
KAPITEL VIER
Maris kleidete sich am nächsten Morgen ohne die Hilfe von Verna an. Sie war früher als gewöhnlich erwacht und entdeckte rasch, dass ihr zu viele Gedanken durch den Kopf schwirrten, als dass sie noch weiterschlafen könnte. Also stand sie auf. Es war ein kalter Morgen und die Sonne hatte noch nicht einmal ein bisschen über den Tellerrand der Erde geschaut, um diese zu erwärmen.
Die Steinstufen hinab lief sie rasch durch die große Halle, wo in einer Ecke ein kleiner Haufen von Soldaten tief und fest schlief. Sie hatten es ganz offensichtlich nicht mehr bis zum Zimmer mit den Schlafstätten geschafft, wo sie gestern Nacht einen sprachlosen Sir Dirick stehen gelassen hatte.
Ein amüsiertes Lächeln machte, dass ihr die Mundwinkel bei der Erinnerung an sein schockiertes Gesicht zuckten, und derart darin vertieft, wie sie war, tat Maris einen kleinen Fehltritt und trat der Katze auf den Schwanz. Die getigerte Katze stieß ein laut protestierendes Maunzen aus (die beschwipsten Männer rührten sich nicht) und das Tier schlich sich empört durch das am Boden verstreute Stroh davon.
Sie schnalzte leise mit der Zunge, eher zu sich selbst als zu der beleidigten Katze, weil sie befürchtete, dass die Reaktion der Katze nur ein Vorgeschmack von dem sein würde, was ihr Vater sagen würde, wenn er von ihrem wenig damenhaften Betragen gegenüber Sir Dirick hörte. Sie konnte nicht umhin wieder einmal zu dem gemeinschaftlichen Schlafplatz zu schauen, wo er sehr wahrscheinlich lag, alle Glieder weit von sich gestreckt.
Einen kurzen Moment lang stellte sie sich sein dichtes, dunkles Haar vor, zerzaust und lockig, wo er sein müdes Haupt zur Ruhe gebettet hatte, sein angenehm anzuschauendes Gesicht im Schlaf restlos entspannt. Vielleicht hatte er einen Arm ausgestreckt, weg von dem Körper unter den Decken ... oder ein Bein lag auf der Wolldecke, während der Rest von ihm wohlig schlummerte. Seine beunruhigend graublauen Augen wären da geschlossen – diese Augen, die sie so intensiv betrachtet hatten, dass ihr das Herz im Brustkorb wild herumsprang. Aber wenn sie gerade nicht auf ihr ruhten, hatte sie festgestellt, dass sie dann von einem weichen, wolkenähnlichem Grau waren, gesprenkelt mit Blau. Die Farbe von der Bucht bei Langumont an einem Wintertag und umsäumt von den längsten, dunkelsten Wimpern, die sie je an einem Mann gesehen oder bemerkt hatte.
Maris schreckte auf und bemerkte verwirrt, dass sie mitten in der Halle stehen geblieben war, dort stand und in Richtung der Schlafstätten starrte, als ihr all diese Gedanken durch den Kopf tanzten. Obschon niemand da war, dem ihr Verhalten hätte auffallen können, drehte sie sich entschlossen weg. Es war nichts dabei, sich einer kleinen Schwärmerei für den zukünftigen Bräutigam hinzugeben, aber sie hatte sich so lange gegen die Ehe gesträubt, dass es ihr merkwürdig erschien, jetzt voller Vorfreude zu sein. Vorfreude darauf, alle Einzelheiten eines männlichen Körpers kennenzulernen. Maris raffte ihre schwere Wolltunika zusammen und drapierte die Röcke über ihrem Arm, als sie über eine umgedrehte Bank stieg.
Die Küche war bis auf Bit, die Tochter des Kochs, einsam und verlassen. Sie schlief in der Ecke auf ein paar leeren Mehlsäcken. Ein großes, blaues Auge öffnete sich, als Maris näherkam und ein Gähnen machte das rundliche, schmutzige Gesicht nochmal so breit.
„Mylady!“, rief sie überrascht aus und sprang auf.
„Geh wieder zu Bett, Bit“, befahl Maris ihr. „Es ist noch lange nicht Zeit für die Frühmette und außer mir und der Katze schlafen alle tief und fest.“
Sie drehte sich um, um in einem Fass voller Äpfel zu wühlen, und als sie einen schönen gefunden hatte, polierte sie ihn an der weichen, blauen Wolle an ihrem Arm. Sie begann den Morgen mit einem Stück Brot von gestern, das sie eingewickelt in ein Tuch unter einem Brett fand, und einem großen Schluck Ale, dem reichlich Wasser beigemengt war.
Sie trat hinaus in den kalten Tag, während sie den Apfel genüsslich verspeiste. Es war fast so dunkel wie in der Nacht, als sie von der elenden Behausung von Thomas dem Küfer heimgestapft war. Sterne erleuchteten den dunkelblauen Himmel und ein großer Mond hing mitten unter ihnen. Trotz der Kälte hielt Maris kurz an, um nach oben zu sehen. Sie zog sich ihren Mantel mit dem Futter aus Eichhörnchenfell enger um die Schultern, als sie da mitten im Burghof stand. Die einzigen Kreaturen, die sonst noch umherliefen, waren die Nachtwächter ihres Vaters auf den Wällen zum Norden und zum Süden des Burghofs. Sir Richard auf dem nördlichen Wall sah sie, erkannte Maris und winkte zum Gruß.
Sie winkte zurück und nachdem sie ihren Apfel zu Ende gegessen hatte, steckte sie den Butzen für Hickory in ihre Tasche. Ein Kälteschauer überraschte sie da und sie eilte weiter zu den Stallungen, wo die warmen Leiber der Pferde Milderung der Kälte verhießen.
In dem alten Gemäuer war es in der Tat wärmer, aber auch viel dunkler. Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich daran zu gewöhnen, aber dann konnte sie gerade noch die grauen Umrisse der unruhigen Pferde erkennen. Maris schnalzte mit der Zunge zum Gruß und ging dann die gesamte Länge des Stalls bis hinten runter, wo ihre Stute Hickory sie mit leisem Wiehern begrüßte.
Sie vergrub ihre Hände in Hickorys warmer, brauner Mähne, was sowohl als Gruß gedacht war, wie auch um ihre Hände aufzuwärmen. Während sie den Hals der Stute streichelte, murmelte sie ihr beruhigende Worte zu, als ihr Pferd die samtweiche Nase in die Falten von Maris’ Umhang steckte. Ihre Herrin besuchte sie niemals, ohne einen Leckerbissen dabei zu haben, und der Rest des Apfels wurde entdeckt und rasch verspeist.
„Wie geht es deinem Bein?“, fragte Maris ihre Freundin zärtlich, als sie in der Box niederkniete. Sie warf die Kapuze ihres Umhangs nach hinten und ließ ihre sicheren Hände an Hickorys Vorderlauf entlangwandern. Die Stute zuckte nicht zusammen und sie entfernte langsam den Verband, um dort zu sehen, dass die Schwellung fast verschwunden war.
„Ah, es geht dir wirklich viel besser“, sagte sie zärtlich. „Schon bald geht es für uns wieder auf die Jagd nach dem wilden Eber, meine gute Hickory“, flüsterte Maris, als sie wieder aufstand und die samtweiche Nase streichelte, die gegen ihren Kopf stieß. „Und dann reißen wir das Ungetüm in Stücke, nicht wahr?“
„Und was hält Euer Vater denn von diesem Plan, von der Hatz auf den wilden Eber?“ Die Stimme hinter ihr erschreckte sie gehörig und sie wirbelte herum, das Herz schlug ihr bis zum Hals.
„Sir Dirick, das war nicht sehr freundlich von Euch“, sprach sie voller Entrüstung, als sie noch versuchte ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen. „Ich hätte von Euch sprechen können!“
Er lachte kurz auf. „Und vielleicht wäre das mir Recht geschehen, wenn es so gewesen wäre“, sagte er mit mehr Humor, als sie bei ihm vermutet hätte.
Schreckliche, alptraumhafte Träume von dem Tod seines Vaters hatten Dirick viel zu früh erwachen lassen und er hatte in einer Ecke der Halle gesessen und gesehen, wie Maris in ihrem leuchtend blauen Umhang zum Burghof hinausgeschlüpft war. Auf der Suche nach einer Ausflucht, um nicht an diese finsteren Träume zu denken, hatte Dirick die Gelegenheit beim Schopf gepackt und war ihr gefolgt.
Er würde noch ein oder zwei Tage auf Langumont zubringen müssen, während er auf Kunde wartete, ob Bon de Savrille auf Breakston war, und Dirick beabsichtigte, Geist und Körper auf Trab zu halten, damit er nicht Opfer seiner Verzweiflung oder der Wut wurde, weil es ihn drängte, den Mörder seines Vaters zu finden. Lord Merle hatte ihm ein wenig Waffenübung versprochen, um seinen Körper zu beschäftigen, und das Rätsel seiner Tochter würde dazu dienen, seinem Verstand etwas zu tun zu geben. Bald würde er sich im Auftrag des König wieder auf den Weg machen ... und dann in eigener Sache weiterziehen.
„Es scheint mir viel zu zeitig für eine Lady, um schon ihre Runden zu machen, was auch immer sie zu tun hat“, bemerkte Dirick, während er im dunklen Stall besser zu sehen versuchte.
„Das ist es auch“, erwiderte sie. „Aber jetzt ist der Tag am ruhigsten und ich wollte nach Hickorys Vorderbein sehen.“
Es begann zu dämmern und die dunklen, grauen Schatten nahmen allmählich ihre echten Farben an, Einzelheiten wurden erkennbar, wie sie beide da im Stall standen. Dirick konnte erkennen, dass Maris’ Haar nichts bedeckte und es ihr in einem schweren Zopf über eine Schulter hing. Beim Anblick ihres Haares fühlte er eine seltsame Intimität mit ihr. Obwohl bei Hof viele Jungfern begonnen hatten die Tücher zur Bedeckung von Brust und vor allem Kopf nicht mehr zu tragen, war es offenkundig, dass sie an Merles Hof immer noch zum guten Ton gehörten, denn beide Damen hatten sie gestern getragen. Aber er konnte nicht erkennen, was für eine Farbe der Zopf von Maris hatte. Und aus einem unerfindlichen Grund musste er es wissen.
„Und die Nacht?“, fragte Dirick ganz bewusst. „Ist das auch eine geeignete Zeit für eine Dame von edler Geburt ihre Runden zu machen?“
Sie hatte ihren Kopf in der Art eines Falken zur Seite gelegt, als würde sie versuchen den Hintersinn seiner Worte zu ergründen. „Ja, es gibt Zeiten, da rufen mich meine Pflichten auch des Nachts aus der Burg.“
„Und was kann das sein, das die Lady von Langumont dazu bringt, in der Dunkelheit – und ohne Begleitung – durch die Gassen zu wandern?“ Er hielt ihren Blick in diesem schummrigen Licht entschlossen fest, ebenso entschlossen eine Antwort zu erhalten, was die Frage betraf, was sie mitten in der Nacht alleine im Dorf zu suchen gehabt hatte.
Zu seiner Überraschung lachte sie da. „Ah, Sir Dirick, seid Ihr so erpicht darauf, meinen Ruf zu schützen, dass Ihr Euch weigert mit Euren üblen Befürchtungen zu meinem Papa zu gehen? Es ist nur natürlich, dass Ihr nicht wünscht, dass Eure Verlobte nicht des Nachts auf den Gassen gesehen wird – zumindest nicht, wenn Ihr den Grund dafür nicht kennt.“ Ihre Hand legte sich jetzt leicht auf seinen Arm, als sie ernst wurde. „Fürchtet nicht um meinen Ruf, Sir Dirick. Ich kam lediglich vom Kindbett der Frau des Küfers, nach jenen langen Stunden einer sehr schweren Geburt mit zwei Söhnen am Ende des Tages. Ich fürchte, Ihr traft mich nicht in allergnädigster Stimmung an, als Ihr so rasch auf mich zu geprescht seid.“
Es dämmerte jetzt rings um Sir Dirick, so dass er fast einen Teil ihrer Erklärungen überhört hätte. „Bitte nehmt die Entschuldigung für mein grobes Betragen an“, sagte er zerknirscht. Dann, als sein Mund wieder gleichauf mit seinem Verstand war, wiederholte er ungläubig, „Verlobte?“
Maris hatte sich wieder umgedreht, um Hickorys Nase zu streicheln, und wandte ihm also den Rücken zu, fast als wolle sie ihr Gesicht vor ihm verbergen. „Ja, Sir, es ist ein offenes Geheimnis, dass Ihr hier seid, weil Ihr meine Hand zum Ehebund begehrt. Es ist–“
„Woher habt Ihr nur eine solche Idee?“, rief Dirick da aus. Von einem Ehevertrag zu sprechen – nur einen Tag nachdem er Lord Merle und seine Tochter getroffen hatte – war unerhört grob, um das Mindeste zu sagen. Abgesehen davon war eine Ehe das Allerletzte, was er jetzt brauchte – er hatte einer Ehefrau keine Ländereien zu bieten, noch verspürte er den Wunsch an eine Frau gebunden zu sein, wo der Herrgott so viele hübsche davon auf die Erde gesetzt hatte. „Mylady, das ist ganz und gar nicht der Grund meines Besuchs.“
„Vergebt mir“, unterbrach Maris ihn da, Erleichterung und Scham in ihrer Stimme. „Es war nicht meine Absicht – ich hatte gedacht, Ihr wärt der Mann, mit dem mein Vater mich zu vermählen gedenkt.“
„Euer Vater erzählte, dass Ihr noch niemandem versprochen seid“, sprach er zu ihr, als er wieder Herr seiner Sinne war. Jetzt fiel ihm wieder Lord Merles Schreiben vom vorigen Tag ein sowie der unmittelbar bevorstehende Besuch des hoffnungsvollen Kandidaten. Es war ein verzeihlicher Fehler, den die Lady gemacht hatte.
„Nein, ich bin noch nicht verlobt, noch wünsche ich Gegenstand von derlei Geschacher zu sein“, entgegnete Maris mit scharfer Zunge. Sie schaute zu ihm hoch und er war überrascht, dass er nunmehr, im Lichte der Dämmerung, die Form ihrer Augen und die grünen Einsprengsel darin erkennen konnte. „Papa hat aufgehört mich dazu zu drängen, einen Mann nach meinem Geschmack zu finden.“ Ihr Gesicht erlosch und sie wandte sich wieder dem Streicheln von Hickorys Samtnase zu. „Und weil ich keine Entscheidung getroffen habe, hat nun er meinen Gemahl ausgesucht.“
Dirick war etwas schockiert von ihren offen ausgesprochenen Ansichten. Die meisten Jungfern waren mit fünfzehn längst bereits verlobt und die meisten von ihnen auch schon vermählt, und vor ihm stand eine Frau von mehr als siebzehn Lenzen, die ganz gelassen davon sprach, wie sie keinen Mann nach ihrem Geschmack fand und es auch für unwahrscheinlich hielt, einen solchen zu finden. Es war wider die Natur.
Maris unterbrach seine Gedanken. „Was tut Ihr denn sonst hier auf Langumont, wenn nicht um mich zu prüfen, meine Zähne anzuschauen und einen Preis für die Mitgift auszuhandeln?“
Es gelang Dirick weder ein Lächeln noch eine Grimasse angesichts ihrer Worte, die den ganzen Vorgang in einem recht merkantilen Licht erscheinen ließen. „Wie Euer Vater gestern Abend sagte, bin ich kürzlich aus Paris zurückgekehrt und reise durch die Gegend auf der Suche nach Arbeit für einen Lord, wie Euer Vater einer ist.“
„Ist dem so?“, fragte sie, ein seltsamer Ton in ihrer Stimme. „Es scheint, Ihr wisst recht gut Bescheid über Heinrichs Hof – für jemanden, der erst kürzlich von Frankreich hierher übersetzte.“
„König Ludwig unterhält viele Augen, die den Hof des Mannes überwachen, der ihm die Frau stahl“, erwiderte Dirick prompt.
„Und ein recht vortreffliches Ross habt Ihr auch. Für einen fahrenden Ritter“, sagte sie.
Dirick betrachtete sie lange. Er war sicher, die Unschuld ihrer Worte war vorgetäuscht, aber unwillig zu glauben, dass sie ihn im Verdacht haben könnte. Was verstand eine Frau schon von Pferden? Er entschied sich für ein Ablenkungsmanöver. „In der Tat, ich kenne mich mit dem Reiten von Pferden gut aus ... und auch mit anderen Vergnügungen.“
Maris wurde rot und drehte sich weg, „Und habt Ihr gestern Nacht solche Vergnügungen gefunden?“, schleuderte sie ihm entgegen, ohne ihn jedoch anzublicken.
Dirick war bei dieser überaus direkten Frage wieder einmal sprachlos. „Lady Maris–“ Ein Geräusch hinter ihm lenkte ihn von ihr ab. „Wer da?“, rief er, noch während er mit einer geschmeidigen, eleganten Bewegung vor sie trat und seine Hand zum Schwert an seiner Seite ging.
„Es ist Peter, der Stallmeister“, antwortete eine Stimme, deren Ton ebenso warnend klang wie die von Dirick zuvor. „Und wer geht dort?“
Maris streifte an Dirick vorbei und der Duft von ihr, frisch wie der von Zitrone, füllte ihm die Nase, als sie in den Stallgang hinaustrat. „Peter, ich wünsche Euch einen guten Morgen. Hickorys Bein ist fast verheilt“, sagte sie. „Bei mir ist Sir Dirick de Arlande“, erklärte sie, als der gebückte, alte Mann über ihre Schulter nach Dirick spähte. „Seit fast über sechzig Jahren schon ist Peter Stallmeister auf Langumont – und seine Söhne und Enkelsöhne nach ihm.“
„In der Tat, jetzt erkenne ich es – Ihr seid von gleichem Aussehen wie der junge Mann, der bei meiner Ankunft hier Nicks Zügel in Empfang nahm. Er hatte eine ruhige Hand, was meinen Hengst betraf, ganz eindeutig kannte er sich mit Pferden aus“, erwiderte Dirick.
Da nickte Peter sehr vergnügt. „So ist es, Mylord, das war mein ältester Enkelsohn, Percival. Ich schwör’s, dem Kerl fließt Rossblut durch die Adern!“
Dirick schmunzelte, seine Aufmerksamkeit wurde dann wieder zu Maris gelenkt, als diese sich hinkniete, um Peter den Vorderlauf der Stute zu zeigen. In der Zwischenzeit war es recht hell im Stall geworden und die Schattierungen von Grau hatten sich in blasse Farben gewandelt. Der breite Zopf, der zuvor sein Interesse geweckt hatte, war über die Schulter zurückgeworfen worden, als sie sich gebückt hatte und beinahe hätte er die Hand nach dieser dunkel leuchtenden Verheißung ausgestreckt. Kastanienfarbenes Haar. Kastanienfarbenes Haar und grüngold gesprenkelte Augen und volle Lippen.
Dirick riss seine Gedanken ruckartig wieder in die Gegenwart zurück, bevor sie restlos in die Unsittlichkeit zerstoben, gerade als Maris sich aufrichtete. Sie beide standen jetzt fast aufeinander. Ihre Nase stieß fast an seine Brust, als sie sich rasch umdrehte und er tat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Sie nahm ihn gar nicht wahr. All ihre Aufmerksamkeit war jetzt bei Peter und ihre Augen funkelten golden, während ihre Wangen aber rosa erglühten, als sie den Heilungsprozess von Hickorys Bein erklärte, ganz so, als wären die Schritte der Stute die ersten Schritte ihres eigenen Kindes.
Als der Stallmeister sich endlich zum Gehen wandte, um an seine Arbeit zu gehen, drehte Maris sich zu Dirick um. „Nun, Sir, beabsichtigt Ihr den ganzen Tag dort stehenzubleiben, um so das Einstürzen der Stallwand zu verhindern? Ich versichere Euch, Papa würde es nicht zulassen, dass irgendeines der Gebäude auf seinem Land so traurig verkommen würde, dass ein gut bezahlter Mann seine Tage als Mauerstütze zubringen müsste.“
Bei ihren frechen Worten musste er einfach grinsen. „Nein, Mylady. Ich warte hier nur, bis Ihr Euer Süßholz mit dem Stallmeister ausgeraspelt habt und dann geht, um Euren Pflichten nachzukommen.“
„Süßholz, was Ihr nicht sagt.“ Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf und selbst auf dem weichen, staubbedeckten Boden konnte er das Stampfen hören.
„Bei den Gebeinen Jesu, Mylady, Ihr klingt wie mein Schlachtross, wenn er eine rossige Stute sucht.“ Er hob eine Augenbraue und sein Grinsen wurde breiter.
Mit wehendem Umhang wirbelte Maris herum, um aus dem Stall zu stapfen. Dirick folgte ihr, die Hände ganz unschuldig auf dem Rücken verschränkt. Seine langen Beine verliehen ihm die nötige Geschwindigkeit, um sie einzuholen, und er fiel mit ihr in Gleichschritt, gerade als sie am Ausgang der Stallungen anlangte. „Warum klebt Ihr mir gleich einem verspielten Welpen an den Fersen?“, forderte sie ihn heraus.
„Ich bin nur interessiert, das ist alles“, sagte er ganz aufrichtig. „Eure Erzählung von heute Morgen von dem Küfer und seiner Frau ... und Eure Gabe zu heilen.“
Maris hielt im Burghof an, um ihm direkt in die Augen zu blicken, ein riesiger Feuerball von Sonne blinzelte schon über die Mauer des Innenhofes, so dass sie recht undamenhaft – aber eigentlich zauberhaft – mit zusammengekniffenen Augen zu ihm hochblinzeln musste. „Interessiert, sagt Ihr?“, fragte sie.
„Jawohl. Ich kenne viele Damen von edler Geburt und auch viele reich an Ländereien, so wie Ihr es seid, und bisher ist mir noch keine untergekommen, die bis in die späten Stunden der Nacht ausbliebe, um einer Küfersfrau Hebammendienste zu leisten. Es stimmt schon, meine Frau Mutter kümmert sich durchaus um die Belange und Sorgen ihrer Leute, und ich habe andere getroffen, die das auch so halten – aber allzu oft geschieht all das nur, wenn es ihnen genehm ist.“
„Die Menschen werden nicht krank, um ihren Heilern einen Gefallen zu tun“, sagte Maris mit Verachtung, jene vollen Lippen wurden ganz schmal. „Das war beinahe das Erste, was man mir beibrachte – gleich nach der Lektion, welche Pflanze der todbringende Schierling ist, natürlich“, sie lächelte ihm zu. Ihre Nase war vor Kälte rot und ihre Wangen würden es bald ebenso sein und sie sah schlicht bezaubernd aus, wie sie da mit ihm scherzte.
Er grinste zu ihr herab, plötzlich war ihm so leicht ums Herz – zum ersten Mal, seitdem er die Nachricht vom Tode seines Vaters erhalten hatte. „Das war, da bin ich mir sicher, eine überaus nützliche Lektion.“
„Das war es, aber nicht so wichtig wie zu lernen einen Trank zu bereiten, mit dem man sich überheblicher Ritter entledigt, die wie der Teufel in der Nacht auf einen zu geprescht kommen“, setzte sie noch nach, drehte sich um und zog sich die Kapuze hoch, um ihr rotbraunes Haar zu bedecken.
„Nun denn, ich würde die Frau gut bezahlen, die mir einen Zaubertrank brauen könnte, welcher die spitze Zunge einer gewissen Lady von Langumont etwas stumpfer machte. Ich schwöre, mein Mund zieht sich weniger zusammen beim Biss in eine Zitrone als bei ihrem Scharfsinn.“
„Ihr wagt es in dieser Art von meiner Frau Mutter zu reden?“ Ein leises Kichern entschlüpfte ihren Lippen und sie schaute zu ihm hoch, mit lachenden Augen. „Ich sollte Euch auf der Stelle an die Luft setzen für derlei Unverschämtheiten!“
Eine dicke Locke ihres Haares flog ihr da ins Gesicht und blieb an ihrem Mundwinkel hängen. Sie wischte sie weg und wurde ernst. „Um offen zu sprechen, Sir Dirick, Euer ernst gemeintes Interesse ist etwas ungewohnt für mich. Männer von Eurem Schlag drehen meistens entsetzt bei oder halten lieber Kurs auf ein anderes Gesprächsthema, als sich die lange Liste meiner Pflichten auf Langumont anzuhören.“ Sie strich den langen Umhang über ihrer Brust glatt, „und jetzt ist es längst Zeit für mich diesen Pflichten nachzukommen. Ich habe Euch lange genug von Eurer Arbeit abgehalten.“
„Nein, Mylady, Ihr habt mich von rein gar nichts abgehalten“, erwiderte Dirick da schnell, wobei er tief in der Wärme seiner Tunika die Hände aneinander rieb. Es war recht frostig auf dieser Seite des Burghofes, wo der kleinste Luftzug sich zu verfangen schien, um dort dann wild herumzutollen.
Maris lächelte. „Sehr wohl, Sir. Aber ich muss zur Messe und dann zu meinen Pflichten.“ Sie drehte sich um und ging dann in Richtung der winzigen Kapelle auf Langumont.
„Mylady.“ Er klebte an ihren Rockschößen, als zöge ihn ein Seil. Sie drehte sich um und er kam sich lächerlich vor. „Lady Maris, ich weiß nicht, wo die Kapelle ist, und ich benötige die Absolution“, sagte er.
Sie zeigte mit ihrer Hand nach vorne. „Kommt also mit zur Messe und Vater Abraham, unser Priester, wird sich um Euch kümmern.“
„Sehr gerne, Mylady, Ihr habt meinen Dank.“
~*~
Verna kroch die dämmrigen, kalten Stufen hoch, die zu den oberen Gemächern des Donjon führten. Die Geräusche von Betriebsamkeit und allerlei Geschäftigkeit unten drangen gedämpft zu ihr nach oben. Und obwohl sie lauschte, ob da auch die Stimme ihrer Herrin dabei war, wusste sie, dass Lady Maris zu ihrer Arbeit im Dorf aufgebrochen war und in den nächsten Stunden nicht wiederkehren würde.
Auf dem Stockwerk über der großen Halle gab es mehrere Gemächer. Die schienen wie eingelassen in die hohen Steinmauern. Es gab da Lady Allegras Kemenate, wo meist die Näherinnen arbeiteten, das Privatgemach des Lord und seiner Lady, mehrere kleine Kammern für wichtige Gäste und, zu guter Letzt, auch das Zimmer, zu dem es Verna zog.
Das Gemach von Lady Maris war das letzte hinten im engen, schlecht beleuchteten Gang. Daran schloss sich eine kleine Vorkammer an, wo Verna nächtigte, wenn sie nicht in männlicher Gesellschaft schlief, denn Maris verlangte nicht, dass sie ihr jede Nacht zur Hand war, wie Lady Allegra es von ihrer Zofe verlangte.
Still und leise durchquerte Verna die kleine Vorkammer, schlich dort um die schmale Schlafstatt herum, auf der großzügig drei Kissen und eine Auswahl von Decken lagen, und öffnete die schwere Tür zum Hauptgemach.
In einer Ecke befand sich ein großes Bett, dessen Vorhänge nunmehr zurückgezogen waren, was den Blick auf eine dicke Überdecke aus Fell freigab, sowie auf ein Vielfaches an Kissen im Vergleich zu Vernas magerem Bett. Links von dem Bett befand sich in der Wand der schmale Schlitz eines Fensters – gerade breit genug, dass eine Hand hindurchpassen würde. Ein zweites Fenster war auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers angebracht. Beide Fensterschlitze waren mit dicken, schweren Teppichen verhangen, um den bitterkalten Winter aus dem Zimmer zu bannen.
In die den beiden Fenstern gegenüber liegende Wand hatte man eine Feuerstelle eingehauen und ein kleines Feuer brannte darin. Eine der vielen Aufgaben von Verna war es, jede Nacht die kleinen, züngelnden Flammen genau dann zu einem lauten Prasseln anzuheizen, wenn ihre Herrin sich auf den Weg nach oben zu ihren Gemächern machte. Eine große Truhe stand am Fuße des Bettes und eine zweite neben der Feuerstelle erfüllte auch den Zweck eines Tisches. Ein Hocker und ein Stuhl mit gerader Lehne vervollständigten die Einrichtung des Zimmers.
Verna huschte auf leisen Sohlen durchs Zimmer, ihre Füße raschelten leise in dem auf dem Steinboden ausgebreiteten Stroh. Sie stocherte kurz in der Glut herum, legte noch zwei Scheit auf die etwas zögerlichen Flammen und wandte sich dann der Truhe am Bettende zu.
Sie kniete sich davor nieder und öffnete die schwere Holztruhe. Darin befanden sich haufenweise Stoffe aus Seide und Samt, Wolle und Leinen, in klar leuchtenden Farben und von ausgesucht komplizierter Stickerei. Langsam ließ sie eine Hand darüber gleiten, zerknitterte kurz einen flaschengrünen Seidenbliaut mit einer Hand. Ihr Mund war nun seltsam verzerrt und sie stand auf, zog den Bliaut mit sich hoch. Er fiel in einer Kaskade von Seide bis zu ihren Füßen hinab. Sie wusste, dieses Grün würde ihr blassblondes Haar und ihre grünen Katzenaugen gut ergänzen.
Einen Moment lang stand sie nur so da, strich mit der Hand an der Seide vor ihrer Brust entlang, stellte sich vor, wie sie wohl aussähe – gekleidet in die kostbaren Stoffe der Lady Maris von Langumont. Der hässliche Zug um ihren Mund verstärkte sich noch, als sie das Gewand vorsichtig wieder zusammenfaltete und wieder in der Truhe verstaute.
Jetzt durchsuchte Verna sehr vorsichtig die Kleiderstapel bis runter zum Boden der Truhe und tastete dort alles sachte ab. Während sie vorsichtig eine Kerze dort an die schattigen Tiefen der Truhe hielt, spähte sie unter die unzähligen Kleider dort, gab immer Acht auf das tropfende Wachs und zog dann endlich das von ihr Gesuchte hervor.
Es war ein Tuch, eine Kopfbedeckung, in feinen Maschen gewoben aus goldenem Tuch, das oft die dichten Locken von Lady Maris in den Sommermonaten bedeckte. Im Licht der Kerze betrachtete Verna das Haarnetz genauestens und war hocherfreut dort mehrere von den dichten, dunkelbraunen Haaren zu finden, die sich in der kompliziert verschlungenen Kopfbedeckung verheddert hatten. Mit einem leisen Ausruf der Freude, legte sie das Tuch sorgfältig zusammen und verbarg es in ihrem Ärmel.
~*~
Maris hatte Zuschauer, als sie den Verband von Raymond de Vermilles Schulter entfernte. Knappen und Schildknechte ihres Vaters schauten ihr gebannt zu, in der Hoffnung an der Schulter die Anzeichen von Blutklumpen und anderem zu erblicken, von denen man ihnen berichtet habe, es gebe sie in derlei Wunden. Zu ihrem Bedauern, aber zur großen Freude Raymonds, war der grünliche Eiter, der nur zwei Tage zuvor wie fette Paste aus der Wunde ausgetreten war, verschwunden und die Schwellung war merklich zurückgegangen.
„Seht nur, Sir Raymond“, setzte sie wie es schien nunmehr zum hundertsten Mal an, aber dieses Mal mit der Absicht, auch den jungen Burschen etwas beizubringen, „es ist keine große Kunst Dreck von einer offenen Wunde fernzuhalten und es erleichtert der Haut die Heilung um ein Vielfaches. Wenn Ihr aber immer wieder Schmutz und Wolle und Läuse von Eurer Tunika in die Wunde reibt, schwillt sie sogleich schrecklich an, weil die Körpersäfte alle genau dort austreten wollen.“ Sie legte gerade letzte Hand an einen sauberen Verband um seine Schulter an.
„Mein Dank ist Euch gewiss, Mylady“, sprach Raymond zu ihr und zwinkerte dabei den Knappen verschwörerisch zu.
„Das habe ich gesehen“, sagte sie verärgert zu ihm und zog den Verband fester zu. Bei seinem übertrieben lauten, schmerzvollen Grunzen ließ sie wieder etwas locker. „Wenn Ihr nicht auf mich hört, Sir Raymond, und mit Euren Scherzen hier nicht aufhört, werdet Ihr schon bald keine Arme mehr haben, um das Schwert zu führen.“ Dann lächelte sie und streichelte ihm über die gute Schulter, „wenn Ihr aber auf meine guten Ratschläge hört, werdet Ihr binnen einer Woche schon wieder eine Lanze in der Hand halten.“
„Ich danke Euch, Mylady“, sagte er da nochmals, dieses Mal ohne Scherz.
Sie scheuchte ihn vom dem Hocker, auf dem er gesessen hatte. „Wenn Ihr das nächste Mal mit meinem Vater ins Feld reitet, werde ich Euch etwas von meiner grünen Salbe mit auf den Weg geben, die Ihr auf eine solche Wunde auftragen könnt, bis Ihr wieder hier bei mir zu Hause zur Versorgung der Wunde seid.“
Sie sammelte den Rest ihrer Arzneien zusammen, steckte einige getrocknete Blätter und Beeren in ein Säckchen, den sie in ihren Korb legte. „Fort mit Euch allen, bevor der Koch noch Arbeit für Euch findet“, sagte sie und scheuchte auch die jungen Burschen aus dem Kräuterhaus.
Draußen war die Luft ebenso kalt und klar, wie sie es am frühen Morgen gewesen war. Die Sonne war so hell, dass Maris fast nichts sehen konnte, als sie aus der dunklen Kammer heraustrat und prompt gegen einen warmen Körper prallte.
„Schaut Ihr denn nicht, wohin Ihr geht?“, kam da eine tiefe Stimme belustigt von oben. „Lady Maris?“
„Sir Dirick“, sie konnte jetzt schon ein paar Formen erkennen. Sie sah hoch, wo sein Gesicht sein müsste und ihre Augen fingen im hellen Sonnenlicht sofort an zu tränen. Sie blinzelte, um die Tränen zu unterdrücken, und blickte wieder hinab und sah dort seine abgewetzten, braunen Stiefel im zertrampelten Schnee des Kräutergartens. „Ich bitte um Verzeihung, es war so dunkel im Kräuterhaus und die Sonne ist so überaus hell jetzt, für einen Augenblick konnte ich rein gar nichts erkennen. Ich hoffe, Eure Beichte wurde geduldig angehört?“
Er grinste. „So war es, Mylady. Und höchste Zeit war es auch dafür.“
„Und ist es Euch auch gelungen, die Absolution für Eure zahlreichen Sünden zu bekommen?“, neckte sie ihn.
Diesmal lachte er. „Ja, aber dafür muss ich noch ein bisschen mehr büßen.“
„Was Ihr nicht sagt. Ich hatte nicht erwartet, Euch so schnell die Kapelle wieder verlassen zu sehen“, konterte sie und war jetzt in der Lage zu dem Gesicht hochzublicken, das vor der Sonne stand. „Vater Abraham ist nicht dafür bekannt, dass er die Verbüßung der Sünden kurz hält – und bei einer Beichte wie der Euren, hätte ich gedacht, Ihr müsstet bis zum Tag des Jüngsten Gerichts Vaterunser herbeten und Euren prachtvollen Nick verkaufen, um genug Ablassbriefe zu kaufen.“
„Nein, Mylady, meine Buße ist noch viel schwerer, als Ihr annehmt.“ Seine Augen funkelten mit dem leuchtenden Schnee um die Wette, „Vater Abraham trug mir auf eine starrköpfige Dame, die Kranke heilt, bei ihren Krankenbesuchen zu begleiten, um sie davor zu beschützen, von weiteren Pferdehufen zertrampelt zu werden.“ Bevor sie reagieren konnte, hatte er ihr den mit Kräutern gefüllten Korb abgenommen und fragte, „und da ich selbst fast von einer solch edlen Heilerin überrollt wurde, ist es nur eine gerechte Strafe, wenn ich jetzt mit meiner Buße beginne. Wohin des Wegs, Lady Maris?“
„Habt Ihr denn nichts anderes zu tun, als mir hinterherzulaufen?“, fragte sie, konnte aber ein Lächeln hierbei nicht ganz unterdrücken. „Hat Papa denn keine Beschäftigung für Euch?“
„Doch, Mylady, er war es, der mich schickte Euch zu suchen – und sicherzustellen, dass Ihr heute Abend beizeiten zum abendlichen Mahl wieder auf Langumont seid. Er sagt, Ihr habt allzu viele Male an der Tafel abends gefehlt. Nun sagt schon, wohin führt uns der Weg?“
„Den Küfer besuchen“, sagte sie ihm da unumwunden. Ihr Vater hatte einen fremden Ritter geschickt, um für sie die Anstandsdame zu machen? Eine Anstandsdame in Langumont?
„Ah, der Küfer.“ Dirick wurde wieder ernst. „Habt Ihr schon Neuigkeiten gehört?“
„Nein, Witwe Maggie – die Dorfheilerin – hätte nach mir schicken lassen, wenn es Grund zur Sorge gäbe. Aber ich wünsche dennoch nachzusehen, wie es den Kleinen geht, und um zu sehen, ob die Tochter des Schmieds ihnen immer noch die Brust gibt.“
Sie stapften den dichten, festen Schnee entlang zum Tor des Burghofes hinaus, über die Zugbrücke und ins Dorf Langumont hinein. Dirick schaute erstaunt zu, wie Maris jeden Menschen, dem sie begegneten, mit Namen grüßte und in dem Englisch der einfachen Leute ansprach. Sie ging sogar in eines der verräucherten, dunklen Häuser hinein, um nach einem Kind mit fiebrigen Beschwerden zu sehen oder um einer Frau zu zeigen, wie man einen Trank gegen Schmerzen braute.
Wohlvertraut damit, die Gastfreundschaft der Pächter anzunehmen, die auf dem Land seines Vaters wohnten, war Dirick dennoch recht überrascht von der Offenheit, mit der Lady Maris dies auch tat.
Er stapfte hinter ihr her, nur noch ein Anhängsel der Tochter des Lords. Das war das erste Mal, dass er das Dorf Langumont bei Tage sah und er schaute sich mit aufmerksamen Augen alle Einzelheiten des Dorfes an und in welchem Zustand es war.
Eine Hauptstraße führte durch die gesamte, großzügig angelegte Ansiedlung geradewegs zum eisernen Fallgitter des Burghofs von Langumont. Kleine Wohnstätten aus grob geschlagenen Baumstämmen säumten die Straße. Die Häuser der Dörfler waren allesamt mit Reeteindeckung versehen und kleine Rauchsäulen stiegen aus stabilen Kaminen von Stein hoch. Die meisten der Gebäude nannten zumindest ein Fenster ihr eigen, das man mit gut eingefettetem Leinen bedeckt hatte, was den Wind abhielt, aber zugleich noch Licht ins Innere gelangen ließ. Alle Türen der Häuser sahen so stabil aus, dass nicht einmal ein starker Sturmwind, sie aufstoßen würde.
Dirick bemerkte einen Schmied, einen Weber, einen Bäcker, einen wohlhabend aussehenden Silberschmied, die Schenke, in der er zwei Abende zuvor genächtigt hatte, und verschiedene andere Handwerkstätten sowie Kaufmannsläden. Ihm fielen noch ein Metzger und ein Schuhmacher auf und seine Nase wies ihm dann auch noch den Weg zu dem Markt, wo die Fischer ihre Waren hinbrachten, gefischt in der nahe gelegenen Bucht von Langumont. Außerhalb des Dorfes, so wusste er, gab es Hektar über Hektar von Feldern und Anbaugebieten – manche gehörten den Dorfbewohnern, aber ein guter Teil davon gehörte Merle Lareux. Diese Felder wurden von den Dorfbewohnern abwechselnd bestellt, um die aberhundert Fässer Lebensmittel zu produzieren, welche dann den Haushalt des Lords und seine Gäste sättigten.
Wie er so den Wohlstand des Dorfes bestätigt sah, konnte Dirick sich eines kleinen Stachels des Neides nicht erwehren. Nie würde er derlei sein eigen nennen, das wusste er.
Ihm war ein Leben der Reise und des Krieges bestimmt, ohne Landbesitz und ohne eigenen Titel. Auch wenn der König große Stücke auf ihn hielt – so groß war seine Achtung, dass er sogar als Vertrauter und Berater Heinrichs galt –, das Höchste, was er von dieser Art Leben erwarten durfte, war es, eines Tages vielleicht das Glück eine reiche, aber politisch unwichtige Erbin zu ehelichen, mit einem einzigen, kleineren Lehen: Er würde einem Lehensherren mit einer Vielzahl von Ländereien die Treue geloben, so einem wie Merle von Langumont ... oder vielleicht würde man Dirick die Stelle eines Schlossvogtes auf einem kleinen Lehen wie Cleonis oder Firmain übertragen.
Als der jüngste Sohn war das sein Los – und daran würde sich nur etwas ändern, wenn Bernard ohne Nachkommen starb. Und selbst in seinem innersten Herzen, in seinen geheimsten Gedanken, wünschte Dirick sich nie, dass derlei je eintrat.
Er hatte stets gewusst, dass dies sein Schicksal war ... und nie zuvor hatte er es in Frage gestellt. Dirick warf der Frau, die neben ihm herging, einen verstohlenen Blick zu und verspürte plötzlich den jähen Schmerz von scharfem Bedauern. Der Mann, der sich mit ihr vermählen würde, konnte sich in der Tat reich beschenkt fühlen, und nicht nur wegen der Ländereien, die er damit erhalten würde.
Dirick wandte seine Gedanken dann wieder der Umgebung und den Dorfbewohnern zu, als sie weiter durch die Straßen liefen. Zu guter Letzt langten sie an einem Haus am südlichen Rand des Dorfes an. Ein Mann, von dem Dirick annahm, dass es sich bei ihm um den Küfer handelte, begrüßte sie an der Tür, das Gesicht voller Hoffnung.
Aber sobald er den Anblick drinnen erblickte, wusste Dirick, dass alle Hoffnung des Mannes vergebens war.