Erstes Kapitel

 

1

 

Nach Pyles Tod vergingen fast vierzehn Tage, ehe ich Vigot wiedersah. Ich ging gerade durch den Boulevard Charner, als er mir aus dem Restaurant »Le Club« nachrief. Das Lokal erfreute sich damals größter Beliebtheit bei den Beamten der Sureté, die in einer Art herausfordernder Geste gegen jene, von denen sie gehaßt wurden, im Erdgeschoß zu tafeln pflegten, während das allgemeine Publikum im ersten Stock speiste, außerhalb der Reichweite eines Partisanen mit Handgranate. Ich setzte mich zu ihm, und er bestellte für mich einen Vermouth-Cassis. »Möchten Sie darum spielen?«

»Wenn Sie wollen.« Ich holte meine Würfel für das Ritual des Quatre Cent Vingt-et-un aus der Tasche. Wie diese Zahlen und der Anblick von Würfeln mir die Kriegsjahre in Indochina zurück ins Gedächtnis rufen! Wo auch immer ich in dieser Welt zwei Männer beim Würfeln sehe, fühle ich mich sofort in die Straßen von Hanoi oder Saigon oder mitten unter die zerschossenen Häuser von Phat Diem zurückversetzt. Ich sehe die Fallschirmjäger, durch die Musterung ihrer Uniformen wie Raupen getarnt, an den Kanälen entlang patrouillieren; ich höre das Granatwerferfeuer näherrücken, und vielleicht sehe ich ein totes Kind vor mir.

»Sans vaseline«, sagte Vigot und warf vier – zwei – eins. Er schob mir das letzte Streichholz hin. Den sexuellen Jargon des Spiels hatten alle Mitglieder der Sureté gemeinsam; vielleicht war er von Vigot selbst erfunden und von seinen Untergebenen übernommen worden, freilich ohne auch seine Schwärmerei für Pascal mit zu übernehmen.

»Sous-lieutenant.« Mit jeder Partie, die man verlor, stieg man einen Rang höher – man spielte so lange, bis der eine oder andere schließlich Hauptmann oder Major war. Vigot gewann auch die zweite Partie, und während er die Streichhölzer auszählte, sagte er: »Wir haben Pyles Hund gefunden.«

»Ja?«

»Ich vermute, daß er sich geweigert hatte, die Leiche seines Herrn zu verlassen. Jedenfalls schnitten sie ihm die Kehle durch. Er lag im Schlamm, fünfzig Meter von Pyle entfernt. Vielleicht hatte er sich so weit geschleppt.«

»Sie interessieren sich noch immer für die Sache?«

»Der amerikanische Gesandte gibt uns keine Ruhe. Gott sei Dank haben wir nicht solche Scherereien, wenn ein Franzose umgelegt wird. Allerdings besitzen diese Fälle auch keinen Seltenheitswert.«

Wir spielten um die Aufteilung der Streichhölzer, und dann fing das eigentliche Spiel an. Es war unheimlich, wie rasch Vigot einen Wurf vier – zwei – eins zustande brachte. Er verringerte die Zahl seiner Streichhölzer auf drei, und ich warf die niedrigste Anzahl, die überhaupt möglich war. »Nanette«, sagte Vigot und schob mir zwei Streichhölzer herüber. Als er sein letztes Streichholz los wurde, sagte er: »Capitaine.« Und ich rief nach dem Kellner und bestellte unsere Drinks. »Werden Sie eigentlich jemals geschlagen?« fragte ich.

»Nicht oft. Wollen Sie Revanche?«

»Ein anderes Mal. Was für ein Spieler könnten Sie sein, Vigot. Betreiben Sie noch andere Glücksspiele?«

Er lächelte schmerzlich, und aus irgendeinem Grund mußte ich an seine blonde Frau denken, von der es hieß, sie betrüge ihn mit den jüngeren Offizieren seiner Dienststelle.

»Ach ja«, sagte er, »da gibt es noch das größte aller Glücksspiele.«

»Das größte?«

»›Wägen wir Gewinn und Verlust ab‹«, zitierte er, ›»in unserer Wette, daß Gott existiert. Schätzen wir diese beiden Chancen. Wenn du gewinnst, gewinnst du alles; wenn du verlierst, verlierst du nichts.‹«

Ich erwiderte mit einem anderen Zitat von Pascal – dem einzigen, das ich wußte: »›Sowohl jener, der den Kopf wählt, als auch jener, der den Adler wählt, begeht einen Fehler. Beide sind im Unrecht. Der richtige Weg besteht darin, daß man überhaupt nicht wettet.‹«

»›Ja, aber du mußt wetten. Es bleibt dir keine andere Wahl. Du hast dich in das Spiel eingelassen.‹ Sie werden Ihren eigenen Grundsätzen untreu, Mr. Fowler. Auch Sie sind engagé – wie wir alle.«

»Nicht in der Religion.«

»Ich habe nicht von Religion gesprochen. Eigentlich«, sagte er, »dachte ich an Pyles Hund.«

»Oh!«

»Erinnern Sie sich noch, was Sie neulich zu mir sagten – über die Möglichkeit, von den Pfoten Anhaltspunkte zu gewinnen, durch eine chemische Untersuchung des Schmutzes und so weiter?«

»Und Sie antworteten darauf, Sie seien kein Maigret oder Lecoq.«

»Trotzdem habe ich dabei gar nicht so schlecht abgeschnitten«, sagte er. »Wenn Pyle ausging, nahm er den Hund gewöhnlich mit, nicht wahr?«

»Vermutlich, ja.«

»Das Tier war zu wertvoll, als daß er es allein hätte herumlaufen lassen, nicht wahr?«

»Es wäre riskant gewesen. Hierzulande essen die Leute Chows, nicht?« Während ich dies sagte, steckte er die Würfel in die Tasche. »Meine Würfel, Vigot.«

»Oh, verzeihen Sie! Ich war ganz in Gedanken …«

»Warum sagten Sie vorhin, ich sei engagé?«

»Fowler, wann sahen Sie Pyles Hund zum letztenmal?«

»Das weiß Gott! Ich führe kein Tagebuch über meine Begegnungen mit Hunden.«

»Und wann sollen Sie nach Hause fahren?«

»Das weiß ich nicht genau.« Ich gebe der Polizei nie gern Auskünfte. Man erspart ihr nur Mühe.

»Ich möchte Sie – abends – kurz besuchen. Paßt es Ihnen um zehn? Falls Sie zu der Zeit allein sind.«

»Ich werde Phuong ins Kino schicken.«

»Ist wieder alles in Ordnung – ich meine, zwischen Ihnen und ihr?«

»Ja.«

»Merkwürdig. Ich hatte den Eindruck, daß Sie – nun, daß Sie unglücklich sind.«

»Dafür gibt es gewiß eine Menge möglicher Erklärungen, Vigot«, sagte ich und fügte nicht gerade taktvoll hinzu: »Sie sollten das eigentlich wissen.«

»Ich?«

»Sie selbst sind nicht gerade sehr glücklich.«

»Ach, ich kann mich nicht beklagen. ›Eine Ruine ist nicht unglücklich.‹«

»Was sagen Sie da?«

»Auch von Pascal. Es ist ein Argument für eine stolze Haltung im Unglück. ›Ein Baum ist nicht unglücklich‹, sagt er.«

»Was hat Sie eigentlich dazu veranlaßt, Vigot, Polizeibeamter zu werden?«

»Nun, eine ganze Reihe von Gründen: die Notwendigkeit, mir einen Lebensunterhalt zu verdienen; eine gewisse Neugierde und – ja, auch das: eine Vorliebe für Gaboriau.«

»Vielleicht hätten Sie Priester werden sollen.«

»Dazu las ich nicht die richtigen Schriftsteller – zu jener Zeit.«

»Sie hegen noch immer den Verdacht, daß ich in die Sache verwickelt bin, nicht wahr?«

Er erhob sich und leerte den Rest seines Vermouth-Cassis.

»Ich möchte mit Ihnen sprechen, das ist alles.«

Nachdem er sich verabschiedet hatte und gegangen war, schien mir, daß er mich mitleidig angesehen hatte; so wie er wahrscheinlich einen Verbrecher betrachtete, den er zur Strecke gebracht hatte und der nun seine lebenslängliche Kerkerstrafe antrat.