AWOR_German_100px

KAPITEL SECHZEHN

 

Drei Monate später

 

„Es ist sein gutes Recht, dass der König meine Anwesenheit bei Hofe verlangt“, erklärte Maris ihrer Mutter erschöpft. 

„Aber dein Papa ist vor erst drei Monaten von uns gegangen“, heulte Allegra, ihr ständig präsentes Taschentuch flatterte wieder an ein Gesicht, das wesentlich müder und älter schien seit dem Tod ihres Mannes. „Kann uns Seine Majestät nicht wenigstens bis zum Ablauf der Trauerzeit in Frieden lassen?“ 

Maris schüttelte wütend den Kopf, als sie eine Rolle von fein gewobenem Leinen aus einer Truhe hervorholte. Durch einen schrecklichen Umstand des Schicksals war ihr Vater von einem verirrten Pfeil niedergestreckt worden, als seine Männer gerade die Belagerung von Breakston in Angriff nahmen – zu einem Zeitpunkt, nachdem ihr die Flucht bereits gelungen war. 

Die Ironie und der Schrecken, dass sie sich schon in Sicherheit befunden hatte, als ihr Vater getötet wurde, lag ihr seit Monaten wie ein schwerer, schwarzer Stein im Bauch. 

„Mama, ich muss zum König, als Erbin von Langumont muss ich ihm meinen Lehenseid ablegen. Nach Ansicht von König Heinrich ist schon mehr als genug Zeit vergangen seit Papas Hinscheiden, und als seine Vasallin ist es meine Pflicht.“ 

„Ich werde nicht gehen“, sprach Allegra zu ihr. 

„Ja, Mama, Ihr müsst nicht gehen. Ich bin es, die meinem Herrn Treue geloben muss. Ihr werdet hier bleiben.“ Maris glaubte nicht, dass ihre zerbrechliche Mutter die Reise nach London überstehen würde. Im Laufe der letzten Monde war ihr grau-gestreiftes Haar fast gänzlich weiß geworden und die Falten, die ihr das Gesicht zerfurchten, zeugten von einer tiefen Erschöpfung und von schwerer Sorge. 

„So sei es. Und ich werde jeden Tag zwanzig Rosenkränze für die Seele deines Vaters beten.“ Die Worte entschlüpften ihr wie ein Stöhnen. 

„Agnes, dieses grüne Leinen werde ich für ein Obergewand nehmen“, verkündete Maris und drehte sich erleichtert von ihrer Mutter weg. Sie händigte der Frau das Tuch aus, die ihr seit der Rückkehr nach Langumont und dem Tod des Burgherren eine unabdingbare Stütze gewesen war. 

Nachdem sie die Rolle entgegengenommen hatte, legte die Zofe sie zu dem stetig anwachsendem Haufen von anderem, ebenso feinem Tuch. Wenn die Lady von Langumont schon an den Hof beordert wurde, so würde sie in vollem Staat und nach neuester Mode gekleidet dort standesgemäß erscheinen. Die Näherinnen hatten seit dem Eintreffen der Botschaft von Heinrich zwei Tage zuvor Tag und Nacht gearbeitet und immer noch wühlte Maris in den Vorräten von Stoffen aus aller Herren Länder, welche die Gemächer und Lagerräume von Langumont noch bereit hielten. Die meisten ihrer Kleider würde man schneidern, wenn sie bei Hofe war, um sicherzugehen, dass sie der neuesten Mode entsprachen, aber sie gedachte, ihre eigenen Stoffe mitzubringen, anstatt die höheren Preise zu zahlen, die man ihr sicherlich in London abknöpfen wollte. 

Als Agnes das Tuch nahm, fiel eine Ecke davon zurück und etwas fiel scheppernd zu Boden. „Peste!“, rief Maris überrascht aus und reichte mit der Hand unter dem Schemel danach. Es war ein Dolch – einer, den sie nie zuvor gesehen hatte – und sie betrachtete ihn mit großem Interesse. 

Allegra, die von der wenig damenhaften Ausdrucksweise ihrer Tochter aus ihrer Trance herausgeholt worden war, saß stocksteif da, als sie die kleine Waffe erblickte. „Ich hatte vergessen ...“, murmelte sie und streckte die Hand aus, um Maris den reich verzierten Dolch abzunehmen. 

„Wie kam das hier in eine Truhe voller Stoffe?“ Maris hatte die Augen nicht von der fein gearbeiteten, aber tödlichen Waffe genommen, dessen Griff über und über mit filigran gearbeiteten Rosen bedeckt war. 

„Er gehörte deinem Papa“, sagte Allegra verträumt, während sie das bösartig aussehende Messer in ihren Händen hin und her drehte. 

„Papa?“ Maris konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater etwas derart Feminines und Zierliches besessen hatte. 

„Nein, es war ein Geschenk von ihm an mich“, erklärte ihr die Mutter. 

„Ich werde ihn mitnehmen“, sagte Maris, da sie wusste, dass sie sehr wahrscheinlich guten Schutzes bedurfte. Die kleine Waffe würde sich leicht in ihren Röcken verstecken lassen und sie konnte sie immer bei sich führen, sie würde aber sehr schön auch jedem Dieb oder einer anderen Gefahr zwischen die Rippen gleiten. Sie vermutete, dass der Hof deutlich gefährlicher sein konnte als ein Schlachtfeld ... mit seinen dunklen, nasskalten Gängen und Ohren, die überall zwischen den Wänden lauschten. 

Sie beugte sich vor und drückte ihrer Mutter einen sanften Kuss auf das erschöpfte Gesicht. „So Gott will, werde ich Seine Majestät sehen und an Eure Seite zurückkehren, bevor zwei Monde vorüber sind“, sagte sie zu Allegra. 

 

~*~

London! 

Maris setzte sich im Sattel auf, weil sie jedes Detail vom Gewusel in dieser Stadt in sich aufsaugen wollte. Die Straßen waren schmale, ausgetretene Wege, deren Seiten Gebäude säumten und in denen überall Müll verstreut lag. Händler verkauften zwischen den vielen Fußgängern ihre Waren und wichen geschickt immer wieder den Hufen von Pferden aus, die am kurzen Zügel gehalten wurden. 

Es war noch lauter, als sie erwartet hatte, und viel dreckiger. Aber in Maris’ unschuldigen Augen wohnte der reichen Auswahl an unterschiedlichen Menschen in den überbordenden Gassen auch eine gewisse Schönheit inne. Da sie Hickory ritt, machte sie sich wenig Sorgen darum, ob sie in den Abfall traten, der hier überall herumlag. Stattdessen bestaunte sie – wie das Mädchen vom Lande, das sie ja war – einfach alles, während Raymond de Vermille die berittene Gesellschaft von Langumont zum Palast des Königs führte. 

Als er neben ihr zu reiten kam, strahlte sie ihn mit einem Lächeln an, das seit dem Tod ihres Vaters eher selten vorgekommen war. „Es ist wundersam laut“, bemerkte Maris zu ihm. „Und es erweckt den Anschein, als würde es nie aufhören sich zu bewegen.“ 

„So ist es, Mylady, laut und schmutzig“, erwiderte Raymond. „Und kein sicherer Ort, Lady Maris. Ihr werdet nur in Begleitung von mehreren Wachen Ausflüge nach draußen machen.“ Seine Worte waren nur ein schwacher Versuch, denn er wusste nur zu gut, dass sie gewohnt war zu kommen und zu gehen, wie es ihr beliebte. „Ich habe Sir Garrek mit der Nachricht von Eurem Eintreffen zu seiner Majestät gesandt. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis der König Euch empfangen wird.“ 

„Gut. Dann werde ich Zeit genug haben, um mich einzuleben und mich am Hof zurechtzufinden. Ich hoffe, dass ich Gemächer innerhalb des Palastes und in der Nähe der anderen Damen bei Hofe habe.“ Maris’ Aufmerksamkeit wurde von einem Verkäufer in einer ungewöhnlichen Tracht abgelenkt: lange, weite, staubige Gewänder und ein Kopfschmuck aus Tuch, der ihm um das Haupt und das Gesicht gewickelt war. Er erinnerte sie an den Guten Venny, denn er hatte die gleiche dunkle Haut und ihr Lehrmeister hatte ähnliche Kleidung getragen. Die Waren des Mannes interessierten sie wenig, aber das kleine, pelzige Tier, das ihm auf der Schulter saß, veranlasste sie dazu, Hickory zum Stehen zu bringen, um einen genaueren Blick darauf zu werfen. „Sir Raymond, seht Euch doch nur dieses Tierchen an!“ 

Der Ritter hielt neben seiner Herrin an, „ja, Mylady. Man nennt es Affe und es kommt von weit her, vielleicht aus Jerusalem selbst.“ 

Die übrigen Soldaten näherten sich ebenfalls Maris und Raymond, was zu einem großen Stau auf der Straße führte. „Mylady“, sagte Sir Raymond, während er versuchte ihre Aufmerksamkeit von dem Tierchen da, das sie derart faszinierte, weg zu lenken, „lasst uns weiter zur Burg. Wir können zu diesem Markt hier wieder zurückkehren, wenn Ihr es wünscht, und ich verspreche Euch, Ihr werdet mehr zu sehen bekommen als ein kleines Äffchen.“ 

Maris nickte zur Zustimmung. Sie könnte das Spektakel von London ein andermal bestaunen und begaffen. Jetzt musste sie leider auf Sir Raymond hören und weiterreiten. 

Der Gesellschaft wurde Einlass gewährt in die inneren Höfe von Westminster und Sir Raymond half Maris von ihrem Reittier herunter. In der Burg drinnen, deren große Halle von niemand anderem als Wilhelm dem Eroberer errichtet worden war, begrüßte der Truchsess die Herrin von Langumont und wies ihr den Weg zu den Gemächern, die sie bewohnen würde und die sich in der Nähe von denen weiterer Mündel des Königs befanden. 

„Mündel des Königs“, murmelte Maris bitter zu sich selbst und die vollen Lippen wurde ihr dabei zu einem schmalen Strich. Es war das erste Mal, dass ihr die Realität ihrer veränderten Lage aufging, und die Konsequenzen davon waren ihrer Selbstbeherrschung nicht unbedingt zuträglich. 

Sie folgte einem Pagen durch die verschlungenen Gänge des Schlosses und wurde dabei auf einmal Gewahr, wie sehr ihr Leben sich verändern könnte. Das Mündel des Königs war etwas, mit dem er tun und lassen konnte, was er wollte, das er im Interesse einer politischen Allianz mit egal wem verheiraten konnte oder auch mit einem getreuen Vasallen, dem er es als eine Belohnung zudachte. Er konnte sogar, begriff Maris jetzt, verlangen, dass sie ein dauerhaftes Mitglied des königlichen Hofes wurde, bis zu dem Zeitpunkt, an dem er beschloss, sie selbst – nein, ihre Ländereien – irgendeinem habgierigen Lord zu schenken, den sie sich nicht selbst aussuchen durfte. Aber ... ihr Herz, das bis dahin wie rasend gepocht hatte, verlangsamte seinen Herzschlag etwas. Sie war bereits verlobt, sie war davor sicher – oder war sie es doch nicht? Wenn ihr Papa die Eheverträge unterschrieben hatte, würde es selbst für einen König von England nicht so leicht sein, gegen die Kirche anzutreten und einen Ehevertrag zu annullieren, auch wenn das Gelübde selbst noch nicht abgelegt worden war. 

Seit dem Tod ihres Papa waren weder Victor noch Michael d’Arcy nach Langumont gekommen, noch hatten sie Botschaft oder Nachricht geschickt. Maris, die da in ihrer Trauer über ihren Verlust versunken war und außerdem von der sich verschlechternden Gesundheit ihrer Mutter in Anspruch genommen wurde, hatte kaum einen Gedanken daran verschwendet. Sie hatte es im Gegenteil als ein Gottesgeschenk betrachtet, dass sie ihren Verlobten und seinen Vater nicht sehen musste. Aber jetzt grübelte sie darüber nach. 

Hatten die d’Arcys die Frauen von Langumont in ihrer Trauer nicht stören wollen? Mussten sie auf ihre eigenen Ländereien zurückgehen und würden sie wiederkehren, wenn etwas Zeit verstrichen war? 

Es bekümmerte Maris wenig, solange sie nur Victor d’Arcy nicht wiedersah. Die Lage, in der sie sich befand, entbehrte nicht einer gewissen Ironie: sie war verlobt und daher konnte man sie keinem anderen Mann versprechen, aber sie war noch nicht verheiratet. Und ihr zukünftiger Ehemann war nicht hier, um sie herumzukommandieren. 

Der Page machte vor einer großen Tür aus Eichenholz Halt, was Maris aus dem unangenehmen Irrgarten ihrer Grübeleien riss. Ihr ging auf, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie durch das Gewirr der Gänge und Hallen zu diesen Gemächern gekommen war und drehte sich fragend zu dem Pagen um. 

Bevor sie etwas sagen konnte, sprach der junge Bursche zu ihr, „hier ist Euer Gemach. Eure Zofe und Eure Truhen wird man noch zu Euch bringen, Mylady. Wenn Ihr zum abendlichen Mahl in die große Halle zu gehen wünscht, so müsst Ihr nur nach mir oder einem der anderen Pagen rufen lassen und wir werden Euch mit Freuden dorthin geleiten.“ Und dann war er nach einer kleinen Verbeugung auch schon verschwunden. 

 

~*~

Etwas später strich Maris sich den goldgewirkten Stoff ihres Kopftuches glatt und schluckte schwer. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie so nervös sein würde, bevor sie vor den König trat – und ihre Beklommenheit wurde noch verschlimmert durch die Tatsache, dass sie ihre Truhen kaum in Empfang genommen hatte, als Heinrich sie auch schon zu sich beordern ließ. 

Sie konnte kaum glauben, dass der König die Zeit gefunden hatte sie so bald nach ihrem Eintreffen schon zu sehen, und Maris konnte nicht anders als den Grund dafür zu fürchten. 

Der Page, der ihr die Botschaft von Seiner Majestät überbracht hatte, war nicht der gleiche, der sie nur eine Stunde zuvor begleitet hatte. Er war etwas älter als sein Vorgänger – vielleicht neun oder zehn Jahre alt – und er trug seine Amtswürde vor sich her wie ein Bischof. 

Trotz ihrer Nervosität wies Maris ihn an draußen im Gang zu warten, während sie und Agnes verzweifelt versuchten sie zumindest präsentabel genug herzurichten für eine Audienz beim König. Sie hatte keine Zeit für ein Bad, um sich den Staub der Reise abzuwaschen, noch die Gelegenheit die Falten aus ihren Gewändern zu glätten. So wie die Dinge standen, wurde Maris von unruhigen Befürchtungen aus ihrem Zimmer getrieben, noch mit Haaren, die lediglich zu Zöpfen geflochten waren und mit ihren Reiseschuhen noch an den Füßen. 

Jetzt, da sie genau auf der anderen Seite der Tür stand, die in die Hofkammer Heinrichs führte, bedauerte sie ihre Eile. Das Tuch bedeckte ihren schlichten Zopf, aber die Spitzen ihrer Schuhe waren schmutzig und abgewetzt und schauten am Boden unter den Röcken ihres besten Gewands hervor. Das Gewand an sich war angemessen (auch wenn die Blicke, die Maris auf andere Damen am Hofe hatte erhaschen können, ihr verrieten, dass der Schnitt hoffnungslos aus der Mode gekommen war), denn der Stoff war von einem herrlichen Gold, das bei jeder ihrer Bewegungen schimmerte, mit langen Ärmeln, die sich an ihren Handgelenken fast bis zum Boden öffneten. Eine dunkelrote Tunika, welche die schwere Kette von Granatsteinen um ihren Hals ergänzte, passte über das Gewand und zeugte von der Geschicklichkeit der Näherinnen auf Langumont, die tagelang an den Stickereien aus Gold und Grün gearbeitet hatten. Das Gewand war für ihre Vermählungszeremonie gedacht gewesen und trotz seines altmodischen Stils war es einem Treffen mit ihrem König gewisslich angemessen. 

Maris war kurz davor, nervös zu werden, als sich die Türen öffneten und ein weiterer Page ihr Zeichen machte einzutreten. Sie bewahrte geradezu königliche Haltung, obwohl das Herz ihr im Halse schlug, und Maris folgte ihm ins Zimmer, wobei sie betete, dass ihr die Knie nicht nachgaben. 

Heinrich stand direkt zu ihrer Linken nahe bei einem großen, vergoldeten Stuhl. Er war ein gutaussehender Mann, dachte sie bei sich, mit dem Haar in diesem Rotton und von muskulösem Körperbau. Maris näherte sich ihm, wobei sie feststellte, dass sich außer dem König und dem Pagen, der sie hereingebeten hatte, keine weiteren Personen im Zimmer befanden. 

„Mein Gebieter“, murmelte sie, als sie mit einem tiefen Knicks vor ihm niedersank, ihre Stirn fast auf dem Boden. Ihre Röcke breiteten sich wie eine Wolke um sie aus und sie ordnete sie verstohlen so an, dass ihre Schuhe verdeckt wurden. 

„Maris von Langumont.“ Die Stimme des Königs dröhnte fast durchs Zimmer, war aber freundlich. Sie konnte in ihrer Lautstärke fast ein freundliches Lachen heraushören, als er fortfuhr. „Erhebt Euch, mein Kind, ich warte schon lange darauf, die Tochter des vortrefflichen Merle von Langumont kennen zu lernen.“ 

Obwohl er nur vier Jahre älter war als sie, ziemte es sich irgendwie, dass der beeindruckende, mächtige Mann vor ihr sie „Kind“ nannte. „Ich danke Euch, Eure Hoheit“, sprach Maris zu ihm, als sie sich leichtfüßig wieder aufrichtete. „Auch ich habe eine Begegnung mit Euch schon lange gewünscht, Sire“, sprach sie, die Wärme in seinen blauen Augen flößte ihr Mut ein. 

„Die Nachricht vom Hinscheiden Eures Vaters hat uns schwer bekümmert“, fuhr Heinrich mit seiner königlichen Stimme zu ihr fort, „es ist ein böses Schicksal, dass einer meiner treuesten Vasallen beim Versuch, seine entführte Tochter wiederzugewinnen, das Leben lassen musste. Und auf so tragische Weise.“ 

„Ja, Majestät.“ Maris Stimme war schrecklich zittrig. „Mein Vater wurde von allen geliebt und es ist eine schwerer Schicksalsschlag, dass ihn ein irregeleiteter Pfeil während meiner Rettung niederstreckte, zumal ich zu dem Zeitpunkt schon sicher entflohen war.“ 

„Ah, ja“, nickte Heinrich. „Ein schreckliches Unglück, meine liebe Maris. Aber man hat mich auch unterrichtet, dass Ihr großen Einfallsreichtum bewiesen habt bei Eurer Flucht.“ Noch bevor sie dazu etwas erwidern konnte, machte er ein Handzeichen in die Schatten hinein. „Nun, Dirick, jetzt habt auch Ihr sehen können, dass die Lady Maris noch lebt. Seid Ihr nun zufrieden?“ 

Maris erstarrte. Ihre Ungläubigkeit wurde zu entsetzlicher Scham und dann zu Ärger, als der Schatten, der aus einer dunklen Ecke hervortrat, sich in die ihr wohlbekannte Gestalt von Dirick de Arlande verwandelte. Sie wurde kreidebleich und fühlte, wie ihr jetzt etwas wild an der Schläfe pochte. In den Falten ihres Kleides ballte sie die Hände zu Fäusten, als sie sich dem König zuwandte. 

„Bitte um Vergebung, Mylord“, sagte sie, wobei sie die Augen von dem Mann weglenkte, der an den Thron herantrat. „Ihr beherbergt einen Verräter in diesen Gemächern.“ 

„Einen Verräter?“ Heinrichs schmale, rote Augenbrauen hoben sich fragend. „Hochverrat ist eine schwerwiegende Anschuldigung, Mylady. Seid Ihr Euch da sicher?“ 

„Das bin ich, Eure Majestät.“ Maris schoss Dirick einen wütenden Blick zu, dann wandte sie sich wieder dem König zu. „Es ist dieser Mann, der mit meinem Entführer gemeinsame Sache machte, nachdem er während seines Aufenthaltes auf Langumont meinen Vater in Sicherheit gelullt hatte.“ 

Ein ganz kleines Lächeln spielte um seine Lippen, als Heinrich sich umdrehte. „Dirick, was sagt Ihr zu diesen Anschuldigungen?“ 

„Mein Gebieter“, Diricks Stimme war entspannt, aber es lag eine Andeutung von Verärgerung darin. „Ihr seid genau wie ich darüber im Bilde, dass ich in Eurem Auftrag auf Breakston war und nur durch Zufall in diesen Albtraum mit hineingeraten bin.“ 

Bei dieser offensichtlichen Lüge keuchte Maris laut auf. Sie wirbelte herum, um ihm direkt ins Gesicht zu blicken und schleuderte ihm entgegen, „Sir Dirick, wie erklärt Ihr Euch dann Euren Aufenthalt auf Langumont, wenn er nicht dazu diente, gegen meine Person und gegen meinen Vater zu intrigieren?“ 

„Es mag für Euch ein etwas überraschender Sachverhalt sein, Lady Maris, aber es ist in der Tat so, dass sich nicht das gesamte Königreich um Euch dreht“, sagte Sir Dirick – immer noch mit dieser gelassenen, sanften Stimme, bei der sie vor Wut hätte kreischen können. „Ich hoffe, Ihr seid nicht allzu bestürzt zu erfahren, dass ich andere Gründe hatte, die Gastfreundschaft Eures Vaters in Anspruch zu nehmen, als irgendwelche Gründe, die mit Eurer leibreizenden Person zu tun haben.“ 

„Und was hätte ich denn anderes denken sollen, als ich Euch unter den Gaffern wiederfand, zu deren Füßen mich meine Entführer niederwarfen? Ihr, der da nichts zu meinem Beistand unternahm, der sogar in mein Gemach einbrach–“ 

„Lady Maris, es ist, glaube ich, nicht nötig diese Unterhaltung hier fortzuführen.“ In Diricks sanfter Stimme schwang jetzt eine Warnung mit. 

Sie richtete sich kerzengerade auf, weil ihr auf einmal bewusst wurde, dass sie in den Gemächern des Königs gerade wie eine Furie kreischte. Ihre Wangen waren feuerrot. „Ein weises Wort, Sir Dirick“, sie schlug die Augen nieder, als sie sich ihrer demütigenden Lage bewusst wurde. „Ich verspüre keinerlei Wunsch diese Unterhaltung jemals fortzuführen“, murmelte sie zu sich selbst. 

„Ich bitte um Vergebung, Mylady?“, fragte Heinrich, der Anflug eines leisen Lächelns war immer noch da. 

„Es ist von keinerlei Belang, Eure Majestät“, sagte sie mit einem kleinen Knicks. 

Heinrich blickte wieder zu Dirick, der neben ihm stand, und wandte seinen königlichen Blick dann wieder Maris zu. „Was diese Sache des Hochverrats betrifft, Mylady. Ihr seid Euch bewusst, dass die Strafe dafür Tod durch Erhängen ist?“ 

Sie schluckte und weigerte sich den dunkelhaarigen Mann anzuschauen, der sie spöttisch betrachtete. „Eure Majestät, ich–ich sprach vielleicht übereilt und–und habe hierbei vielleicht nicht alles bedacht. Ich ziehe meine Anschuldigung zurück – vorläufig zumindest“, fügte sie etwas aufmüpfig hinzu, wobei sie immer noch nicht zu Dirick hinüber blickte. 

Der König nickte. „Wohlan denn, ich denke, das ist eine kluge Entscheidung.“ Er strich sich mit seiner kräftigen Hand über den Bart, als wäre er in Gedanken versunken. „Ihr werdet mir den Eid Eurer Lehenstreue in drei Tagen leisten, Maris von Langumont.“ 

Womöglich hätte der König noch weiter geredet, wenn da nicht ein eiliges Klopfen an der Tür gewesen wäre. Der einsame Page dort im Zimmer mit ihnen eilte zur Tür und Heinrich blickte gespannt, was da kam. 

„Eure Majestät.“ Ein königlicher Bote trat ein und ging eiligen Schritts zum König, seine Verbeugung war formvollendet und elegant. 

„Erhebt Euch, Merren. Was bringt Euch mit solcher Hast zu uns?“ 

„Es sind schreckliche Nachrichten. Aber vielleicht komme ich ungelegen?“ Der Bote schaute kurz zu Maris und machte dann eine bedeutungsvolle Pause. 

Heinrich nickte und wandte sich Maris zu. „Mylady, Ihr dürft Euch auf Eure Gemächer zurückziehen. Ich erwarte, Euch heute Abend bei Tisch zu sehen. Ja, ich wünsche, dass Ihr am heutigen Abend Euren Platz an meinem Tisch als Gast einnehmt.“ 

„Ich danke Euch, Mylord“, gelang ihr noch zu stammeln, überwältigt von seiner Einladung und enttäuscht, dass sie nicht hören würde, was für schreckliche Nachrichten der Bote brachte. Sie raffte ihre Röcke wieder zusammen, drehte sich, wobei sie vermied Dirick in die Augen zu blicken, der jetzt lässig an dem Thronsessel lehnte. Es entging ihr nicht, dass sie es war und nicht Sir Dirick, die man bat die Gemächer des Königs zu verlassen. 

Unruhige Sorge und Empörung lagen ihr in jeder Bewegung, während sie vor dem König knickste. Nichtsdestotrotz ging sie ohne Hast zum Ausgang des Gemachs und tat vor allen anderen, als habe sie sich nicht gerade zum größten Narren des Königreichs gemacht, noch dazu vor ihrem Lehensherr. 

„Lady Maris?“ 

Eine Stimme von hinten ließ Maris zusammenzucken. Sie fuhr herum, etwas peinlich berührt, dass man sie so in Gedanken versunken beobachtet hatte. Eine Frau, vielleicht ein paar Jahre älter als sie selbst, stand in der Nähe einer der Fackeln, die diese Halle hier beleuchteten. Eine Aura von Frieden und Gelassenheit umgab sie und das Lächeln, das sie Maris schenkte, war freundlich und herzlich. 

„Ja?“ Maris erlangte wieder ihre Fassung und schaute sie forsch fragend an. Wie konnte die Frau Kenntnis von ihrem Namen haben? Es war nicht mal zwei Stunden her, dass sie bei Hofe eingetroffen war, und sie war noch nirgends gewesen außer in ihrem eigenen Gemach. Versuchte sie nur freundlich zu sein oder war sie auf der Suche nach Tratsch, den sie hier am Hof in Umlauf bringen konnte? 

„Ich bin Lady Madelyne de Mal Verne. Mein Gemahl Lord Gavin ist ein Vertrauter des Königs und ich bin für kurze Zeit hier als Hofdame für Königin Eleonore. Ihre Hoheit bat mich Euch nach der Audienz beim König zu ihr zu bringen.“ Sie machte ein Zeichen in Richtung von einem der Gänge, die von dem Eingang zu den Gemächern des Königs wegführten. 

„Königin Eleonore?“ In gewisser Weise war der Gedanke diese große Dame zu treffen noch viel einschüchternder als der, ihren Gemahl zu treffen. „Was kann die Königin nur von mir wollen?“ Maris folgte nun widerspruchslos den Schritten der anderen Frau. „Ich bin doch heute erst in Westminster eingetroffen.“ 

Madelyne zuckte anmutig mit den Schultern, ihre grauen Augen wie leuchtende Mondsteine. „Man weiht mich nicht in die Absichten Ihrer Majestät ein, aber wenn ich hier raten müsste, so würde ich annehmen, dass sie prüfen möchte, ob Ihr vielleicht in ihren Hofstaat passt. Kommt jetzt, sie erwartet uns – und Ihre Majestät ist nicht berühmt für ihre Geduld.“