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KAPITEL ACHT 

 

An dem Abend kam Maris gerade noch rechtzeitig aus dem Dorf zurück, um sich von einer mit Kräutersaftflecken versehenen Tunika in einen gutgeschnürten Bliaut aus zimtfarbener Wolle mit Goldstickerei umzukleiden. 

Ihr Tag war wundervoll gewesen, denn eine strahlende Sonne hatte den Schnee zu nassen, klumpigen Häufchen eingeschmolzen. Den Morgen hatte sie im Kräutergarten verbracht, wo sie für ihren Rundgang im Dorf gerade heute Elixiere und Umschläge zubereitet hatte. Dann war sie mit ihrem Lederbeutel voller getrockneter Kräuter und kleiner Arzneifläschchen und Elixieren aus dem dunklen Wohnturm geschlüpft, hinein in die kalte, klare Luft. Nachdem sie einmal tief Atem geholt hatte, überquerte Maris mit raschem Schritt den Burghof. Die Morgensonne blendete sie zwar ein wenig, aber sie sah dennoch, wie die Männer ihres Vaters sich versammelten, um sich in der Waffenkunst zu üben. Sie wäre ohne einen weiteren Blick an ihnen vorüber gegangen, wenn ihr Blick nicht an einem Übungskampf hängen geblieben wäre. 

Maris hielt an, neugierig, und erkannte Dirick, der nun mit Raymond de Vermille als Gegner zu kämpfen hatte. Dirick hatte seine dunkle Tunika abgeworfen und trug nur ein ärmelloses Leinenpelisson sowie eng anliegende Beinkleider aus Wolle. Die Schwerter blitzten, fingen mit jeder Bewegung und jedem Zustoßen die Sonnenstrahlen ein, Arme und Beine bewegten sich wie eine wunderbare Choreographie. 

Trotz ihrer anderen Aufgaben verweilte die Aufmerksamkeit von Maris auf Dirick, sie bewunderte seine Anmut und seine unbändige Kraft, als er den besten Schwertkämpfer ihres Vaters rückwärts in ein Grüppchen Zuschauer drängte. 

Sie lehnte sich an die Steinmauer und beobachtete alles aus den Schatten dort heraus. Sie musste einfach alles sehen: jede geschmeidige Bewegung, sehen wie Diricks Hose locker an ihm hing, dann wieder spannte, seine kraftvollen Beine umschlang und wieder losließ. Als seine Beinkleider sich bei einem überaus athletischen Ausfallschritt besonders eng um seine Oberschenkel schmiegten, schluckte sie schwer und ihre Hand packte den Lederbeutel fester. 

Schweiß schimmerte an seinen gebräunten Armen, rann über die harten Muskeln und die hervortretenden Sehnen dort, um in die Luft zu spritzen, als er Raymonds gut geführtem Schwert auswich. Sonne und Schatten huschten spielerisch über seine mächtigen Arme und funkelten auf den haarigen Unterarmen. Maris’ Hals war jetzt wie ausgedörrt beim Schlucken. Er war wunderschön, gottähnlich, anmutig ... männlich. 

Sie konnte sich nicht losreißen, selbst als sie spürte, wie der Blick ihres Vaters kurz auf ihr zu ruhen kam. Der dunkelhaarige Krieger kämpfte weiter, beachtete die Zuschauer gar nicht, war sich auch der Gegenwart von Maris nicht bewusst – nicht einmal die dichten Haarlocken, die ihm den Schweiß auf die Stirn fallen ließen, beachtete er. Sein Gesicht war unter höchster Anspannung. Seine Augen, vor der Sonne geschützt, blieben immer auf seinem Gegner. Diricks volle Lippen – genau jene Lippen, von denen sie so süß geküsst worden war – waren jetzt schmal vor Konzentration, wie vollkommen eingemeißelt in sein Gesicht. Mit einem nach vorne geschobenen Kinn stieß er einen tiefen, angestrengten, unterdrückten Schrei aus und die Adern und Sehnen an seinem Hals pulsierten, als er kraftstrotzend auf Raymond losging, diesen rückwärts trieb, zurück, zurück – mit einem mächtigen Schwertstreich. 

Ein Schwert ging scheppernd zu Boden und mit einem Triumphschrei hob Dirick sein eigenes Schwert in die Höhe, ließ dann seine Arme wieder sinken und stand schwer atmend da. Ein Siegergrinsen erhellte seine Gesichtszüge und unter dem Gejohle und Gegröle der Zuschauer wischte er sich die Haare aus den Augen. 

Als er sich schließlich umdrehte, um den Kreis von Männern, der sich um ihn drängte, anzusehen, machte Maris abrupt auf dem Absatz kehrt und eilte davon, bevor er bemerkte, wie sie ihn da anglotzte. Sie eilte zum Burghof hinaus, nahm sich kaum Zeit die Wachtposten dort zu grüßen und eilte ins Dorf. 

Obwohl sie sich den Tag über mit Krankenbesuchen und dem Erteilen von Ratschlägen an die tüchtigen Frauen des Dorfes recht beschäftigt hielt, kehrten Maris’ Gedanken immer wieder zu dem kraftvollen, muskulösen Ritter zurück. Sie hatte Zeit mit ihm verbracht, mit Neckereien und hatte mit ihm gesprochen, als wäre er ein Mann wie jeder andere oder ein gewöhnlicher Soldat ... aber jetzt ... jetzt konnte sie ihn nur noch als einen mächtigen Krieger sehen, hart und skrupellos, unnachgiebig ... übermächtig ... ein Mann. 

Ihr Atem wurde ganz schwach. Ein Krieger hatte sie geküsst, zärtlich geküsst. Es war unmöglich die Zärtlichkeit und Wärme jenes Kusses zu begreifen, nachdem sie gesehen hatte, welche Kraft ihm innewohnte. 

Maris fuhr sich mit den Fingern über die Lippen, erinnerte sich an die unerwartete Lust, die an jenem Tag in der klaren Kälte in ihr hochgestiegen war. Schon bei der Erinnerung daran zitterten ihre Finger. Und sie wusste, er würde sie wieder küssen, sollte die Gelegenheit sich ergeben. Diese Wahrheit war gestern überdeutlich an seinen Augen abzulesen gewesen, als sie sich hinsetzte, um mit ihm Schach zu spielen. Sie schluckte und erinnerte sich an die Hitze, die in diesen dicht bewimperten, silbrig-dunklen Augen gebrannt hatte. 

Eine weitere Wahrheit wurde ihr da offenbar, ganz plötzlich und mit einem lustvollen Schock. Sollte er versuchen sie noch einmal zu küssen, würde sie es ihm nicht verwehren. Maris erschauerte. 

Ein Geräusch hinter ihr brachte Maris’ Gedanken jäh wieder in die Gegenwart zurück, zurück in ihr Schlafgemach, wo sie sich zum abendlichen Mahl umkleidete. 

Verna stand neben ihr, hielt ihr ein Brusttuch entgegen und sah sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an. Als sie sich aufrappelte, nahm sie das hauchzarte Tuch und verließ dann ihr Zimmer. 

Während sie die dunkle Steintreppe hinuntereilte, steckte sie sich rasch ihr dichtes Haar unter das schimmernde Tuch und betrat die große Halle gerade noch rechtzeitig: das Abendessen begann gerade. Während sie sich ihren Weg durch die vielen Leibeigenen bahnte, die dort die Speisen servierten, und an den Reihen von Tischen und Bänken vorbei, sah Maris, dass zwei ihr unbekannte Männer bei ihren Eltern und Sir Dirick auf dem Podest saßen. Das Herz sprang ihr unversehens hoch und fast wäre sie mitten in der Halle stehen geblieben. War es möglich, dass der Mann, den ihr Vater für sie ausgesucht hatte, so bald hier eingetroffen war? 

Merle erhob sich, als Maris sich dem Tisch näherte. „Ah, endlich. Meine Tochter gesellt sich zu uns.“ 

„Ich bedaure so spät hier einzutreffen, Papa“, sagte sie, als sie einen ordentlichen Knicks machte. Obwohl sie nicht hochschaute, spürte sie, dass Diricks Blick da nicht auf ihr ruhte, dafür aber zugleich, wie die Aufmerksamkeit der Neuankömmlinge schwer auf ihr lastete. 

„Komm, mein Kleines, lass mich dich dem Lord Michael d’Arcy von Gladwythe vorstellen“, und dann fuhr er fort, „...und seinem Sohn, Sir Victor.“ 

Die Betonung, die Merle jenen letzten Worten verlieh, genügte, um ihren Verdacht zu bestätigen. Victor d’Arcy war der Mann, den er zu ihrem Verlobten auserkoren hatte. Die Klammer aus Unbehagen schnürte sich enger um ihre Brust und sie war kaum imstande den Klumpen in ihrem Hals herunterzuschlucken. 

Als sie ihren Vater kurz anblickte, noch bevor sie die Gäste begrüßte, sah sie in seinen Augen eine kleine Warnung schimmern, eine Aufforderung sich entsprechend zu benehmen. 

Maris verbarg ihre Angst und hielt ihre Hand erst Lord Michael zum Gruße und dann seinem Sohn hin. Der ältere d’Arcy schien ihre Finger länger als nötig festzuhalten, bevor er ihr einen Kuss in die Handfläche drückte. 

Victor umschloss ihre Hand mit festem Griff und seine Lippen strichen leicht innen über ihr Handgelenk. „Mylady, ich habe bereits die saftigsten Stücke des Kapaun für Euch bereitet und den Fisch von allen Gräten befreit“, sprach er zu ihr und klopfte sanft mit einer Hand auf den Platz zwischen ihm und seinem Vater. 

Bevor sie ihren Platz einnahm, beugte sich Maris vor, um den anderen Gast an der Tafel zu begrüßen. „Guten Abend, Sir Dirick“, sagte sie. 

„Mylady“, erwiderte er. Sein Blick war kühl und ausdruckslos, als wären sie Fremde und hätten zuvor noch nicht einmal miteinander gesprochen. 

Tödlich verletzt von diesem knappen Gruß sank Maris auf ihren Platz neben Victor nieder und zwang sich dazu, ihn anzulächeln. Sie stählte sich innerlich, fand ihren Verstand und ihren Mut wieder und begann pflichtschuldig die Rolle zu spielen, die man ihr zugedacht hatte. 

 

~*~

Edwin Baegot trat in die Halle im Wohnturm von Breakston ein, um seinen Freund und Herren, Bon de Savrille, dort brüllend vorzufinden. 

„Endlich lässt er sich dazu herab, uns mit seiner Gegenwart zu beglücken!“, grölte Bon betrunken, als man Edwin ankündigte. 

Der Mann fläzte sich auf einem Stuhl aus schwerem Eichenholz, der mit dem Thron von Heinrich dem Plantagenet konkurrieren könnte, würde jemand auf die Idee verfallen beide nebeneinander zu stellen. Seine gelbbraune Tunika, die mit roten Stickereien von Hirschen und Hengsten bedeckt war, war vollgesudelt und hing ihm schief an den breiten Schultern. Die Kreuzschnürbänder, die ihm die Beinkleider eng an den Unterschenkeln hätten festhalten sollen, waren nur noch ein loses Gewirr an seinen Knöcheln. 

„Seid gegrüßt, Mylord.“ Edwin verbeugte sich knapp und drehte sich dann zur Seite, um sich einen Becher Ale einzuschenken. 

„Welche Neuigkeiten bringt Ihr mir von meiner Braut?“, forderte Bon sofort und setzte sich ein wenig aufrechter in den Sessel. „Es ist schon zwei Wochen her, dass ich Euch auf Langumont zurückließ.“ 

„Mylord“, Edwin verstummte und schluckte. Die Neuigkeiten, die er brachte, würde nicht willkommen sein. Er schaute sich um, so dass er sehen konnte, was in Reichweite wäre und seinem Freund als Wurfgeschoss dienen könnte. 

Aber bevor er weitersprechen konnte, rief Bon, „meine Laute, Agnes, bring mir meine Laute!“ 

Eine junge Frau mit recht ansehnlichen Rundungen und einer langen, fast violetten Narbe in ihrem Gesicht eilte sich seinem Wunsch nachzukommen. Sie schaffte das Instrument herbei und kniete zu seinen Füßen nieder, wobei sie ihren Kopf wie ein kleines Kätzchen an seinem Knie rieb. 

„Ah, Dame meines Herzens...“, seufzte Bon, seine vernebelten Augen starrten in die Ferne. „Wie ich mich nach ihr verzehre! Edwin, meiner Treu, ich kann fürwahr nicht mehr lange warten, um endlich von ihren köstlichen Schenkeln zu kosten.“ Er schrummte eine kleine Weise auf der Laute, wobei sein Gesicht ein kummervolles Aussehen annahm. „Zuerst, zuerst waren es ihre Ländereien – meine Ländereien –, die ich wieder in meinen Beitz zu bringen trachtete. Aber jetzt“, ein weiteres Schrummen erklang zu seinen sehnsuchtsvollen Worten, „jetzt ist es mehr als bloßer Reichtum.“ 

Ein kurzes Schweigen machte sich breit, als Bon einen weiteren langen Zug schlürfend aus dem Weinpokal seine Kehle runterlaufen ließ, wobei er aber peinlich darauf achtete, nichts auf die wundervoll geschnitzte Laute zu verschütten. Mit einem rülpsenden Seufzen stellte er den Pokal beiseite. „Meine Begierde nach materiellen Gütern ist nunmehr ausgewachsen zu einer wahren Liebessehnsucht, Edwin“, erzählte ihm Bon überaus ernsthaft, Lippen und Zunge schwer vom Alkohol und der Blick trübe. „Ich kann ohne sie nicht leben...“ 

Edwin verdrehte die Augen und nahm noch einen Schluck Ale. Er konnte ebenso gut einfach weitertrinken und sich entspannen, denn die schlechten Neuigkeiten hielten sich auch noch bis morgen frisch. 

Obwohl, wenn man darüber nachdachte, konnte es schmerzhaft werden, einem Mann von der Statur Bon de Savrilles am morgigen Tag zu erzählen, dass Lady Maris einem von Merle Lareux auserwählten Mann versprochen werden sollte; nämlich gerade dann, wenn Bon sich von den Exzessen des heutigen Abends erholte. 

Edwin blickte hoch. Bei den Gebeinen Jesu, sein Herr war ein Weichling, wenn er zu voll des guten Weines war. Er würde dem Schlossvogt auftragen müssen, nichts mehr von diesem roten Wein aus Bordeaux zu importieren – es machte das Zusammenleben mit Bon unmöglich. Er war froh, dass das in England gebraute Ale seinem Dienstherren nicht in gleicher Weise zusetzten. 

„Hört Ihr, was ich sagte, Edwin?“ Bons Worte waren kaum zu verstehen und seine Hand schlug schlaff auf die Tischplatte auf. „Hört her, ich habe ein Lied für meine Liebste verfasst. Ich werde es ihr in unserer Hochzeitsnacht darbieten.“ 

So betrunken er auch war, Bons Finger glitten doch recht flink über die Saiten der Laute und die dabei erklingende Melodie war überraschend gefühlvoll. Er sang mit einer vorsichtigen Stimme – ein bisschen falsch – und erfand den Text zur Melodie offensichtlich aus dem Stehgreif: 

Oh, anmutigste aller Frauen, ich preise Eure Schönheit ... die Wolken sollten wegen Euch weinen, denn solch Anmut sehen sie im Himmel nicht ... Euer Antlitz, Eure Stimme machen, dass mein Herz mit Freude schwillt, und an unserem Hochzeitstage sollt Ihr meine ewigwährende Liebe empfangen...

„Bei ihr würde mir mehr als das Herz anschwellen“, murmelte Edwin in seinen Becher mit Ale. Glücklicherweise hörte Bon ihn nicht, denn er war schon mit der zweiten Strophe seines jammervollen Liedes befasst. 

Noch während Bon mit der Hymne an seine Zukünftige fortfuhr, krochen die Soldaten einer nach dem andern aus der Halle. Seine Verse wiederholten sich zusehends und waren nur übelste Sorte von Dichtkunst zu nennen, und Edwin war gezwungen, die mangelnde Musikalität seines Herren zu erdulden. Als er es einmal wagte, sich von seinem Sessel zu erheben, in der Hoffnung es den anderen Feiglingen gleichzutun, die ihn dort alleine zurückgelassen hatten, gebot ihm ein böser Blick von Bon sofort Einhalt. Edwin sank wieder auf ein Sitzpolster nieder und nachdem er seinen Becher wieder mit Ale aufgefüllt hatte, wappnete er sich für eine lange Nacht. 

Und einen noch längeren Morgen, wenn er bei Tagesanbruch seinem Herren die böse Kunde mitteilen musste. 

 

~*~

 

Merle schritt über die Zinnen der Festung Langumont. 

Sein Atem flog wie weißer Rauch aus dem stacheligen Haar um seinen Mund hervor und ein kalter Winterwind strich ihm leicht durch das lichte Haar. Die Soldaten, die an den nördlichen und südlichen Enden des Festungsdaches standen, hielten kleine Feuer am Brennen, an denen sie sich die Hände wärmten. Als ihr Herr an ihnen vorbeischritt, grüßte jeder ihn mit einem Nicken.

Eine schmale Mondsichel zerschnitt den nachtblauen Himmel und hunderte von Sternen funkelten dort oben. An der südöstlichen Ecke des Festungswalls hielt Merle inne und blickte in die Dunkelheit hinaus, über die unermesslichen Ländereien, die zu regieren sein glückliches Los war. Von diesem Aussichtspunkt erstreckten sie sich, so weit das Auge reichte. Ländereien, die er fast so sehr liebte wie seine Tochter. 

Er tat einen tiefen Atemzug, der so kalt war, dass er ihm tief unten in den Lungen schmerzte, dann atmete er lange aus. Irgendwo dort unten in der Dunkelheit lag der große Kanal, über den er einmal nach Frankreich übergesetzt hatte. Wenn er genau hinhörte, konnte er hören, wie die Wellen an den Klippen zerbrachen. Er hörte auf zu atmen, nur um das Geräusch zu vernehmen. 

Eine Bewegung in seinen Augenwinkeln zog Merles Aufmerksamkeit auf sich. Er drehte sich um und erblickte da Sir Dirick, der reichlich durcheinander um die Ecke gekommen war, um dann wie angewurzelt stehen zu bleiben, als er seinen Gastgeber erblickte. 

„Mylord“, sagte Dirick, offensichtlich unangenehm berührt. 

„Nein, Dirick, Ihr stört mich nicht. Kommt.“ Merle lächelte plötzlich, als ihm ein Gedanken kam. „Außer Ihr seid es, der nicht gestört werden möchte.“ 

„Keineswegs, Mylord. Es ist nur, dass ich nicht erwartete, Euch hier anzutreffen. Ich ... wünschte ... dachte mir, ich wäre alleine. Eure Gesellschaft ist mir willkommen.“ 

Merle lud ihn ein näher zu treten und zeigte mit einer Handbewegung in die Dunkelheit. „Seht her, Dirick ... seht hier all das Glück und den Segen, die mir zuteil wurden.“ 

Dirick blickte hinaus in die Dunkelheit, obwohl Merle wusste, dass er in dieser dunklen, sternenübersäten Nacht nicht weit blicken konnte. „Ihr seid all dieser Dinge würdig, Mylord“, sagte er leise. 

„Lauscht und Ihr werdet die See hören können ... sie ist der Quell all des Wohlstands, der mir mitgegeben wurde. Der Vater meines Großvaters war ein sächsischer Edelmann, verlobt mit der Tochter eines normannischen Lords, hoch in der Gunst von Wilhelm dem Eroberer. Das Land meines Urgroßvaters hier in der Nähe der See war ein überaus wichtiges Lehen. Seit dem Tage, an dem mein Urgroßvater sich mit Lord Humphreys Tochter Margaret vermählte, haben diese Festung und dieses Lehen dem König von England ohne Bedauern und ohne Zaudern gedient – selbst als Stephan von Blois regierte und dieses Land zerstörte.“ 

Merle verstummte für einen Augenblick, er war sich bewusst, dass sich seine nachdenkliche Stimmung und seine grüblerischen Gedanken nun auf seinen Begleiter übertragen hatten. Da stieß er ein kurzes, bitteres Lachen aus. „Vergebt mir Dirick, aber dieser Ernst rührt her von dem Gedanken, dass meine über alles geliebte Maris bald einem anderen Mann angehören wird ... und dass diese Länder dereinst von einem anderen regiert werden.“ Er holte tief Luft und schüttelte diese Melancholie von sich ab. Seine Entscheidung war gut. Es war das Beste, was er sich für Maris nur wünschen konnte. 

Und doch fühlte er sich dazu gedrängt, diesen Mann, den er jetzt kennengelernt hatte und der offensichtlich ein Vertrauter des Königs war, zu fragen, „was denkt Ihr über meine Gäste?“ 

„Sie schienen mir angenehme Gesellschaft bei Tisch ... mit viel neuer Kunde ... selbstbewusst und tapfer.“ In dem dämmrigen Licht sah Merle, wie sich die Hände seines Begleiters an der rauen, halbhohen Mauer festhielten. 

„Und doch scheint Ihr nicht sehr überzeugt“, fragte er noch einmal nach. Dann schmunzelte er kurz. „Hat sich meine Tochter bei Euch beschwert?“ 

„Mylady scheint der Idee der Ehe nicht so recht hold zu sein“, gab Dirick da trocken Antwort. 

„Und Ihr als der stets tapfere Ritter, der Ihr seid, wünscht nicht, eine Dame in Bedrängnis zu sehen.“ Merle grinste, wurde dann aber ernst. Er war sich sehr wohl der Art und Weise bewusst, wie Diricks Augen oft auf seiner Tochter zu ruhen kamen; und auch der Art und Weise, wie sie es zu vermeiden schien, ihn anzuschauen ... außer der Mann blickte gerade in die andere Richtung. „So ist es. Maris versteht sich nur zu gut darauf, selbst ihren Vater mit ihren traurigen Geschichten zu manipulieren. Es ist das Beste für sie, davon bin ich überzeugt, Dirick. Die Welt kann ein recht unfreundlicher Ort sein und ich werde nicht zulassen, dass sie allein und verwundbar zurückbleibt, sollte mir etwas zustoßen.“ Bei den letzten Worten war seine Stimme leiser geworden. 

„Vielleicht begreift sie meine Entscheidung nicht“, fuhr Merle fort, „aber ich stehe dazu. Ich stehe tief in der Schuld von Michael d’Arcy ... denn es ist ihm zu verdanken, dass ich auch dieses Mal zu meinen Lieben nach Hause zurückkehren konnte. Ich war schwer verwundet und Michael hat mir das Leben gerettet. Für dieses Glück werde ich seinem Sohn das größte Geschenk machen, dessen ich fähig bin.“ 

Dirick nickte zustimmend, sagte jedoch nichts. 

So standen die beiden Männer eine Weile schweigend in der Dunkelheit. Ein kalter, frischer Wind fuhr ihnen durch das Haar und die Umhänge, die sie um ihre Schultern geschlungen hatten, und jeder hing seinen Gedanken nach und es war, als wäre der andere gar nicht da. 

Die Welt war still, bis auf diesen Wind, und als er von unten her Stimmen hörte, schaute Dirick hinab in den Burghof. Er stand nahe am Rand der Zinnen und schaute über die hüfthohe Mauer nach unten. 

Stimmen drifteten zu ihm nach oben und er schaute zu, wie zwei Menschen durch den Schnee zum Stall stapften. Selbst in dem schlechten Licht erkannte Dirick den leuchtend blauen Umhang. Es war Maris und bei ihr war der silbrig blonde Victor, dessen Haar wie ein Leuchtfeuer im Mondlicht glänzte. Die zwei verschwanden in den Ställen und Dirick wandte sich rasch von dem Anblick ab, um festzustellen, dass Merle ihn genau beobachtete. 

„Mylord, ich spüre, wie mich mein Lager zur Nacht ruft“, sagte Dirick. Er machte eine kleine Verbeugung – denn auch wenn andere Dinge ihm im Kopf herumspukten, vergaß er doch nie seine höfische Erziehung. „Ich bitte darum, mich jetzt zurückziehen zu dürfen, Lord Merle, und dann auch am morgigen Tag Abschied zu nehmen. Ich werde in der Frühe nach Breakston aufbrechen. Ich danke Euch hiermit schon für Eure gütige Gastfreundschaft und für all die Unterstützung, die Ihr meiner Suche nach dem Mörder meines Vaters angedeihen ließt. Aber ich habe hier schon zu viel Zeit verloren, Eure Gastfreundschaft und ein Lager in Eurem Hause zu lange genossen.“ 

„Es schmerzt mich, Euch gehen zu sehen“, sagte Lord Merle langsam. 

„Ich muss weiterziehen“, sagte Dirick, als wolle er sich selbst von der Notwendigkeit aufzubrechen überzeugen. Er hatte seine Aufgabe weiterzuziehen, um Bon de Savrille zu finden, lange genug hinausgezögert, nur um weiterhin die Gesellschaft der wunderschönen Lady Maris zu haben ... und – fürwahr – um in der Nähe eines Mannes zu sein, der ihn an seinen eigenen Vater erinnerte. 

Trauer überkam ihn da, er schob diese Verärgerung beiseite, die er angesichts Lord Victors empfand, die zum Teil vielleicht auch Selbstmitleid war. Dirick durfte eine Frau wie Maris nicht begehren und er hatte das gewusst, seit er alt genug gewesen war zu begreifen, was eine Frau ist. Es war eine harte Wahrheit, aber eine mit der er schon ewig lebte. Nichts daran hatte sich geändert, außer dass ihm das Herz weich geworden war, angesichts dessen, was er nie besitzen könnte. Aber sobald sie ihm aus den Augen geriet, würde sie ihm auch aus dem Sinn sein. 

Daher musste er jetzt wieder zu seinen Pflichten zurückkehren und seine Kräfte von einer Frau wegdirigieren, die außerhalb seiner Reichweite lag, hin zu der Suche nach einem Mann, der ihm den Vater geraubt hatte. Wie töricht es doch von ihm gewesen war, hier zwei Wochen zu vergeuden, in denen er der Spur der Kreatur hätte folgen können, die solches Grauen verbrochen hatte. 

Diricks Hand schloss sich fest um den zerbrochenen Dolch tief unten in der Tasche seiner Tunika. Er drückte fest auf den Griff und gestattete der Wut auf den Mörder seines Vaters wieder an die Oberfläche zu kommen ... wo sie sein Selbstmitleid und seine Trauer verdrängte. 

„Ihr wünscht nicht meiner Lady Allegra ... oder Maris Adieu zu sagen?“, fragte Merle. 

„Nein. Ich habe die Gesellschaft der Damen genossen, aber ich wünsche morgen beizeiten aufzubrechen.“ Es wäre das Beste, wenn er gehen würde, ohne sie wiederzusehen. 

„Dann lebt wohl, mein Sohn“, sagte Merle. Er schlug mit einer Hand auf die Schulter des jüngeren Mannes. Nur einen kurzen Moment lang schien es, als wäre da eine ungewöhnliche Verbindung zwischen ihnen. „Meine besten Wünsche begleiten Euch auf Eurer Suche und wenn ich Euch irgendwie behilflich sein kann, lasst es mich wissen. Wenn mir ein Gedanke kommt, wie ich Euch helfen könnte, werde ich nach Euch schicken lassen.“ 

„Ich danke Euch.“ Dirick fühlte sich unerklärlicherweise traurig bei diesem Abschied von Lord Merle. 

Es war ein nur winziger Schatten von der Trauer, die er empfunden hatte, als er seinen Vater verlor ... und doch ... auch dies hier war Trauer. 

 

~*~

Am Himmel war noch nicht das leiseste Schimmern von Licht zu sehen, als Dirick sich von seiner Lagerstatt erhob. Er blieb einen Augenblick stehen, wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, dann lief er durch die Reihen der anderen, dort noch schlafenden Körper in dem Zimmer, in dem man die übrigen fahrenden Ritter beherbergte. 

Die wenigen Besitztümer, die er bei sich führte – darunter auch der zerbrochene Dolch –, waren gut eingewickelt in einem Lederbeutel verstaut. Er verlagerte das Gewicht seines Gepäcks und zog sich den mit Pelz gefütterten Umhang über die Schultern. Die Ränder des Umhangs raschelten in den süß duftenden Kräutern und dem Stroh, die den Boden der großen Halle bedeckten, als er mit seinen Stiefeln durch sie hindurch fuhr. Alles war still – selbst der Junge, der sich des Nachts um das Feuer kümmerte, schlummerte nun. Nur eine streunende Katze von der Farbe junger Karotten schlich sich durch die anderen schnarchenden Leiber, zweifellos in der Hoffnung eine unvorsichtige Maus in dem raschelnden Bodenbelag zu finden. 

Dirick verspürte einen seltsamen Anflug von Traurigkeit, als er zum letzten Mal die große Halle verließ und sich unter dem tiefblauen, sternenübersäten Himmel wiederfand. Er hatte seinen Aufenthalt hier auf Langumont genossen und die Traurigkeit, dieses Gefühl von Unglücklichsein bei seinem Weggang jetzt, bohrte an ihm wie die ärgerlichen Schmerzen in einem Zahn. Vielleicht, so dachte er bei sich, als er durch den Pulverschnee Richtung Stallungen stapfte, war es, weil Lord Merle die engste Verbindung zu sein schien, die er zu seinem Vater und dessen Mörder hatte. 

Das Schnauben der Pferde begrüßte ihn, als er die Tür in den Stall hinein aufschwingen ließ. Nick stand hier vorne in der Nähe und er wieherte leise, als er den Geruch seines Herrn wahrnahm. „Ja, mein Junge, es ist Zeit, dass wir von hier aufbrechen“ sagte er, als er sein Schlachtross aus der Box führte. Nick tänzelte schon aufgeregt in dem beengten Raum dort, offensichtlich begierig auf und davon zu sein, und Dirick streichelte ihm die Nase zur Beruhigung. „Ich werde froh sein, diesen Ort hier hinter mir zu lassen“, sprach er laut. 

Er hörte das Geräusch hinter sich und wirbelte herum, die Hand schon am Griff seines Schwertes in dem Moment, als ihre Worte an sein Ohr drangen. „Dann sind auch wir froh, Euch gehen zu sehen.“ Dort stand Maris, in der Hand eine Talgkerze, und sie sah in dem leuchtenden Schimmern der Lampe wie eine überirdische Erscheinung aus. 

Die Verärgerung in ihren Augen war jedoch deutlich weniger mit dem Charakter eines himmlischen Wesens in Einklang zu bringen. Ihr Kopf war von einem Tuch bedeckt gewesen, aber als der wollene Schleier verrutschte, zeigte sich ihr wundervolles Haar, das im Kerzenlicht erglühte. Ihr kleines Kinn war verärgert nach vorne geschoben und ihre vollen Lippen waren nur ein verkniffener, schmaler Strich. Der blaue Umhang, der sie von Kopf bis Fuß einhüllte, schleifte hinter ihr her durch das Stroh auf dem Stallboden. 

Dirick erholte sich von seinem Schrecken und ließ die Hand vom Schwert wegfallen, wo sie kurz geruht hatte. „Maris – Mylady“, korrigierte er sich schnell, „was tut Ihr hier?“ 

Das Runzeln auf ihrer Stirn ließ sich nicht glätten. „Papa erzählte mir, dass Ihr die Absicht hattet heute sehr zeitig aufzubrechen, und ich wollte–ich dachte, Ihr dürft nicht gehen, ohne etwas für Eure Reise mitzunehmen. Aber ich sehe, dass meine Sorge hier nicht willkommen ist.“ Er bemerkte da, dass sie unter dem etwas zurückgeschlagenen Umhang ein Päckchen hochhielt. „Ihr seid derart glücklich Langumont hinter Euch zu lassen, dass Ihr sicherlich nicht wünscht irgendetwas mitzunehmen, was Euch daran erinnern würde.“ 

Sie wandte sich zum Gehen, ihr Rücken so aufrecht und gerade wie ein Schwert, die Schultern nach hinten gezogen. 

„Nicht doch, Mylady.“ Verärgert darüber, dass er dabei erwischt worden war, wie er einen solchen Blödsinn mit seinem Pferd redete, setzte Dirick sich rasch in Bewegung und streckte die Hand nach ihrem Arm aus. „Nein, es ist nicht, dass ich mich von Langumont fortwünsche ... glaubt mir.“ 

Als er an ihrem Arm zog, fuhr sie zurück, ihre Augen waren in dem flackernden Licht nur noch hartes, ausdruckloses Braun. „Ich bin nicht schwer von Gehör, Sir Dirick.“ 

Er drehte sie langsam zu sich, ergriff jetzt beide Schultern von ihr, so dass sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. So nahe, dass der Saum ihres Umhangs an seine Stiefel streifte. Sie fühlte sich klein und weich an unter seinen Händen. „Und so habt Ihr auch den Unsinn gehört, den ich zu Nick sagte. Ich nehme an, es geschieht mir Recht – denn habe ich nicht Euren privaten Gesprächen mit Hickory gelauscht?“ Sein Lächeln fühlte sich gekünstelt an. „Ich muss aufbrechen, obwohl dies nicht mein Wunsch ist, und das ist der Grund für meine Worte von vorhin.“ 

Sie blickte zu ihm hoch, als wolle sie versuchen zu ergründen, ob er hier nur galant sein wollte oder ob seine Worte tatsächlich der Wahrheit entsprachen. „Ich konnte nicht begreifen, warum Ihr ohne ein Abschiedswort gehen wolltet...“ 

„Ich habe Eurem Vater Adieu gesagt“, erklärte er ihr und ließ ihre Schultern los. Sie standen viel zu nahe beieinander. Der Geruch von Zitrone und Rosmarin von ihrem Haar verfing sich in seiner Nase, vermischt mit dem weiblichen Geruch von ihr. Dirick schloss für einen Moment die Augen und zwang sich dazu, einen Schritt nach hinten zu tun. Er ging wieder in die Box und ergriff das Halfter von Nick. „Aber ich muss jetzt gehen, Mylady. Ich habe zu lange – habe die Gastfreundschaft Eures Vaters viel zu lange in Anspruch genommen.“ 

Maris steckte die Kerze in ein Behältnis, das an der Stallwand befestigt war, so dass es ihnen den Weg weisen würde, und trat auf ihn zu, wobei sie ihm unabsichtlich den Weg aus der Box versperrte. Sie bot ihm erneut das in Leder eingewickelte Päckchen dar, den Umhang zurückgeschlagen. „Ich habe Euch Käse und Brot gebracht und da ist auch ein wenig gepökeltes Hirschfleisch. Ich ... wusste nicht, wie lange Eure Reise dauern würde.“ 

Er nahm das Päckchen entgegen, ihre Anteilnahme wärmte ihn innerlich und ihre Gegenwart war ihm eine Versuchung. „Ich danke Euch, Mylady. Ich konnte noch nicht mein morgendliches Vesper zu mir nehmen und dies hier wird eine gute Mahlzeit für unterwegs sein.“ 

„Wohin geht Ihr?“, fragte sie. 

„Ich bin ein fahrender Ritter, Mylady, und ich gehe dorthin, wo ich Beschäftigung finde“, sagte er. „Ich weiß nicht, wo mein nächstes Lager sich befinden wird.“ 

Maris runzelte die Stirn, eine liebreizende Falte bildete sich um ihre Nase. „Warum verlasst Ihr uns denn dann? Papa hat Beschäftigung für Euch. Ich bin mir sicher, er würde Euch so lange Beschäftigung geben, wie Ihr es wünscht.“ 

Ein jäher Anflug von Wut verdrehte ihm da heiß die Eingeweide. Fürwahr, sie sah in ihm nur einen Anlass zur Mildtätigkeit. Ein Mann, der unfähig war seinen eigenen Weg zu finden. 

Ungeachtet der Tatsache, dass er sie soeben in dem Glauben gelassen hatte, alles wäre genau so, verbitterte es ihn, dass sie so wenig von ihm hielt. „Nein.“ Er wandte ihr den Rücken zu, ließ sich viel Zeit mit dem Anlegen der Zügel und des Mundstücks und hoffte sie würde gehen, bevor er sich erneut eine Blöße gab. 

Oder bevor er seinen niederen Gelüsten und der Versuchung nachgab, die sie darstellte. 

„Sir Dirick, ich schwöre, Euch kommt nur wenig Sinnvolles über die Lippen. Ihr sucht Beschäftigung und hier gibt es genug davon, aber Ihr müsst nichtsdestotrotz aufbrechen. Ich schwöre, es wird gut sein, Euch fortgehen zu sehen!“ 

„So ist es“, sagte er, als er sich umdrehte, seine Hände umklammerten das Zaumzeug, „ich bin sicher, Ihr werdet meine Gesellschaft kaum vermissen, jetzt da Euer Verlobter eingetroffen ist.“ Kaum hatte er diese bitteren Worte ausgesprochen, wünschte Dirick, er hätte sich die Zunge abgeschnitten. Töricht. 

„Er ist nicht mein Verlobter“, sagte sie kurz angebunden, ihr sonst so lauter Widerspruchsgeist versickerte da allerdings etwas. 

„Er wird es schon bald sein und das wisst Ihr nur zu gut. Wenn es soweit ist, bin ich mir ziemlich sicher, dass Victor mit Vergnügen hinter Euch her rennt, auf Euren Wanderungen durch die Wälder, beim Graben nach Beeren im Schnee und gerne zuschaut, wie Ihr Euch um die Kranken kümmert.“ Er wusste, er sollte innehalten, aber die Worte strömten weiter aus ihm heraus. „Ich habe beobachtet, wie Ihr gestern Nacht mit ihm hier hinein gegangen seid. Euer Vater und ich sahen es von oben aus. Vielleicht habt Ihr nicht bemerkt, dass man Euch beobachtet hat?“ 

Der Gesichtsausdruck von Maris veränderte sich, aber er vermochte ihre Gedanken nicht zu erraten. 

„So ist es. Er wollte Hickory kennen lernen.“ 

Dirick schob eine Augenbraue steil nach oben und schaffte es noch, ironisch auszusehen, als eine Flut von unerwünschten Bildern auf ihn einstürmte. Er wusste nur zu gut, wie gemütlich die Wärme in einem Stall sein konnte, wenn man die Arme voll mit der Wärme einer Frau hatte. Heu mochte an der nackten Haut etwas kratzen, aber es federte auch und war warm. „Und gab es noch etwas anderes, was er kennen lernen wollte? Vielleicht wollte er von den Lippen der Frau kosten, die er zum Weib nehmen wird?“ 

„Vielleicht wollte er das“, erwiderte sie und hob ihr Kinn scharf an. 

„Törichtes Mädchen. Was, wenn er mehr als nur das kosten wollte? Habt Ihr nicht daran gedacht, eine Anstandsdame mitzunehmen? Es gehört sich nicht für eine Dame, alleine Verabredungen mit einem Mann zu haben, und das obendrein auch noch in einem Stall. Ganz besonders nicht, wenn sie ihm noch nicht versprochen ist.“ 

„Aber hier stehe ich nun mit Euch. Alleine in einem Stall, ohne eine Anstandsdame ... und meine Tugend war noch nie so sicher.“ 

Seine Willenskraft war jetzt am Ende und er ließ das Zaumzeug fahren und packte sie, diesmal etwas gröber als zuvor. „Ich würde nicht sagen, dass Eure Tugend bei mir sicher ist, meine teure Dame“, sagte er, als er sie ganz an sich zog. „Um genau zu sein, Maris, würde ich eigentlich sagen, dass Ihr Euch auf sehr dünnem Eis bewegt.“ 

Er blickte auf sie hinab und sah keine Furcht in ihren Augen, nur Überraschung, und er spürte, wie ihr warmer Atem sein Gesicht berührte. Mit seinen Händen auf ihren Schultern schob er sie langsam rückwärts, bis sie die Wand hinter sich spürte, und er hielt sie dort gefangen, keilte sie dort mit seinen muskulösen Beinen ein. 

Maris’ Augen schlossen sich, als seine wettergegerbten Hände an ihrem Hals entlang hochstrichen, zärtlich, bis zu diesem widerspenstigen Kinn. Sein Daumen fuhr ihr über die Lippen und ihr Herz hämmerte wie verrückt unter seinen Fingern, pulsierte an ihrem langen Hals, so dass er ihre Unruhe fühlen konnte. Er hob ihre Haare von hinten an ihrem Nacken nach vorne hoch, zog die süß duftenden Locken vorsichtig aus der Verschnürung ihres Umhangs. Ihr Haar war warm, wie Seide, und es schlängelte sich wie Efeuranken um seine Handgelenke und über ihre Arme. 

Dirick atmete ganz langsam aus, als er mit seinen Händen durch ihr Haar fuhr. Sie hatte keine Angst, fiel ihm auf, aber wenn sie bei Sinnen wäre, hätte sie genau das. Er musste an sich halten, ihr nicht die Kleider vom Leib zu reißen und sie auf das Bett aus Heu gleich hier im Raum neben ihnen zu werfen. 

Als seine Hände an ihren Schultern wieder zur Ruhe kamen und er den Druck seiner Schenkel etwas lockerte, öffnete sie die Augen, um zu ihm hochzuschauen. „Maris“, sprach er leise, als ihre Blicke sich trafen. Er würde sie nie wieder sehen und noch war sie einem anderen nicht versprochen. Es war ein Moment des Wahnsinns, aber keine Sünde. „Ich kann nicht von hier fortgehen, ohne Euch noch ein letztes Mal zu küssen.“ 

Er wartete eine Antwort gar nicht ab, sondern presste sie gegen die Wand, sein Mund fand den ihren unter sich. 

Als sein Mund sich um ihren schloss, spürte Maris die gleiche Welle von Lust über ihr zusammenbrechen wie an jenem Tag in Wald. Ihre Lippen öffneten sich unter seinen und plötzlich war seine Zunge in ihrem Mund, feucht und drängend, erkundete sie und schmeckte sie. Sie war ebenso hungrig von ihm zu kosten und antwortete ihm gierig, schmeckte den leichten Geschmack von Minze seines Mundes, glitt mit ihren Lippen über seine weichen, feuchten Lippen. 

Dirick löste widerstrebend seine Lippen von ihrem Mund, küsste sie an den Mundwinkeln, knabberte an ihren Lippen und ihrem Kinn. Sie seufzte und ihre Arme krochen langsam hoch, legten sich um seinen Hals, als sie sich zu ihm durchbog. Sie empfand ein Gefühl wie ein Fallen im Inneren, an ihrem ganzen Körper hinab, und auch die Antwort von ihm, ein Schaudern, das ihn ergriff, die Hitze, die sich in sie einbrannte, wo immer sie sich gegeneinander pressten. Eilige Finger lösten fieberhaft die Umhangschnalle an ihrem Hals, als er ihren Mund wieder mit seinem schloss, wie um den Protestschrei zu ersticken, den sie ausstoßen könnte. Der pelzgefütterte Umhang fiel in einem Haufen zu Boden, um ihre Füße und auch seine Hände strichen abwärts, zärtlich an beiden Seiten ihres Körpers entlang, kamen auf dem Schwung ihrer Hüften zu ruhen. 

Maris war sich kaum bewusst, dass man ihr den Umhang abgestreift hatte, aber der Druck von seinen warmen Händen, als sie seitlich an ihren Brüsten langstrichen, machte, dass sie laut aufkeuchend Luft holte. Ihre Brustwarzen stachen hart nach vorne und sie fühlte eine Schwere, die sich in ihren Unterleib senkte, ein angenehmes, drängendes Zwacken. Sie vergrub die Hände in seinem Haar, überrumpelt, wie seidig es war. Er hob ihre Hüften gegen seine hoch und sie war überrascht, da eine harte Länge zu spüren, die sich gegen sie drängte, als die raue Wand hinter ihr sie am Rücken grob streifte. Die Lust schwoll an und ein winziges Stöhnen brach hinten aus ihrer Kehle hervor. Sie lehnte den Kopf zurück, bot seinem warmen Mund und seiner feuchten Zunge ihren Hals dar. Diricks Hände streichelten über die Kurven, die unter dem weiten Umhang verborgen gewesen waren, und er hielt die sanfte Wölbung ihrer Brüste sowie die volle Rundung ihrer Hüften in Händen. 

Plötzlich wurde ihm wieder klar, wo er war und was er tat, und er riss sich los, was sie fast zu Boden schleuderte. „Hölle nochmal!“, stöhnte er, als er auf seine zitternden Hände starrte. Sein Atem klang rau und abgehackt, als ob er gerade auf dem Schlachtfeld einen Mann getötet hätte, und sein Herz hämmerte ihm schmerzhaft in der Brust, als ihm aufging, wie wenig gefehlt hätte, dass er sie sich hier sofort genommen hätte. 

Auch Maris hatte sich gefangen, als wäre auch ihr soeben das eigene Verhalten bewusst geworden, und sie bückte sich, um sich rasch ihren Umhang wieder zu greifen. 

Dirick fand die Stimme wieder und so heiser die auch klang, er versuchte eine Entschuldigung zustande zu bringen, „Mylady, ich weiß nicht–“ 

„Genug, Mylord“, unterbrach sie ihn mit tonloser Stimme. „Haben wir dieses Spiel nicht bereits gespielt?“ 

Er fuhr sich mit der Hand durch das zerwühlte Haar und richtete sich auf, versuchte zumindest den Anschein von innerer Haltung und Ordnung zu erwecken. Er konnte nicht begreifen, warum er sich vor dieser Frau immer wie ein dummer Narr verhielt. „Ja, das haben wir – aber das ändert nichts an der Tatsache, dass mein Benehmen unentschuldbar ist. Vielleicht ist es das Beste, wenn ich meiner Wege ziehe.“ 

Sie blickte zu ihm hoch, ein nicht zu ergründendes Gefühl flackerte kurz in ihren goldgrünen Augen auf. „Ja. Das wird das Beste sein.“ 

Er ging an ihr vorbei, wobei er aus Versehen eine Strähne ihres Haares streifte, die an einem Nagel in der Wand hängen blieb, und er hielt inne, um die Locke zu befreien. Seine Finger glitten an der glänzenden, braunen Länge derselben entlang und er führte es für einen sanften Kuss an seine Lippen. 

Dann drehte er sich weg, verärgert über diese Gefühlsduselei und legte dem vernachlässigten Nick das Zaumzeug an. Sie sah ihm schweigend zu. Zu spüren, wie ihr Blick auf ihm ruhte, machte seine Hände unbeholfen jenseits aller Vorstellungskraft, was ihn zur Eile antrieb, was wiederum zu noch mehr Verknotungen führte. Endlich führte er das Schlachtross aus dem Stall, war sich bewusst, dass sie ihm folgte und ihn dabei – ganz ungewohnt – nur schweigend betrachtete. 

Draußen, wo der Atem von beiden kleine weiße Wölkchen unter dem morgendlichen Sternenlicht malte, schwang er sich hoch in den Sattel von Nick und schaute zu Maris hinab. Sie hatte ihr Haar wieder bedeckt und den Schleier wieder eng um ihren Hals geschlungen. Dirick hielt noch kurz die Zügel fest und nickte ihr ein Lebewohl zu. 

„Geht mit Gott, Dirick“, flüsterte sie. 

„Gehabt auch Ihr Euch wohl, Mylady. Ich bin sicher, dass Victor d’Arcy Euch ein guter Ehemann sein wird.“ Diese Worte presste er sich aus dem bitteren Mund hervor, zwang sie aber wahrhaftig zu klingen. „Euer Vater will nur Euer Bestes. Das wisst Ihr, Mylady.“ 

„Ja.“ 

„Möge Gott Euch beschützen“, sagte er und wendete Nick, um davonzureiten. „Adieu, Mylady.“ 

Und dann war er fort, gab Nick die Zügel, um seine aufgestaute Kraft zu entfesseln, spürte noch den goldgrünen Blick, der ihm in die Dunkelheit folgte.