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KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG 

 

Diricks Kopf fühlte sich dreimal so groß wie sonst an, seine Ohren hundertfach so empfindlich wie gewöhnlich und sein Magen wie der Ozean bei Sturm. 

Das Bellen der Hunde genügte schon, um ihn in den Wahnsinn zu treiben, aber er biss die Zähne zusammen und brachte noch ein Lächeln für den Scherz von Heinrich zustande. 

„Woran fehlt es Euch denn, Dirick?“, fragte der König, dem offensichtlich sein schmerzhaftes Grinsen aufgefallen war. 

„Nichts, außer genug Ale, um ein Dorf zu ertränken“, gab er zu. 

Heinrich schmunzelte. „Es wäre zu schade, wenn Ihr heute Abend nicht in bester Form wärt, um mit Eurer Braut das Brautbett zu beschreiten.“ Er lachte laut auf. „Ihr braucht nur ein Wort zu sagen, wenn Ihr Euren Pflichten nicht nachkommen könnt und Hilfe nötig habt.“ 

Dirick funkelte den König wütend an, da er nur wenig zu lachen fand an dem Scherz seines Lehensherren. „Nein, Eure Majestät, ich versichere Euch – ich habe lange genug auf diese Nacht gewartet und ich werde kein Problem haben das zu tun, was die Situation von mir erfordert.“ 

Der König lachte erneut und wandte seine Aufmerksamkeit dann der wild jaulenden Meute zu. „Sie haben Witterung aufgenommen! Von einer Wildsau!“, rief er aufgeregt. Er gab seinem Reittier die Sporen, beugte sich nach vorne und der Hengst setzte mit einem Sprung den rasenden Hunden hinterher. 

Eine Jagdpartie von etwa zwanzig Mann brach sich mit ihren Pferden einen Weg durch den Wald, holte immer weiter auf mit der Meute. Die frische Luft, die ihm ins Gesicht schlug, löste das Schlimmste von Diricks Übelkeit auf und auch er fing an sich ganz der Jagd hinzugeben. Mit einem entzückten Schrei packte er den Speer fester und trieb Nick noch schneller an, so dass sie etwas von dem Abstand zum König wieder wettmachten. 

Endlich verriet das Geheul der Hunde, dass sie den Eber in die Enge getrieben hatten. Die Jäger eilten auf die Lichtung und brachten ihre Pferde auf einer Seite zum Stehen, wo sie sich bereit machten, abwechselnd das schnaubende Tier vor sich anzugreifen. 

Die roten Augen des Ebers glühten in dem Gesicht mit der langen Schnauze und die wütenden Keiler waren groß und lang genug, um einen unvorsichtigen Hund darauf herumzuwerfen. Hoch aufgerichtetes, borstiges Haar war überall an seinem Leib und heißer Atem keuchte aus weit geöffneten Nüstern, als er verzweifelt nach einem Fluchtweg suchte. Hunde, Pferde oder Männer schnitten ihm alle Wege in die Freiheit ab und der Eber wurde immer wilder, als er sich darauf vorbereitete, die Blockade zu durchbrechen. 

„Jetzt!“, rief Heinrich, wobei er den drei Bräutigamen zunickte, denen heute die Ehre zufiel, den ersten Speer zu werfen. 

Lord Bartholomew legte seinen Speer an und vergrub die Hacken in den Flanken seines Pferdes. Es machte einen Sprung nach vorne, rannte krachend über die Lichtung und galoppierte mit fliegenden Hufen an dem Eber vorbei. Ein Umhang flatterte und dann – ein wohl gezielter Speer. Ein Fontäne von Blut sprang dem Ungetüm aus der Schulter und ein Jubelgeschrei kam von den übrigen Jägern. 

Lord Richard folgte kurz darauf, verpasste das Tier mit seinem Speer zwar, konnte aber die aufheulende Bestie von dem Speer ablenken, den Dirick in der Hand hielt. Sein Wurf saß und der Eber erlitt eine weitere, vielversprechende Wunde an seinem Bauch. 

Als Dirick Nick etwas abseits zum Halten brachte, beobachtete er, wie der Eber den Boden mit seinen Beinen zerwühlte, wo er sich zu einem hinterhältigen Angriff durch den Kreis aus Männern um ihn herum anschickte. Da hatte Dirick etwas Zeit, um über seine etwas wirre Erinnerung an Bons Warnung aus der Nacht zuvor nachzugrübeln. 

Fragt Euch, warum Merle von Langumont nicht aus Breakston zurückgekehrt ist? Wenn er am Leben war, als Bon ihn zuletzt gesehen hatte, und er nicht beim Angriff auf die Burg erschlagen worden war, dann musste er den Tod aus der Hand eines anderen empfangen haben. 

Michael and Victor d’Arcy?

Der Gedanke war ihm plötzlich in den Sinn gekommen, rasch gefolgt von der Frage nach dem Warum. 

Ein Rufen von einem der Jäger riss Dirick aus seinen Gedanken und er sah, dass der Eber sich wieder auf die Beine kämpfte. 

Ihr Vater. 

Konnte Michael der Vater von Maris sein? Das würde Allegras seltsame Reaktion erklären, als sie die beiden auf Langumont begrüßt hatte. Ihm stellten sich die Haare im Nacken auf. Die Dinge begannen einen Sinn zu ergeben. 

Dirick wandte sich Lord Bartholomew zu, der gerade begeistert zusah, wie dem Eber der letzte Speerstoß versetzt wurde. „Bart, was wisst Ihr über Lord Michael d’Arcy? Kann man ihm vertrauen?“ 

Der andere Mann drehte sich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zu ihm um, als der Eber krachend auf die Seite fiel. „Redet Ihr vom Lord von Gladwythe? Fürwahr, der Mann hat etwas Seltsames an sich. Vielleicht ist es wegen dem Tod seiner Eltern ... sie so zu finden, würde jedem von uns den Verstand verdreht haben.“ 

„Was ist mit dem Tod seiner Eltern?“ 

Traurig schüttelte Bartholomew den Kopf, als er sich von dem blutigen Schauspiel des Todes vor ihm abwandte, und schenkte Dirick jetzt, da die Jagd vorüber war, seine volle Aufmerksamkeit. „Er war wenig mehr als ein kleiner Junge, als sein Papa und seine Mama von dem Turm auf Gladwythe in den Tod sprangen.“ 

„Er hat sie gefunden?“ 

„So ist es. Und sie waren gemeinsam gesprungen. Es sah aus, als würden sie sich an den Händen halten, und so schlugen sie auch unten im Burghof von Gladwythe auf.“ 

Dirick starrte ihn einen Augenblick lang an, während ihm ein kalter Schauer den Rücken runterkroch. 

„Ludingdon, ist Euch ganz wohl?“, fragte Bartholomew und es klang wie von ganz weit her. 

„Ich muss gehen.“ Dirick riss Nick an den Zügeln herum, das Herz hämmerte ihm in der Brust. Er gab seinem Pferd die Sporen und beugte sich nach vorne, über den Hals des Hengstes, um das Tier zur Eile anzutreiben. „Sagt dem König, ich habe ihn gefunden!“, rief er noch über seine Schulter zurück, als Pferd und Reiter durchs Unterholz donnerten. 

Er spürte, wie der Sattel verrutschte, als Nick über einen Baumstamm sprang, und bevor er noch nachdenken konnte, gab der Sattel nach und plötzlich fiel er. Und fiel und fiel. 

Sein letzter Gedanke, bevor er auf dem Boden aufschlug war, dass man an seinem Sattel herumgepfuscht hatte. 

 

~*~

Maris öffnete die schwere Schatulle aus Gold und keuchte auf, als sie auf ihr Bett zurücksank. 

„Es ist wundervoll!“, rief sie auf, als sie eine Kette, fast so geschmeidig wie ein Seil, von kleinen, wunderbar gearbeiteten Kettengliedern aus der kleinen Truhe hervorzog. Topase und Smaragde hingen wahllos an der Kette, die mindestens dreimal um ihren Hals reichen würde. Jeder Edelstein war eingefasst in eine kunstvolle, filigran gearbeitete Schließe, jede davon anders und schon in sich ein Kunstwerk. 

„Es ist eine ganz wundervolle Brautgabe“, sagte Madelyne mit einem Augenzwinkern. „Lord Dirick ist ein großzügiger Bräutigam.“ 

„Das ist er.“ Maris schaute auf die kleine Schatulle herab, die auf ihrem Schoß lag. Die Schatulle an sich war schon ein herrliches Geschenk und zusammen mit der von Juwelen besetzten Kette verriet sie, welchen Wert Dirick seiner Braut beimaß. Sie konnte nicht umhin vor Freude zu strahlen. Vielleicht lag ihm doch ebenso viel an ihr, wie er ihre Ländereien begehrte. 

Sie ließ das goldene Seil wieder in die Schatulle gleiten. Als sie ihr von einem ihrer eigenen Männer aus Langumont überbracht wurde, war die Schatulle mit einer goldenen Schleife zugebunden gewesen, mit Zweigen von Rosmarin, Zitronenmelisse und Veilchen darin. Der Magen flatterte ihr leicht und sie lächelte wieder. 

Heute Nacht würde sie mit Dirick das Lager teilen, würde seine Lippen und Hände auf ihrem Körper spüren, würde sich mit ihm vereinigen und seine Haut an der ihren spüren, würde die Seine werden. Die Vorfreude jagte ihr einen Schauer über den Rücken. 

Heute würde sie den Mann, den sie liebte, heiraten. 

Die Furcht und das Zögern waren verschwunden und an ihrer Stelle fanden sich Zutrauen, Liebe und Glück – dafür dass sie Dirick gehören würde, ihm angehören und mit ihm leben würde, ihm Kinder schenken und ihre gemeinsamen Ländereien an seiner Seite mit ihm verwalten würde. Maris holte einmal tief Luft, weil sie die Tatsache kaum fassen konnte, dass sie sich auf das Ereignis einer Hochzeit freute – ja sogar unbändig freute. Und das, nachdem sie so lange dagegen angekämpft hatte. 

Ein dringliches Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Träumereien und Maris und die anderen Damen schauten gespannt, als eine Zofe ging, um die Tür zu öffnen. 

„Lady Maris“, Michael d’Arcy sprang fast ins Zimmer, als die Tür sich öffnete. „Es hat sich ein Unfall ereignet! Es ist der Euch bald angetraute Ehemann!“ 

Maris sprang von ihrem Stuhl auf. „Was ist mit ihm? Sind seine Verletzungen schlimm?“ Das Herz stand ihr fast im Hals und sie war sich nur verschwommen bewusst, dass Madelyne ihr gerade einen Umhang umlegte. 

Michael schüttelte ernst seinen Kopf. „Maris, ich weiß es nicht. Sie rufen gerade die Ärzte herbei, an seine Seite, denn er fiel während der Jagd von seinem Pferd. Sie haben Angst ihn vom Fleck zu bewegen. Ihr müsst mit mir kommen.“ 

„Natürlich.“ Sie ging rasch auf die Tür zu, wobei sie versuchte die Anspannung und die Angst, die ihr durch den gesamten Körper rasten, zu beruhigen. „Ich muss die Arzneien aus meinem Gemach holen“, sagte sie zu Michael, als sie sich anschickten, den Gang hinunter zu gehen. 

„Nein, dafür ist keine Zeit. Er hat nach Euch rufen lassen, dass Ihr an seine Seite kommt, und es ist das Beste, wenn Ihr jetzt gleich mit mir kommt ... Maris, die Wunde ist ernst und er wünscht mit Euch zu sprechen.“ 

Die Angst in ihren Eingeweiden wurde da noch größer und sie entdeckte, dass sie kaum in der Lage war zu atmen. Die Liebe zu verlieren, so bald schon nachdem sie diese gefunden hatte, wäre mehr, als sie ertragen könnte ... ganz besonders, weil das alles so bald auf den Tod ihres Vaters folgte. 

In den Falten ihres Rocks ballte Maris die Hand zur Faust, während Michaels recht fester Griff sie am Arm vorwärtstrieb. Sie würde über diese Möglichkeit nicht nachdenken. Das würde sie nicht. 

Bei den Stallungen war sie etwas verwundert Hickory schon mit Zaumzeug und Sattel versehen vorzufinden, sowie Victor, der die Zügel hielt. „Kommt, Mylady, bevor es zu spät ist“, drängte er sie und half ihr in den Sattel. 

Michael stieg auf sein eigenes Pferd und trieb Maris und Victor vor ihm aus dem Burghof hinaus. Sie trabten rasch durch das Eingangstor, über die Zugbrücke und weg vom Schloss. 

 

~*~

Bon de Savrille tauchte aus einer Ecke des Burghofes auf, gerade als Maris und ihre Eskorte vorbeiritten. Sein Gesicht war ganz zerfressen vor Sorge, als er in den Stall eilte und unter den wachsamen Augen des Stallmeisters ein Pferd aussuchte. 

„Sputet Euch, Mann“, trieb er diesen an, während er in die Richtung schaute, in die sie entschwunden war. 

Endlich reichte man ihm die Zügel und er sprang mit einem Satz in den Sattel. Mit einem lauten „Ha!“ riss er den Hengst herum und donnerte durch den Burghof und über die Zugbrücke und folgte von dort dann der Spur der beiden Männer und der Frau, die er liebte. 

 

~*~

Dirick zwang sich die Augen zu öffnen, aus der Dunkelheit herauszukommen, die ihn mit so lockenden Rufen zu sich rief. Da war etwas ... etwas Dringendes... 

Stimmen drangen an sein Ohr ... wie von ganz weit weg. Er dachte, er habe sich bewegt ... ja, das musste er wohl getan haben, denn gleißender Schmerz fuhr ihm am Bein entlang hoch und ballte sich unten an seinem Rücken zusammen. 

Die schreckliche Unruhe kam ihm wieder ... dann war sie wieder entschwunden. 

Kräftige Hände zogen an ihm und schoben ihn, und er wollte in diese Schwärze und in den Schlaf versinken ... aber die schreckliche Unruhe zog weiter an ihm ... zog ... wie die Hände, die seine Ruhe störten. 

Maris. 

Der Name schlug wie der Blitz in seinem Bewusstsein ein und jäh riss es ihn aus dem Dämmerzustand. Etwas mit Maris ... seine Augen waren geöffnet, versuchten sich trübe auf die Gesichter zu konzentrieren, die auf ihn niederschauten. Maris war nicht darunter, fiel ihm vage auf ... Heinrich ... Bart ... Raymond... 

Maris ... sein Verstand schrie den Namen, diese schreckliche Unruhe, aber es kostete ihn seine gesamte Kraft, schon allein seine sieben Sinne irgendwie einzusammeln. Die schreckliche Unruhe hatte nichts mit ihr zu tun ... Maris, seine baldige Gemahlin, seine Geliebte... 

D’Arcy. 

Dirick krächzte den Namen, als er darum kämpfte, sich aufrecht hinzusetzen. Gott im Himmel, er würde sie entführen! „Maris“, schaffte er noch aus einem trockenen, angeschwollenen Hals hervorzustoßen. 

Ganz schwach hörte er, wie Heinrich lachte, obwohl ihm die Sorge ins Gesicht geschrieben stand. „Der Mann ist besorgt, dass er seiner Frau heute Nacht nicht genug Gutes tun kann ... er muss wohlauf sein.“ Nichtsdestotrotz beugte sich der König zu Dirick herab. „Könnt Ihr stehen, Mann?“ 

Dirick sammelte all seine Kräfte und Sinne zusammen und nickte mit dem Kopf, während er die Hand ergriff, die ihm da angeboten wurde. Es war eine Hand mit vielen Ringen und gehörte zu Heinrich ... aber Dirick achtete gar nicht darauf, als er sich nach vorne warf, die Hand packte und sich auf die Beine zog. 

Er war im Wald. Die Jagdteilnehmer hatten sich um ihn versammelt, zusammen mit ihren Reittieren und den Hunden, sogar der tote Eber war da. „Ich muss gehen“, war alles, was er sagen konnte, kaum hatten seine Augen Nick entdeckt. 

„Ludingdon, was fehlt Euch? Ihr müsst zur Burg zurückkehren, damit man dort nach Euch sieht!“ Heinrich brüllte die Befehle. „Richard! Marcus! Nehmt ihn und bringt ihn zu den Ärzten und hört nicht auf seine Reden. Er hat meine Jagd lange genug aufgehalten!“