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KAPITEL SECHS 

 

Bei Tisch vermied Maris es an dem Abend, Dirick anzublicken. 

Er saß auf der anderen Seite von Merle, wo er sich einen Holzteller mit Lady Allegra teilte. Die beiden Männer, die da nebeneinander saßen, waren in eine Unterhaltung über die neueste Kunde aus Westminster vertieft – der Aufruf zu den Waffen vom König, für seinen Krieg Geoffrey von Anjou zu unterwerfen. 

Obwohl er recht weit weg von ihr saß und sie ihn auch nur sehen konnte, wenn sie sich um ihren Vater herum beugte, war Maris sich der Gegenwart von Dirick so bewusst, als wäre er hier direkt neben ihr und würde sie berühren. Seine Hände, die jetzt Allegra und sich selbst Speisen auftischten, erschienen und verschwanden immer wieder aus ihrem Blickfeld und Maris erwischte sich dabei, wie sie diese Hände beobachtete, ihre tiefe Bräune bemerkte, die kurzen, sauberen Fingernägel, das Spiel der Muskeln und Sehnen und den Anblick von dunklem Körperhaar hie und da, die Art und Weise, wie der Ärmel seiner Tunika zurückfiel, um ein schmales, gebräuntes Handgelenk freizugeben. 

Sie hörte ihn lachen – ein tiefes, männliches Lachen, das ihr seine Gegenwart nur noch bewusster machte. Seine Konversation war inmitten all des Lärms vom Abendessen gut zu hören, sammelte sich in ihrem Bewusstsein, so nahe bei ihr, als würde er ihr ins Ohr flüstern. Die Tonlage seiner Stimme, die sich hob und wieder absenkte, wenn er Allegra in stetem Wechsel Komplimente machte und bezauberte, und dann wiederum mit Merle diskutierte und stritt, war beruhigend und aufregend und verfolgte sie. 

Ein einfacher Kuss ... nur ein Kuss machte, dass sie sich seiner Gegenwart so gewahr war, als wäre es sie selbst. 

Ihre Finger zitterten selbst jetzt noch, wenn sie sich an die Hitze zurückerinnerte, den jähen Ansturm von Lust, der sie überrumpelt und ihren Körper zum Leben erweckt hatte. Warme, fordernde Lippen und die harte Kraft seines Körpers hatten ausgereicht, um ihr den Atem zu rauben und heißes Verlangen wie ein brodelndes Feuer in ihrem tiefsten Inneren zu entfachen. 

Selbst jetzt noch spürte sie, wie Begehren sich regte, eine flatternde Erregung in ihrer Magengrube. 

Die Erinnerung an seine Lippen brannte ihr immer noch auf dem Mund, als sie an ihrem Wein nippte. Sie wollte wissen, ob der Kuss, den sie beide sich gegeben hatten, wiederholt werden könnte, ob es die gleiche unbändige Energie freisetzen würde, geschähe es noch einmal. 

Verstohlen warf sie einen Blick in seine Richtung und sah, wie er sich schäkernd zu ihrer Mutter hin beugte, mit einem wissenden Lächeln um die Mundwinkel, und da ging ihr plötzlich auf, wie ein eiskalter Schock, dass er sehr wahrscheinlich überaus geübt war im Küssen von Jungfern im Wald. Diese Erkenntnis senkte sich wie ein harter Klumpen Brot in ihren Magen und sie drehte sich weg, um von ihrem Weinkelch zu trinken. 

Sie hatte es sich selbst zuzuschreiben, warf sie sich vor, denn sie hatte ihn küssen wollen, und hatte gewusst, dass er sie küssen wollte, als er ihr geholfen hatte das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Sie hatte schon lange eine Gelegenheit gesucht, um herauszufinden, ob das Küssen jetzt, da sie älter war, besser schmeckte als damals, als der Schildknappe ihres Vaters, Raymond de Vermille, ihr vor Jahren einen Kuss stibitzt hatte. 

Es schmeckte in der Tat besser. 

„Meine Tochter, fehlt dir etwas?“, fragte ihr Vater auf einmal, als er seine Aufmerksamkeit ihr zuwandte und sie damit aus ihren Gedanken hochschreckte. „Du bist so still wie eine Kirchenmaus heute Abend.“ 

„Nein, Papa“, sie schenkte ihm ein zärtliches Lächeln. „Es war ein langer, elender Tag, denn ich vermochte nicht die Frau des Küfers zu retten.“ 

Sein Gesicht wurde ernst. „Ah, ich weiß, ich weiß. Vater Abrahams Diener ließ mir Nachricht zukommen.“ 

Maris schob die Traurigkeit weg, die ihr jetzt Tränen in die Augen zu treiben drohte, und erwiderte, „es gab nichts, was ich hätte tun können.“ 

Er strich mit einer tröstenden Hand über ihren Arm. „Ich weiß. Du hast alles getan, was du konntest, mein Kleines.“ 

„Sie hatten einen Blutsauger geholt!“, sagte sie und an die Stelle ihrer Trauer trat Wut. „Das war der Grund für alles und die Menschen im Dorf wollen nicht hören.“ 

Er schüttelte den Kopf. „Maris, ich weiß, dass Venny dir ein guter Lehrer war und dass er viele Dinge wusste, aber es gibt andere – Blutsauger –, die sich auch in der Medizin auskennen. Sie tun nicht nur Schlechtes.“ 

„Der von ihnen, der die Dinge nicht verschlechtert, der muss mir erst noch unterkommen“, sprach sie trotzig zu ihm. 

Ihr Vater schnalzte leise mit der Zunge, denn dieses Gespräch hatte er schon oft mit ihr geführt. Da er genau wusste, dass keiner von beiden hier nachgeben würde, sagte er nur, „es tut mir Leid, dass sie gestorben ist. Ich werde schon morgen dem Küfer drei Hühner schicken lassen, und wenn ich wieder im Dorf Gerichtstag halte, werde ich ihn besuchen. Gibt die Tochter des Schmieds den Kleinen immer noch die Brust?“ 

„Ja. Sie wird dort tüchtige Arbeit leisten und womöglich wird der Küfer sie zur Frau nehmen. Sie hat schon das rechte Alter und hat vor wenigen Monden ihren eigenen Ehemann wegen dem Fieber damals verloren.“ Sie warf Dirick nur ganz kurz einen Blick zu, der jetzt voll der Schmeicheleien über die schmale Hand ihrer Mutter war, und schaute dann wieder zu ihrem Vater zurück. „Ich habe Euch ein wenig frischen Tee von der Bärentraube angesetzt. Für heute Nacht.“ Sie streichelte ihm die Hand. „Ich weiß, Ihr habt fast alles vom alten getrunken, denn Mama sagte es mir heute Morgen bei der Messe. Die Blätter sind frisch und ich werde Verna auftragen, Euch den Tee ins Gemach zu bringen, sobald Ihr zur Ruhe geht.“ 

„Ich danke dir, mein Kleines. Obwohl ich den Geschmack verabscheue, kann ich nicht klagen, was die viele Linderung betrifft, die dein Tee meinen Schmerzen beschert. Lass ihn mir nachher sogleich von Verna bringen und ich gelobe ihn auch zu trinken.“ 

„Sehr wohl, Papa. Ich werde Euch beim Wort nehmen“, sagte Maris, als sie aufstand. „Ich muss noch nach der Tochter von Maisie sehen, denn sie fühlte sich nicht wohl, und dann werde ich Euch Euren Tee brauen“, erklärte sie kurz, wobei sie es vermied, Dirick mehr als einen flüchtigen Blick zuzuwerfen. „Gute Nacht, Sir Dirick, gute Nacht, Mama.“ Sie lehnte sich vor, um ihrem Vater einen Kuss auf die Wange zu geben, dann machte sie kehrt und verließ die große Halle. 

Dirick sah, wie sie zur Halle hinausging. Er hatte den ganzen Abend damit zugebracht, sich abwechselnd zu gratulieren und sich zu verfluchen, weil er die Gelegenheit, von diesen köstlichen Lippen zu kosten, beim Schopf gepackt hatte. Was Frauen anbetraf, war er kein Mann, der seinen Impulsen nachgab. Er nahm sich die Zeit, sie zu umwerben, ihnen zu schmeicheln, Frauen zu necken und sie zu erregen, bis sie ihm gleich einem reifen Pfirsich in die Arme fielen. Willige Frauen gab es zuhauf, Damen und Huren gleichermaßen, die sich ihm zur Verfügung stellten und nicht verlangten, dass er sie jagte. Und nur so sagte das Spiel ihm zu. 

Nichtsdestotrotz: er hatte den Tag an Maris’ Seite nicht nur genossen, er wusste auch, dass er sie wieder küssen würde – gleichgültig ob sie nun einem anderen versprochen war oder nicht. 

Sie war gerade in die Küche entschwunden und es begann in der großen Halle ruhiger zu werden, als der Bote auftauchte. 

Die meisten Männer hatten sich von der derben Unterhaltung und dem lauten Erzählen von Geschichten zurückgezogen, in die Betten von Huren, zum Schach und zu Würfelspielen, oder zur Nachtwache. Dirick selbst war auch drauf und dran seine eigene Schlafstatt aufzusuchen, als der Hausmeier an Merle herantrat. 

„Mylord, ein Bote am Tor bringt unserem Gast Kunde, Sir Dirick de Arlande.“ Der Mann blieb schweigend stehen und erwartete Erlaubnis den Boten hereinzurufen. 

Jeder Gedanke an Schlaf und an den herrlichen Mund der Lady Maris verflüchtigte sich in Diricks Schädel, um von Sorge verdrängt zu werden. Die Kunde musste wahrhaft schlecht sein, wenn ein Bote ihm nachgeschickt wurde, während er in einer geheimen Mission im Auftrag des Königs unterwegs war. Angesichts der jüngsten Erfahrung, wo man ihm die Kunde vom Tode seines Vaters auf die gleiche Weise überbracht hatte, war er auf der Stelle in höchster Unruhe. 

Merle nickte dem Hausmeier seine Erlaubnis zu, der daraufhin verschwand, den Boten zu holen. Die Minuten, die verstrichen, bis er wieder vor ihnen erschien, kamen Dirick wie Stunden vor, während er Sorglosigkeit vorgab und an seinem Ale nippte. Endlich erschien der Mann und Diricks Sorge verschlimmerte sich, als er in ihm einen Ritter seines Bruders Bernard, nunmehr Lord von Derkland, wiedererkannte. 

„Die Botschaft, die ich Euch bringe, erzählt sich besser unter vier Augen“, sprach der Botschafter, wie er an den Tisch herantrat. 

„So lasst uns einen privateren Ort aufsuchen.“ Dirick erhob sich, der Mund verkniffen und seine Eingeweide ein einziger Aufruhr. 

Der Mann folgte ihm in eine dunkle, sehr kalte Ecke des Saales und Dirick drängte ihn, sofort zu sprechen, kaum waren sie sicher vor den hellhörigen Ohren anderer. „Welche Kunde bringt Ihr mir, Sir Ivan?“ 

„Lord Bernard schickt mich zu–“ 

„Er ist also wohlauf? Bernard ist wohlauf? Ist es Thomas? Sprecht, Mann!“ 

„Ja, Mylord. Eure Brüder sind wohlauf und–“ 

„Mutter! Es ist doch nicht Mutter?“ Dirick wurde am ganzen Leib kalt. Ihre Trauer ob des Verlusts ihres Mannes war tief und schlimm gewesen. Hatte ihr gebrochenes Herz etwa aufgegeben? 

„Nein, nein, Sir Dirick – alles ist gut.“ Die Betonung auf diesen letzten Worten, drang endlich zu ihm durch und Dirick entspannte sich etwas. 

„Also dann. Mit dem Schreck hier habt Ihr mich fast in ein früheres Grab als erwünscht gebracht, Mann! Was ist das für eine Kunde, dass Bernard Euch zu mir schickt, wo ich im Auftrag des Königs unterwegs bin?“ Er streckte die Hand nach dem Schreiben aus. 

„Es ist nicht niedergeschrieben worden“, erklärte ihm Ivan. „Lord Bernard wünschte nicht, dass es in die falschen Hände geriete und so jemandem Eure wahre Identität preisgeben könnte. Er bekam von einem fahrenden Ritter eine Geschichte zu hören, der auf dem Weg zum König Rast auf Derkland einlegte. Nachdem er die Einzelheiten von der Ermordung Eures Vaters“ – hier bekreuzigte Ivan sich – „gehört hatte, erzählte jener Mann, Samuel von Lederwyth, die Geschichte einer anderen Ermordung gleicher Art.“ 

Ivan begann aus dem Gedächtnis zu erzählen, seine Augen ganz konzentriert, als er die Nachricht möglichst Wort für Wort wiedergab. 

„Er entdeckte einen fürchterlichen Anblick nahe bei London, fast zwei Reisestunden im Süden der Stadt. Es handelte sich offensichtlich um einen Raubüberfall. Dort lagen zwei Männer tot, denen man all ihre Wertgegenstände abgenommen hatte. Beide lagen auf dem Boden, das Gesicht nach unten, in einer gar seltsamen Körperstellung: ihre Arme waren so gelegt, als hätten sie diese in der Stunde ihres Todes ausgestreckt und die Hände des anderen gegriffen. Einen der beiden, beide waren Ritter–“, wieder bekreuzigte Ivan sich, „– hatte man erstochen, so dass er über Stunden hin Blut verlor, und seine Kehle war durchgeschnitten. Man hatte ihn mit dem Gesicht nach unten im Dreck abgelegt–“ 

„Und hatte sein Genick mit dem Huf eines Pferdes gebrochen und sein Gesicht so verdreht, dass es nach oben zum Himmel schaute?“ Dirick spürte, wie ihm sein reichhaltiges Abendessen nach oben stieg. 

Ivan schüttelte den Kopf, seine Augen ruhten jetzt auf Dirick. „Nein, obwohl es unten an seinem Rücken einen Hufabdruck gab.“ 

Dirick schloss die Augen, als das Bild vom ganz ähnlichen Ende seines Vaters ihm ins Bewusstsein stieg. Nein, er hatte nicht die Tortur erleiden müssen es tatsächlich zu sehen, aber er konnte es sich nur allzu gut selbst ausmalen. 

„Mein Herr Bernard trug mir auch auf, Euch von dem Pferd zu erzählen, das man dort fand. Es handelte sich um ein sehr gutes Pferd mit zwei gebrochenen Beinen und man hatte es an einen Baum gebunden. Das Pferd ist dort dann auch gestorben.“ Ivans Gesicht spiegelte das Entsetzen von Dirick wider – aber da war noch mehr zu erzählen. Er zog aus seinem Umhang ein kleines Bündel hervor und machte Anstalten es Dirick zu geben, „Der Ritter zeigte auch Lord Bernard das hier, was man in den Baumstamm gerammt vorfand, direkt über dem Pferd.“ 

Diricks Hände zitterten leicht, als er sie ausstreckte, um den Gegenstand aufzufangen, der dort aus dem Tuch rollte. 

Es handelte sich um einen tückisch aussehenden Dolch. Dirick fing ihn ohne Weiteres mit seinen Händen auf, nahm mit einer Hand dann das Maß der Klinge – von seinem Handgelenk bis zur Spitze des längsten Fingers. 

Die Klinge war aus Silber und die Spitze war abgebrochen, so dass der Dolch nicht zu einer perfekten Spitze auslief, sondern in einer gezackten Kante. Der Griff des Dolchs war mit feiner Silberarbeit von ineinander verschlungenen Rosen und Schlangen verziert, die Blüten sahen so lebensecht wie die Dornen darum aus, und so grausam wie das schlängelnde Ungeziefer. Ein kleiner Kristall war in das Ende des Griffs eingelassen und er glitzerte im flackernden Licht des Feuers. 

„Eine solche Silberarbeit ist mir noch nie untergekommen“, murmelte er, nachdem er lange in die Betrachtung des Dolches versunken gewesen war. Er drehte und wendete ihn in seiner Hand, als wolle er ihn zum Sprechen bringen. Schließlich blickte er zu Ivan auf und fragte, „was sagt mein Bruder – soll ich das hier mit Euch zurückschicken, damit Ihr es dem König überbringt?“ 

Ivan schüttelte den Kopf, „nein, Mylord – Lord Bernard wünscht, dass Ihr den Dolch behaltet, wenn Ihr glaubt, er könnte Euch von Nutzen sein. Der König trug ihm auf ihn Euch zu senden.“ 

„Gut.“ Dirick wickelte das Messer wieder in das Tuch und steckte es unter seine Tunika. „Dieser Samuel von Lederwyth – woher stammt er? Ich würde gerne mit ihm sprechen.“ 

„Er stammt aus dem Süden des Reichs – nahe bei London. Lord Bernard sandte dem König Wort, der ihm dann auftrug, es Euch weiterzusenden.“ 

Da nickte Dirick. „Das ist gut. Dieser Dolch wird mir von größerem Nutzen sein als Seiner Majestät und vielleicht werde ich schon bald den Namen dieses wahnwitzigen Mörders haben, nun da sich etwas von ihm in unserem Besitz befindet.“ Er schaute noch einmal herab auf die elegante, aber tödliche Waffe. 

Unglaubliche Wut packte ihn da und seine Entschlossenheit, den Meuchelmörder seines Vaters zu finden, nahm allen Raum in seinen Gedanken ein. 

Dirick nahm an, dass seine Träume heute Nacht schlimm sein würden.