»Mag sein.«
»Und davor fürchten Sie sich nicht?«
»Nicht so sehr wie bei der anderen.«
»Lieben Sie sie überhaupt?«
»O ja, Pyle, o ja. Aber auf die andere Art habe ich nur ein einziges Mal geliebt.«
»Trotz der über vierzig Frauen«, fuhr er mich an.
»Ich bin überzeugt, daß diese Zahl unter dem Durchschnitt von Dr. Kinsey liegt. Wissen Sie, Pyle, die Frauen wollen keine Männer ohne sexuelle Erfahrung, und ich bin gar nicht so sicher, ob wir Männer Jungfrauen haben wollen, außer wenn wir pathologisch veranlagt sind.«
»Ich wollte nicht sagen, daß ich keine Erfahrung habe«, erwiderte er. Alle meine Gespräche mit Pyle schienen eine geradezu groteske Entwicklung zu nehmen. Lag es etwa an seiner Aufrichtigkeit, daß sie stets die üblichen Bahnen verließen, gewissermaßen entgleisten? Unsere Unterhaltung schien nie um die Kurven zu kommen.
»Sie können hundert Frauen haben und dennoch unerfahren bleiben, Pyle. Die meisten Ihrer G.I.s, die im Krieg wegen Vergewaltigung gehenkt wurden, waren völlig unerfahren. In Europa haben wir nicht so viele von dieser Sorte. Ich bin froh darüber, denn sie richten viel Unheil an.«
»Ich verstehe Sie einfach nicht, Thomas.«
»Es lohnt sich nicht, das zu erklären. Außerdem ödet mich das Thema an. Ich habe die Jahre erreicht, wo das Sexualleben weit weniger das Problem ist als das Alter und der Tod. Wenn ich morgens aufwache, beschäftigen diese Dinge meine Gedanken, und nicht der Körper einer Frau. In den letzten zehn Jahren meines Lebens möchte ich einfach nicht allein sein, das ist alles. Ich wüßte nicht, woran ich den ganzen Tag denken sollte. Da möchte ich schon lieber eine Frau bei mir im Zimmer wissen – selbst eine, die ich nicht liebe. Wenn aber Phuong mich verließe, würde ich die Kraft haben, mir noch einmal eine andere zu finden …?«
»Wenn sie Ihnen nicht mehr bedeutet …«
»Nicht mehr? Pyle, warten Sie erst mal, bis Sie sich davor fürchten, zehn Jahre allein, ohne eine Gefährtin zu verbringen und am Ende ein Altersheim vor sich zu haben. Dann werden Sie anfangen, in jede Richtung zu rennen, selbst fort von der Frau in dem roten Morgenmantel, nur um jemanden zu finden, irgend jemanden, der bleibt, bis alles vorüber ist.«
»Weshalb gehen Sie dann nicht zu Ihrer Frau zurück?«
»Es ist nicht leicht, mit einem Menschen zusammenzuleben, dem man Leid zugefügt hat.«
Wir vernahmen einen langen Feuerstoß aus einer Maschinenpistole – sie konnte nicht mehr als eine Meile entfernt sein. Vielleicht schoß ein aufgeregter Posten auf Schatten: Vielleicht hatte ein neuer Angriff begonnen. Ich hoffte, es war ein Angriff – damit stiegen unsere Chancen.
»Haben Sie Angst, Thomas?«
»Natürlich, rein instinktiv. Aber meine Vernunft sagt mir, daß es besser ist, auf diese Art zu sterben. Deshalb kam ich in den Fernen Osten. Hier bleibt einem der Tod nahe.« Ich blickte auf die Uhr. Es war elf vorbei. Noch acht Stunden, und dann konnten wir uns entspannen. Ich sagte: »Es scheint mir, daß wir so ziemlich über alles gesprochen haben außer über Gott. Ich glaube, ihn sollten wir für die frühen Morgenstunden aufsparen.«
»Sie glauben nicht an Gott, nicht wahr?«
»Nein.«
»Ohne ihn würde für mich das Ganze keinen Sinn ergeben.«
»Für mich ergibt es mit ihm keinen Sinn.«
»Ich las einmal ein Buch …«
Ich habe nie erfahren, welches Buch er gelesen hatte. (Vermutlich war es weder von York Harding, noch von Shakespeare, noch die Anthologie zeitgenössischer Lyrik oder die »Physiologie der Ehe« – vielleicht war es »Der Triumph des Lebens«.) Eine Stimme drang zu uns direkt in den Turm herein, sie schien aus dem Schatten in der Nähe der Falltür zu kommen – eine hohl dröhnende Stimme aus einem Megaphon, die etwas in vietnamesischer Sprache verkündete. »Jetzt haben wir den Salat«, sagte ich. Die beiden Wachen lauschten mit offenem Mund, den Blick zur Schießscharte gewandt.
»Was ist das?« fragte Pyle.
Die wenigen Schritte zur Öffnung in der Wand waren wie ein Gang mitten durch die Stimme hindurch. Ich blickte rasch hinaus: Nichts war zu sehen – ich konnte nicht einmal die Straße erkennen. Und als ich in den Raum zurückblickte, war das Gewehr im Anschlag; ich war nicht sicher, ob es auf mich gerichtet war oder auf die Schießscharte. Doch als ich mich an der Wand entlang weiterschob, schwankte der Gewehrlauf, zögerte, nahm mich aufs Korn: Die Stimme dröhnte weiter und wiederholte immer wieder dasselbe. Ich setzte mich hin und der Gewehrlauf senkte sich.
»Was sagt er denn?« fragte Pyle.
»Ich weiß es nicht. Vermutlich haben sie den Wagen entdeckt und fordern jetzt die Burschen auf, sie sollen uns herausgeben. Nehmen Sie lieber diese Maschinenpistole, bevor die beiden zu einem Entschluß gekommen sind.«
»Er wird schießen.«
»Er ist sich noch nicht sicher. Sobald er es ist, schießt er ohnehin.«
Pyle schob ein Bein zur Seite und holte darunter die Maschinenpistole hervor.
»Ich bewege mich jetzt an der Wand entlang«, sagte ich. »Wenn er Sie einen Moment aus den Augen läßt, legen Sie auf ihn an.«
Gerade als ich mich erhob, verstummte die Stimme: Die Stille ließ mich zusammenfahren. Pyle sagte scharf:
»Schmeiß das Gewehr hin!« Ich hatte gerade noch Zeit, mich zu fragen, ob die Maschinenpistole überhaupt geladen war – ich hatte mir nicht die Mühe genommen, nachzusehen –, als der Soldat sein Gewehr auf den Boden warf.
Ich durchquerte den Raum und hob es auf. Dann begann die Stimme von neuem – ich hatte den Eindruck, daß sich nicht eine Silbe verändert hatte. Vielleicht verwendeten sie eine Schallplatte. Ich überlegte, wann das Ultimatum ablaufen würde.
»Was kommt als nächstes?« fragte Pyle wie ein Schuljunge, der in einem Labor bei einem Experiment zusieht: Er schien persönlich von den Ereignissen gar nicht berührt zu sein.
»Vielleicht eine Bazooke, vielleicht ein Vietminh.«
Prüfend betrachtete Pyle die Maschinenpistole. »Daran scheint nichts Geheimnisvolles zu sein«, meinte er. »Soll ich ein paar Schüsse abgeben?«
»Nein, lassen Sie sie lieber im Ungewissen. Sie zögern noch, weil sie den Posten lieber ohne Schießerei besetzen möchten, und das gibt uns Zeit. Wir sollten so schnell wie möglich verschwinden.«
»Möglicherweise warten sie unten auf uns.«
»Das kann sein.«
Die beiden Männer beobachteten uns – ich sage »Männer«, obwohl ich bezweifeln möchte, daß sie es zusammen auf vierzig Jahre brachten. »Und die beiden da?« fragte Pyle. Und er setzte mit erschreckender Direktheit hinzu: »Soll ich sie niederknallen?« Vielleicht wollte er seine Maschinenpistole ausprobieren.
»Sie haben uns nichts getan.«
»Aushändigen wollten sie uns.«
»Warum auch nicht?« sagte ich. »Wir haben hier nichts zu suchen. Es ist ihr Land.«
Ich entlud das Gewehr und legte es auf den B6den. Pyle sagte: »Sie werden es doch nicht dalassen?«
»Ich bin zu alt, mit einem Gewehr zu rennen. Und es ist nicht mein Krieg. Kommen Sie.«
Es war nicht mein Krieg, aber es wäre mir lieb gewesen, wenn die anderen draußen in der Dunkelheit es ebenfalls gewußt hätten. Ich blies die Öllampe aus, setzte mich in die Falltür und ließ die Beine in der Öffnung baumeln, bis ich die Leiter fand. Ich konnte hören, wie die beiden Wachen miteinander wisperten, in ihrer Sprache klang es wie ein sentimentales Lied. »Laufen Sie schnurstracks auf das Reisfeld zu!« befahl ich Pyle.
»Vergessen Sie nicht: Es steht unter Wasser – ich weiß nicht, wie tief es ist. Fertig?«
»Ja.«
»Danke für Ihre Gesellschaft.«
»Stets ein Vergnügen«, sagte er.
Ich hörte die Wachen sich hinter uns rühren, und ich fragte mich, ob sie Messer hatten. Die Megaphonstimme sprach jetzt in gebieterischem Ton, als gäbe sie eine letzte Chance. Etwas regte sich leise in der Dunkelheit unter uns, doch es mochte nur eine Ratte sein. Ich zögerte. »Mein Gott, jetzt könnte ich einen Drink vertragen«, flüsterte ich.
»Los, gehen wir!«
Etwas kam jetzt die Leiter herauf: Ich hörte nichts, aber die Leiter bebte unter meinen Füßen.
»Warum gehen Sie nicht weiter?« sagte Pyle.
Ich weiß nicht, warum ich jenes lautlos und verstohlen heranschleichende Wesen als ein Etwas bezeichnete. Nur ein Mensch kann eine Leiter ersteigen, und doch konnte ich es mir nicht als Menschen vorstellen – es war, als näherte sich ein Untier seiner Beute, geräuschlos, zielsicher und mit der unerbittlichen Grausamkeit eines Geschöpfs aus einer anderen Welt.
Die Leiter zitterte und bebte, und ich bildete mir ein, ich sähe Augen zu uns heraufleuchten. Plötzlich konnte ich es nicht länger ertragen und sprang in die Tiefe. Unten war nichts weiter als schwammiger Boden, der gleich einer Hand meinen linken Knöchel packte und ihn verdrehte. Ich konnte Pyle die Leiter herunterkommen hören; mir wurde klar, daß ich ein verängstigter Narr gewesen war, der sein eigenes Zittern nicht erkannt hatte. Und ich hatte geglaubt, ich sei hartgesotten und phantasielos, kurz, all das, was ein wahrheitsliebender Beobachter und Reporter sein sollte. Ich raffte mich auf und brach vor Schmerz beinahe wieder zusammen. Den einen Fuß nachschleppend, bewegte ich mich auf das Feld zu; hinter mir hörte ich Pyle nachkommen. Dann schlug eine Panzerabwehrgranate im Turm ein, und ich lag wieder da, das Gesicht nach unten.