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KAPITEL FÜNFZEHN

 

Diricks Kopf drehte sich nur noch.

Er schloss die Augen und öffnete sie dann erneut sehr vorsichtig. Ja, der Raum drehte sich immer noch, kippte zur einen Seite weg. 

Dann beugte sich ein Gesicht über seins. 

Es war das Gesicht einer Frau, alt und bedeckt von dem feinen, weichen Gesichtsflaum älterer Menschen. 

„Ah, guter Herr, Ihr seid endlich wieder zu den Lebenden zurückgekehrt.“ Die Stimme war sanft und das Lächeln, das sie begleitete, ebenso. „Ihr habt mich janz schön erschrocken, Herr, denn wie nur soll ich erklären, wie ein toter Ritter zu mir ins Haus jeraten is’?“ Die alten Augen funkelten schalkhaft, aber Dirick war zu schwach, um ihren Humor mit mehr als einem Grunzen zu quittieren. „Trinkt das hier.“ Sie schob ihm mit fester Hand einen grob gedrechselten Becher aus Holz an seinen Mund, mit etwas Warmem und himmlisch Riechendem darin, und er nahm es dankbar an. 

Sie hielt den Becher lang genug, dass er ein paar Schluck tun konnte, dann setzte sie ihn sanft ab. 

„Mein Pferd“, schaffte er noch zu fragen, jetzt da sein Mund etwas befeuchtet war. 

Die Frau nickte. „Ja, ihm jeht es jut. Es hat mehr zu futtern bekommen, als Ihr es seit jestern jehabt habt.“ 

„Seit gestern?“, krächzte Dirick, während er kämpfte auf seiner niedrigen Lagerstatt in eine aufrechte Sitzposition hochzukommen. 

„So isses. Ihr kamt am Abend des vorherigen Tags zu mir hierher, Herr, un’ ‘s war ‘n rechter Kampf, Euch hier rinn zu kriegen, als Ihr beschlossen habt, mir da an der Tür ‘sammenzubrechen.“ Wieder funkelte der Schalk in ihren Augen. „Aber, ich konnte Euch doch nich’ da lassen, oder etwa nich’? ‘S wär’ ja schrecklich kalt hier drinnen für meene alten Klapperknochen, wenn die Tür nich’ zu is’.“ 

„Maris.“ Hölle. Er hatte sie mittlerweile sicher verloren, wenn er schon einen ganzen verdammten Tag lang geschlafen hatte. 

„Oh, ja. Ihr habt auch jestern Abend nach ihr jerufen, Herr. Aber da war niemand bei Euch, det hab’ ich sehen können.“ Der Kopf neigte sich zu einer Seite, als sie zu ihm runterschaute. „Aber sie war nich’ bei Euch, nich’ wahr, Herr? Ihr wart hinner ihr her, wegen was, det weeß ich nich’, aber die Blätter wer’n ‘s mir schon weissagen. Hier, trinkt alles von dem hier, wo Ihr jetzt schon sitzen tut.“ Sie schob ihm den Becher ins Gesicht und brachte seine Hand nach oben, um den zu halten. 

Dirick trank den Rest von dem Gebräu, dankbar, dass der Raum sich wieder im Lot befand. Die alte Frau, die ein sehr langes, schweres Gewand trug, das über den Boden schleifte, nahm ihm den leeren Becher ab und starrte tief in ihn hinein. „Oh, ja, die hier werd’ ich mir gleich jenauer anschauen.“ 

Er sah zu, wie sie zum Feuer rüber taperte und etwas in einem großen Topf umrührte. Mit einer Schöpfkelle häufte sie etwas davon in eine Schüssel, die von ähnlich primitiver Handarbeit wie der Becher war, und brachte es zu ihm, zusammen mit einem Stück hartem Brot und einem Holzlöffel. Dirick roch Kanincheneintopf und das Wasser lief ihm im Mund zusammen, als das Essen ihm unter die Nase kam. 

Weil er wusste, dass er der Stärkung bedurfte, bevor er sich wieder auf die Suche nach Maris machte, hätte er gierig gegessen, selbst wenn das Essen kaum genießbar gewesen wäre. Aber der Eintopf schmeckte genauso köstlich, wie er roch, und er war so damit beschäftigt, dass er die alte Frau kaum bemerkte. Sie schnalzte gerade mit der Zunge wegen seinem leeren Teebecher, schaute mit Hilfe einer Talgkerze in die Tiefen des Bechers. 

„Aaah, ja ... Ihr habt unlängst Kummer erlitten, Herr, ‘s bereitet mir Kummer, des ich det seh’n muss.“ Sie schaute kurz zu ihm hoch, dann wieder in den Becher. „Euer Papa war’s, nich’ wahr?“ 

Dirick schluckte da ein Stück Kaninchen herunter und starrte die Frau an. Wie konnte sie davon wissen? „So ist es.“ 

Sie schüttelte betrübt ihr weißes Haupt. „Viel Blut, ich seh’s ... und viel Böses is’ da auch ... macht sich im janzen Land breit. ‘S det Werk von einem Verrückten hier, so viel is’ sicher.“ 

„Ich werde ihn finden“, sagte Dirick wild entschlossen zu ihr, wobei er gar nicht mehr erschrocken war, dass sie etwas verstand, wovon sie eigentlich nichts wissen konnte. 

Sie nickte. „Ja. Und viel Glück bei dieser Aufgabe. Ich bete, dess Ihr ihn findet, bevor noch mehr Blut vergossen wird.“ 

Die Frau wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Kräuterresten zu, die am Boden des Bechers klebten. „Und was is’ nun mit dieser Maris, nach der Ihr immerzu ruft?“ Die Frau sprach mehr mit sich selbst als zu Dirick, während sich die Stirn über dem Becher runzelte. „Aah ... mmm ... die Lady hat auch een bisschen Kummer vor sich, aber’s scheint nich’ Ihr zu sein, der ihn ihr bereiten wird.“ Sie warf ihm von der Seite einen vielsagenden Blick zu. 

„Kummer?“, fragte Dirick. „Sie ist verletzt? Verirrt?“ Er machte Anstalten sich aus dem Bett hochzukämpfen und wagte es kaum, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass er nicht nur den Worten, die der alte Greisin über die Lippen kamen, Glauben schenkte, sondern sie auch noch um Anweisungen bat. 

„Setzt Euch widder, wenn’s Euch beliebt, Herr ... Ihr bringt die Teeblätter durcheinander und ich kann se nich’ lesen“, grummelte die Frau. „Se scheint nichts Bösartiges um sich zu haben, jetzt jerade. In der Tat, ich kann nichts außer Ruhe um se herum hier in den Blättern sehen. Im Moment. Se wird bald schwere Zeiten durchmachen, Herr, aber weder Ihr, noch irjendeen an’rer Mann wird se davor schützen können. Und Ihr werdet se auch nich’ sehen, um’s rechtzeitig zu verhinnern, also springt hier nich’ kopflos auf, wo Ihr so schwach seid, dess Ihr Euch kaum rühren könnt. Es is’ alles aus und vorbei und Ihr werdet se nich’ sehen“, wiederholte sie und wedelte mit der Hand, wie um ihn wieder ins Bett zu schicken. „Hmm ... und ich sehe, dess se schon bald in Sicherheit ist, bei vielen bewaffneten Männern ... also habt Ihr keinen Grund, Euch zu sorgen, Herr.“ 

„Ich werde sie nicht wiedersehen?“, fragte er. Etwas Trostloses senkte sich ihm in den gesättigten Bauch und dann verwarf er den Gedanken. Selbst wenn er Maris von Langumont dereinst einmal vielleicht wiedersehen wollte, wie konnte diese Greisin hier von der Zukunft wissen? Wie konnte sie nur von der Gegenwart wissen? 

Die alte Frau blickte verdrossen in den Becher und hielt die Talgkerze schräg darüber. „Pah!“, stieß sie auf einmal aus. 

„Was seht Ihr?“, verlangte Dirick zu wissen. 

„Aaah, nee, ‘s nur, dass ich ‘n bisschen Wachs auf die Blätter hab’ tropfen lassen.“ Sie machte mit der widerborstigen Kerze eine etwas wütende Handbewegung, wobei sie Dirick fast mit heißem Talg besprüht hätte. „Ich nehm’ an, Ihr werdet die Lady wiedersehen, Mylord, aber nich’ für viele Monde und ‘s wird Euch vielleicht nich’ freuen, wenn Ihr’s tut. Aber wenn Ihr sanft zu der Lady seid, mag sein ... mag sein, Ihr werdet se erobern.“ 

Sie erobern? Selbst wenn ihm der Sinn danach stünde, es zu versuchen, wer wie er nur ein dritter Sohn war, konnte nicht hoffen eine mächtige Erbin, wie Maris von Langumont eine war, zu erobern. 

Dirick schnaubte und schob das zerschlissene Laken von seinen Schenkeln. Sanft zu ihr sein? Er ließ seine nackten Füße auf den Lehmboden fallen. Er beabsichtigte dem Weibsstück den Hals umzudrehen, wenn er sie das nächste Mal zu Gesicht bekam ... was, wenn er lange genug aufrecht stehen konnte, um Nick zu besteigen, schon sehr bald sein würde. 

„Herr“, kam es wie Piepsen von der überraschten Frau, „Euch kann’s noch nich’ gut jenug jehen, dess Ihr schon aufsteht!“ 

„Gute Frau“, sagte Dirick und wischte ihre Sorge hinfort, als er nach den Stiefeln klaubte, die nah bei seinem Bett standen. „Ich bin sehr dankbar für Eure Gastfreundlichkeit, aber ich muss mich auf den Weg machen. Ich muss nach Lady Maris suchen und sie in Sicherheit bringen.“ Er stand auf, hielt kurz inne, um zu sehen, ob seine Beine ihn auch tragen würden und ob die Welt aufgehört hatte sich zu drehen, und machte sich in überraschend aufrechter Haltung dann auf in Richtung Tür. 

Er blieb abrupt stehen, als ihm aufging, dass er nur wenig bei sich hatte, womit er ihr danken konnte. „Gute Frau, ich habe nur dies, das ich Euch zum Zeichen meiner Dankbarkeit geben kann.“ Er grub mit den Fingern in dem kleinen Lederbeutel, der ihm immer an der Tunika hing. Darin waren nur der in ein Tuch eingewickelte Dolch – das Beweisstück für den Mörder seines Vaters – und ein paar sehr kleine Münzen. Er klemmte sich eine davon zwischen zwei Finger, fischte sie heraus und drückte sie ihr in die Hand mit dem Versprechen „Ich werde Euch mehr schicken lassen, so bald es mir möglich ist. Ich danke Euch vielmals, Frau, dass Ihr Euch um mich gekümmert habt. Ich werde es Euch nicht vergessen.“ 

Die Frau nahm die Münze entgegen und ermahnte ihn, „Herr, Ihr müsst Euch nich’ so eilen. Ihr werdet die Lady nich’ in dieser wüsten Laune sehen ... und det ist auch gut so, sonst tut Ihr vielleicht noch Dinge, die man besser nicht tun sollt’.“ 

„Nochmals danke ich Euch, gute Frau, und spreche Euch sogar für Eure trüben Prophezeiungen Dank aus“, sagte Dirick mit einem kurz aufblitzenden Lächeln, „aber ich mache mich auf den Weg.“ 

Während Sie vor sich hin grummelte, folgte die Frau seinem etwas wackeligen Gang zur Türschwelle und lehnte sich an die Wand, als er nach draußen in die kalte Luft dort trat. 

„Habt Acht, Mylord“, rief sie noch, als er auf Nick aufsaß. „Und habt janz besonders Acht vor dem Dolch!“ 

Obwohl es einen ganzen Tag zurücklag, dass Dirick vor der Hütte der alten Frau zusammengebrochen war, war es nicht schwierig die Spur wiederzufinden, die ein müdes Pferd hinterließ, das zwei Frauen trug. Da es nicht geschneit hatte und der Wind nur schwach blies, konnte er die schwachen Hufspuren erkennen und auch, mehr als nur einmal, die verwischte Spur eines Rockes im pulvrigen Weiß. Gottseidank neigten Frauen öfter als Männer dazu anzuhalten, um sich zu erleichtern. 

Es dauerte nicht lange, da langte er bei einer Abtei an. Er ritt an das Eingangstor heran und bat um Einlass. Eine Schwester in Ordenstracht begleitet von einem männlichen Leibeigenen kam zum Tor und lud ihn ein einzutreten. 

„Schwester, ich bin auf der Suche nach einem Edelfräulein und ihrer Zofe, die sich ein Pferd teilen“, sprach Dirick zu ihr, der nicht absteigen wollte, bis man ihm mittelte, dass Maris sich drinnen im Kloster befand. 

Die Nonne senkte den Kopf. „Ihr müsst mit der Mutter Oberin sprechen, Mylord, solltet Ihr etwas über einen unserer Gäste in Erfahrung bringen wollen. Bitte tretet ein.“ 

Er biss die Zähne zusammen und dann glitt Dirick von Nick herunter und reichte dem Leibeigenen die Zügel. Er bezähmte mit aller Kraft seine Ungeduld, während er der Schwester folgte, welche die Ruhe selbst schien. Sie schlurfte derart langsam voran, dass er fast versucht war sie am Arm zu packen und hinter sich her zu schleifen, aber das würde ihm wohl kaum die Gunst der Mutter Oberin verschaffen. 

Und tatsächlich, als er dann vor der streng aussehenden Frau stand – deren Naturell ihn mehr als nur ein bisschen an die Mutter seines Vaters samt deren Habichtsgesicht erinnerte –, gelang es ihm, sein Anliegen in einer ruhigen, nicht überstürzten Art und Weise vorzutragen. Er spürte den Blick der Äbtissin nur allzu deutlich auf sich ruhen. Sie schien seiner zur Schau gestellten Sorglosigkeit nicht auf den Leim zu gehen. 

„Eine Lady, wie Ihr sie mir beschreibt, hat unser Kloster heute Morgen recht zeitig verlassen“, erzählte die Frau ihm. „Eine Gruppe reisender Mönche und deren Begleitung haben uns zugesichert, die Lady sicher auf ihre Ländereien zurückzubringen, da sie selbst in die Richtung unterwegs waren.“ 

Dirick überkam da heftige Enttäuschung. Maris war in guten Händen, die sie nach Langumont zurückbrachten, und er hatte keinen Grund mehr sich hier einzumischen. Wie die Dinge standen lagen die Ländereien von Lord Merle von hier aus auch in der entgegengesetzten Richtung von Westminster und es war bereits höchste Zeit, dass Dirick nun Heinrich Bericht erstattete, über das, was er über Bon de Savrille in Erfahrung gebracht hatte. 

Leider würde er Maris von Langumont nicht wiedersehen. Erst als er auf einem Nachtlager in der Abtei in den Schlaf fiel, erinnerte er sich daran, dass das alte Mütterlein genau das prophezeit hatte. 

 

~*~

Beinahe zwei Wochen, nachdem man sie von Langumont entführt hatte, ritten Maris und ihre Begleitung auf die Tore der beeindruckenden Festung zu. 

„Seid gegrüßt, Wachmann!“, rief sie und drängte ihr Pferd zum runtergelassenen Fallgitter hin, wobei sie sich von den übrigen Reisenden etwas absonderte. „Zieht das Tor für mich hoch!“ 

Sie hörte den überraschten Aufschrei des Wachmanns und das plötzliche Scharren von Füßen, die ihrem Wunsch eilig nachkamen. Das Fallgitter hob sich so schnell, wie die Zugbrücke dann runterglitt, und Maris, die nicht auf die Mönche hinter ihr wartete, trabte rasch über die noch geneigte Brücke. 

„Mylady! Mylady!“ Die Begrüßungsschreie und die Soldaten umringten sie dergestalt, dass ihr Pferd nicht weiterkam. 

„Wir glaubten, Ihr seid tot, Mylady!“, rief einer der Ritter, den sie vom Gefolge ihres Vaters her kannte. 

„Mylady, ‘s ganz, fürchterlich schrecklich!“, rief ein anderer Mann, als er die Zügel ihres Pferdes zu fassen bekam. 

Maris glitt ohne Hilfe aus dem Sattel und lächelte vor Erleichterung, klopfte den Männern auf die Schultern, die sie wiedererkannte. „Aber ich bin hier und jetzt ist alles wieder gut“, sagte sie zu ihnen, als sie zur Burg hin blickte. Wahrlich, ihre Mama war von ihrem Eintreffen unterrichtet worden, aber es gab keine Anzeichen von jemandem, der kam, sie zu begrüßen, bis auf die Männer im Burghof. 

„Nein, oh nein, Mylady!“ Bern von Tristoff, der Hauptmann der Soldaten, drängte sie vorwärts. „Nein, Mylady, es ist nicht alles gut. Ihr müsst nach Eurer Mama sehen, da sie verzweifelt ist und nicht von ihrem Lager aufstehen will.“ 

„Ja, Bern, ich werde nach ihr sehen und sie wird wieder ins Leben zurückkehren, denn ich bin wohlbehalten wieder eingetroffen.“ Sie lächelte fröhlich, so froh wieder zu Hause zu sein ... aber keiner der Männer oder der Leibeigenen schienen in die Freude ihrer Heimkehr mit einzustimmen. „Schickt einen Boten zu mir und ich werde nach Mama sehen.“ 

Sie eilte auf die Burg zu, wobei ihr auffiel, dass es hier merkwürdig still war im Vergleich zu dem sonst üblichen Treiben auf Langumont. Sie würde einen Boten nach Papa ausschicken müssen, um die Nachricht zu überbringen, dass sie zurückgekehrt sei; sie mussten sich beide auf dem Weg hierher und dorthin verpasst haben, da er sich auf der Suche nach ihr befand. Aber zuerst würde sie ihre Mutter küssen und ihr zeigen, dass jetzt alles wieder gut war. 

„Lady Maris!“ Bern blieb ihr auf den Fersen, die Stirn sorgenvoll gerunzelt. „Lady Maris, ‘s ist der Herr!“ 

„Ja, ich muss ihm Nachricht zukommen lassen, dass ich zurückgekehrt bin–“ 

„Mylady!“ Jetzt konnte sie aber die Verzweiflung in seiner Stimme nicht länger ignorieren und endlich schenkte sie ihm ihre volle Aufmerksamkeit. „Lady Maris, es ist wegen Lord Merle, dass die Lady nicht mehr aufsteht!“ 

„Papa? Ist er hier?“ Maris sprang das Herz vor Freude in die Höhe. „Ich werde dann also doch keinen Boten brauchen.“ 

„Mylady, der Herr – er ist tot.“