6
Custo hatte die Hände im Nacken verschränkt, lief in der Zelle auf und ab und bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren. Schreien würde nichts helfen. Gegen die Tür aus Stahl und Beton zu treten, war ebenfalls sinnlos. Mit den Wachen zu diskutieren, die er vor der Zelle spürte, brachte auch nichts. Sie waren zu nichts zu bewegen. Sie hatten sich verpflichtet, Befehle zu befolgen. Nichts anderes hatte er erwartet; Adam stellte nur die Besten ein.
Custo stöhnte, lehnte sich mit den Händen gegen die Tür und machte im Stehen ein paar Liegestütze, um sich etwas abzureagieren. Wenn schon ein Geist nicht in der Lage war, hier herauszukommen, gelang es ihm bestimmt auch nicht. In dieser Hinsicht hatte er es im Himmel deutlich leichter gehabt. Er suchte mental nach Adam und Annabella, fand sie für den Bruchteil einer Sekunde, verlor sie aber in dem Wirbel aus menschlichen Gedanken sogleich wieder. Unerträglich.
Gedankenlesen war äußerst praktisch. Im Himmel hatte es ihm dabei geholfen, diversen unangenehmen Begegnungen aus dem Weg zu gehen, und theoretisch dürfte er damit auf der Erde nicht zu schlagen sein. Aber es gab zwei Probleme: Zunächst einmal war es schwierig, überhaupt ein einzelnes Individuum zu orten. Wenn dann noch ein klarer Gedanke in dem Bewusstsein von jemandem auftauchte, wurde er sogleich wieder von einer Sturmflut anderer Gedanken hinweggespült. Erwischte Custo endlich einen einzelnen Gedanken, war der schon nicht mehr relevant.
Aber er spürte genau, dass sich irgendetwas ereignet hatte. In dem plötzlichen Durcheinander von Gedanken in dem Gebäude konnte er zwei verzweifelte Entscheidungen ausmachen. Annabella wollte sich selbst verteidigen, und Adam setzte alles daran, Talias Leben zu retten. Beide waren wild entschlossen. Das ließ nichts Gutes ahnen und deutete daraufhin, dass etwas Furchtbares geschehen war. Ein Geisterangriff? Der Wolf?
Er machte einen weiteren Liegestütz, dann stieß er sich von der Wand ab.
»Lasst mich hier raus!« Solange er im Gefängnis saß, konnte er nichts tun. »Ich kann euch helfen!«
Während die Zeit langsam dahinfloss, wuchs seine Anspannung ins Unerträgliche.
Er saß in einer Ecke und hatte den Kopf in die Hände gestützt, als sich mit lautem Getöse das Schloss öffnete. Bevor die Tür aufging, stand er bereits.
Adam tauchte auf, sein Hemd am Bauch mit Blut verschmiert.
»Was ist passiert? Geht es Talia und Annabella gut?« Es kostete Custo seine gesamte Willenskraft, Adam nicht beiseitezustoßen und selbst nach den Frauen zu sehen.
»Du bist ein Engel?« Adams Stimme klang abwesend und heiser. Verzweifelt.
Kalte Angst befiel Custo. »Ich glaube.«
»Vorhin warst du dir sicher«, entgegnete Adam schneidend.
»Im Himmel war ich ein Engel, aber von dort bin ich geflohen. Ich weiß nicht, was dadurch mit mir passiert ist. Nicht wirklich.«
»Verdammt.« Adam fasste sich an den Kopf, zog die Schultern hoch und starrte auf den Boden, als suche er dort nach einer Lösung. Custo drang in seine Gedanken ein und stieß lediglich auf einen Wirbelsturm aus Ratlosigkeit. Adam hatte keine Ahnung, was er tun sollte.
»Lass es mich versuchen«, sagte Custo. Wenn Adam derart fertig war, musste Talia in großer Gefahr sein. Custo dachte an die Babys, Zwillinge. Was, wenn er nicht helfen konnte? Was, wenn er sie nicht retten konnte? Er durfte nicht darüber nachdenken, nicht angesichts Adams blutverschmierten Hemdes.
»Und wenn du ein Geist bist, den man geschickt hat, um sie zu töten?«
»Das bin ich nicht.«
»Aber was, wenn doch?« Adam starrte auf Custos nun verheilten Unterarm.
»Ich bin kein Geist.«
»Wie kann ich da sicher sein?« Adams Miene war angespannt. »Kannst du es beweisen? Bitte!«
»Ist es so schwer, mir zu vertrauen?«
»Wir reden hier von meiner Frau.« Die Angst in Adams Stimme erinnerte Custo an jene Nacht, in der Jacob Adams Eltern ermordet hatte. Wenn Adam eine weitere Familie verlor, war er selbst verloren, daran hatte Custo keinen Zweifel.
Sanft sagte er: »Ich bitte dich nicht, dich für einen von uns zu entscheiden.«
Adams geflecktes Gesicht wurde bleich. »Wenn du ihr etwas antust …«
»… sperrst du mich für immer ein.«
Adam verzog das Gesicht und quälte sich mit der Entscheidung, aber Custo wusste, dass sie bereits gefallen war. Er spürte, wie sein Vertrauen deutlich wuchs.
»Komm schon. Schnell.« Adam drehte sich um, rannte aus der Tür und bog um die Ecke. Custo sprintete hinterher. Er stellte keine Fragen, während Adam über die Sicherheitstür fluchte, die sich nur langsam öffnete. Davor wartete ein Fahrzeug in Militärgrün, größer als ein Golfwagen, aber kleiner als ein normales Auto. Custo saß noch nicht richtig, da raste Adam bereits durch einen Betontunnel. Sie fuhren in einen Aufzug. Während die Mechanik sie langsam nach oben beförderte, bemerkte Custo, dass die Knöchel an Adams Fingern weiß vor Anspannung waren.
Custo versuchte, das Geschehene in Adams Gedanken zu lesen, aber sie wechselten zu schnell, um einzelne ausmachen zu können. Er spürte, dass sie in Annabellas Nähe kamen, was ein gewisser Trost war. »Was ist passiert?«
»Der Wolf.«
Jetzt wurde auch Custos Griff fester. »Er ist hier eingedrungen? Wie?«
Adam sah ihn nicht an, während er antwortete. Er hielt den Blick starr auf die Betonwand gerichtet, die beim Hinauffahren an ihnen vorbeiglitt. »Er hat die Gestalt eines meiner Soldaten angenommen. Der ist jetzt tot. Der Wolf ist geflohen, nachdem Talia ihren Schrei eingesetzt hat.«
Adam sprach mit ausdrucksloser Stimme, aber Custo ahnte, wie ihn das innerlich aufgewühlt hatte. Segue war angreifbar. All jene, für die sie verantwortlich waren – Talia, Annabella und alle anderen – schwebten in Gefahr. Wenn der Wolf die Gestalt wandeln konnte, konnte er vermutlich auch wie Adam oder Talia oder sogar wie er selbst aussehen, sodass sie noch mehr aneinander zweifeln würden, als ohnehin schon.
Custo suchte wieder nach Annabellas Geist und fing einen Gedanken von ihr auf – irgendetwas mit nach Hause gehen. Er bekam keinen Zugang zu ihren Gefühlen, aber er wusste, dass sie Angst hatte. Er musste einfach fragen. »Annabella?«
»Ist okay. Mutig.« Respekt wider Willen.
Mit einem Ruck hielt der Aufzug. »Talia?«
»Wird noch behandelt.«
Zwei Wachen flankierten den Eingang, an dem KRANKENSTATION geschrieben stand, und in jedem Türrahmen war ein weiterer finster aussehender Mann postiert. Breitbeinig und mit einem Gewehr vor der Brust schienen sie zu allem bereit.
Adam lief schnell, aber Custo registrierte dennoch einige Details. Für eine Zweigstelle von Segue war das Gebäude altmodisch, die Decken zu tief. Die Einbauten entsprachen nicht dem neuesten Stand, waren jedoch praktisch. Im Eingang befand sich ein Fleck an der Wand, wo einst eine runde Uhr gehangen hatte, und an der hinteren Wand ein rundes Waschbecken, das vermutlich aus den Sechzigern stammte. Es war eindeutig aus der Mode.
Custo folgte Adam den Gang hinunter, der vor einer offenen Tür mit der Nummer 15 stehen blieb. Talia lag etwas seitlich auf dem Rücken und war bis zur Taille mit einem Laken zugedeckt. Das Gesicht zwischen den weißgoldenen wilden Haaren kreidebleich. Custo kannte sie aus seinem letzten Leben – sie war ein hübsches blasses Wesen mit intelligenten Augen gewesen. Jetzt wirkte sie anders, oder vielleicht sah er sie mit anderen Augen. Ihre Blässe hatte einen seltsamen Schimmer, wie unter Schwarzlicht, wodurch ihre schräg stehenden Augen weniger wie exotische Menschenaugen, sondern deutlich jenseitig wirkten. Als er sie jetzt nach seiner Rückkehr sah, bestand kein Zweifel, dass sie eine Fee war.
Dr. Gillian Powell, ein langjähriges Mitglied im Team von Segue, zog einen bedruckten Papierstreifen aus einer Maschine links neben dem Bett. Sie arbeitete gut und gründlich. Zu Zeiten Jacobs hatte sie ihn mehr als einmal zusammengeflickt. Wenn Talia und die Babys zu retten waren, würde sie es schaffen.
Talia zuckte zusammen und drehte den Kopf zur Seite, als Custo hinter Adam durch die Tür trat.
»Stärkere Wehen?«, fragte Adam, während er zum Bett eilte und davor niederkniete, so dass er sich auf Augenhöhe mit Talia befand.
»Sie haben aufgehört. Ich dachte, ich hätte es unter Kontrolle, aber jetzt …« Gillian verstummte. Sie runzelte die Stirn und blickte zu einer anderen Maschine, während sie dachte Da stimmt etwas nicht. Neben rasch ansteigenden Werten schlug ein schnell blinkendes Herz, aber die Ärztin steckte ihr Stethoskop in die Ohren und untersuchte Talia selbst.
Talia stöhnte und schloss fest die Augen. »Es ist so hell.«
Adam beugte sich näher zu ihr. »Was ist, Liebes?«
»Custo«, keuchte sie.
Custo trat einen Schritt zurück. Auf einmal fand er es keine so gute Idee mehr herzukommen. Eine Todesfee und ein Engel im selben Raum – irgendetwas an dieser Kombination erschien ihm von Natur aus falsch zu sein. Sie passten grundsätzlich nicht zusammen. Vielleicht machte die Grenze zwischen ihren Welten durchaus Sinn. Vielleicht schlossen sich Licht und Dunkelheit unweigerlich aus. Vielleicht verletzte er sie.
Talia wimmerte. Custo griff nach dem Türrahmen. Er musste irgendetwas tun. Sie beruhigen. Sie heilen.
Beunruhigt und voller Sorge blickte Adam ihn an. »Was ist los?«
Talia zitterte, und Custo wich in den Flur zurück. »Ich weiß es nicht.« Als sie das nächste Mal stöhnte, verließ er die Krankenstation ganz.
Der Jäger sammelte sich in einem langen, schmalen, zugigen Tunnel zwischen zwei Räumen. Hier war es fast stockdunkel, und die Finsternis nährte die langsame Wiederherstellung seines Körpers. Die Schatten verdichteten sich und formten ein zuckendes Ohr, eine scharfe Kralle und brennende Augen. Luft zog durch den Tunnel und strich durch sein neues Fell. Er zitterte, schwankte, war noch schwach, aber er gewann an Kraft.
Erst kam der Geruch – nichtssagend und bitter, aber darüber hing der berauschende Duft einer sterblichen Frau und erfüllte seinen Schattengeist. Dann die Sicht: Der Tunnel endete neben einem Raum, in dem ein helles Viereck leuchtete und wie ein Feuer loderte. Und schließlich Geräusche: Eine Frau weinte und schluchzte mit erstickter Stimme.
Nachdem er menschliche Schritte getan und zarte Haut gestreichelt hatte, begriff er: Sterblich. Frau. Magie. Ein heftiges, teuflisches Verlangen mischte sich in die neue Erkenntnis, schürte seinen animalischen Hunger und verwandelte ihn in etwas anderes, etwas beinahe Menschliches und demzufolge Unerträgliches.
Der Jäger wollte sie besitzen. Meins.
Gut, aber wie schaffte er das?
Als Adam zu ihm trat, hob Custo den Kopf. Er saß auf einem Stapel Kisten und hatte Gott um Hilfe gebeten. Natürlich rechnete er nicht mit einer Antwort; er war ein vollkommener Idiot gewesen.
»Du bist also ein Engel«, sagte Adam. Es handelte sich um eine simple Feststellung. Er dachte darüber nach, ohne sich darüber lustig zu machen oder sie zu hinterfragen. Endlich. »Das hast du verdient. Du warst … bist der beste Mann, der mir, abgesehen von meinem Vater, je begegnet ist.«
Custo wehrte sich gegen diesen unangemessenen Vergleich. Was sollte er darauf erwidern? Adam wusste nichts von seinen blutigen Taten. Er ahnte nicht, wofür er verantwortlich war. »Es tut mir leid, dass ich Talia in Gefahr gebracht habe und deine Kinder und Segue. Ich hatte keine Ahnung, dass der Wolf uns folgen würde oder könnte.«
»Gillian hat ihr etwas gegeben, um die Wehen zu stoppen.« Adam ließ sich schwer neben ihn fallen. »Es hat gewirkt. Nachdem du den Raum verlassen hast, hat sich ihr Herzschlag normalisiert. Sie muss bis zur Geburt strenge Bettruhe halten.«
Custo nickte. Die Wehen hatten aufgehört. Er musste es sich ein paarmal sagen, bis die bedrückende Angst so weit nachließ, dass er wieder Luft bekam.
»Ich glaube, ich habe ihr allein durch meine Anwesenheit geschadet.«
Ja, bestätigte Adam. »Ich wäre dankbar, wenn ihr beide, du und Annabella euch von ihr fernhaltet, bis das geklärt ist«, sagte Adam ohne Vorwurf. »Ich will nicht, dass die Schwangerschaft noch mehr belastet wird, als sie es sowieso schon ist. Talia lässt dich übrigens grüßen. Du sollst dir keine Vorwürfe machen, weil du so ›strahlst‹. Ihre Worte.«
»Klar. Annabella und ich gehen und bringen uns irgendwo in Sicherheit.« Mit den Händen stützte er sich auf den Knien ab. Er konnte eindeutig nicht in Segue bleiben. Durch seine bloße Anwesenheit brachte er Talia in Gefahr. Licht gegen Schatten.
»Das ist nicht nötig. Segue ist der beste Ort für euch, das weißt du. Wir haben genug Platz.« Reichlich Zimmer.
»Und wenn der Wolf in der Zwischenzeit zurückkommt?«
»Kämpfen wir gegen ihn.« Adam lächelte ihn erschöpft an.
Custo räusperte sich, dennoch konnte er vor Schuldgefühlen und Sorge kaum sprechen. »Kann ich Annabella jetzt sehen?«
Adam zögerte einen Moment, ihre Blicke begegneten sich. »Ja. Ich habe sie ins Labor eingeschlossen und lasse sie bewachen. Sie ist ziemlich aufgelöst. Ich hatte noch keine Gelegenheit, sie zu befragen, und kenne nur Talias Sicht der Geschichte. Ruf mich an, wenn du Annabellas kennst. Ich stelle ein Forschungsteam zusammen.«
»Ist dir in der Zeit, in der ich weg war, so etwas wie der Wolf schon einmal begegnet?« Custo stand auf und folgte Adam zu einer Reihe Türen am anderen Ende des Betontunnels.
»In den letzten acht Monaten haben übersinnliche Erscheinungen dramatisch zugenommen. Vor allem Gespenster und Poltergeister, aber hier und dort habe ich von Vorfällen gehört, die jenseitiger sind. So etwas wie der Wolf musste unweigerlich auftreten. Sieh in meine Akten. Ich weiche vorerst nicht von Talias Seite, du kannst heute Nacht in meinem Bett schlafen – morgen besorgen wir etwas Anständiges für euch beide. Unser Wohnbereich liegt zwei Stockwerke weiter oben. Ich habe die gesamte Etage für mich.«
Wie in alten Zeiten kehrte er in Adams Leben zurück. Aber diesmal fühlte es sich nicht richtig an.
Adam gab einen Sicherheitscode über eine Tastatur ein. Die Tür glitt zur Seite, und Custo entdeckte Annabella sofort. Sie hatte sich unter einen Arbeitstisch aus gebürstetem Stahl in der Mitte des Raumes geduckt. Ihre Augen waren geschwollen, die Wimperntusche bis zu den Schläfen verlaufen und ihre Nase rosa. Als sie Custo sah, schluchzte sie heftig auf, kam unter dem Tisch hervor und durchquerte den Raum, so schnell es ihre taumelnden Schritte zuließen.
Die Worte in ihrem Kopf gingen wild durcheinander … Jäger, Revier, Brücke, Todesfee.
Custo öffnete die Arme, um sie zu trösten und ihr zu versprechen, dass er sie künftig beschützen werde. Sie kam ebenfalls mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, schubste ihn jedoch grob gegen die Tür. Custo verlor das Gleichgewicht, fiel beinahe hin und konnte sich gerade noch mit den Händen an der Glasfläche abstützen.
»Du hast gesagt, Segue wäre sicher!« Annabella sah ihn aufgebracht und mit geröteten Wangen an. »Du hast gesagt, die Leute hier wüssten, wie man mit gruseligem Mist umgeht! Du hast gesagt, ich könnte hier schlafen. Schlafen!« Sie brach in hysterisches Lachen aus, das in Schluchzen überging.
»Schhh …« Custo erholte sich und versuchte sie in den Arm zu nehmen, aber sie wehrte sich. Ihr Körper passte absolut perfekt in seine Arme. Wenn sie sich doch nur beruhigen würde.
»Sag mir nicht, ich soll mich beruhigen!« Sie schlug ihm mit dem Handballen gegen die Brust, klammerte sich jedoch zugleich Hilfe suchend an seine Schulter. »Talia – Talia – musste mich retten.« Tränen liefen ungehemmt über ihr Gesicht. Sie wischte sich die Augen und schniefte. »Dieser furchtbare Laden ist gesichert wie Fort Knox, und ich muss von einer schwangeren Frau gerettet werden.« Ihre Miene nahm einen harten Ausdruck an. »Wenn diese Frau ihre Babys verliert, bringe ich dich um. Das schwöre ich dir.«
Custo sah hinüber zu Adam, der seinen Blick erwiderte. Viel Glück, dachte Adam. Er nickte ihm kurz zu und verließ den Raum. Die Sicherheitsbeamten folgten ihm, aber Custo war sicher, dass sie vor der Tür stehen blieben.
Als Custo mit ihr allein war, änderte er seinen Griff und hielt Annabellas zuckenden Körper an den Hüften fest. »Talia kommt wieder in Ordnung. Ihre Wehen haben aufgehört.«
Tränen strömten über Annabellas Wangen, ihr Widerstand löste sich in heftiges Beben auf. »Aber was ist mit dem Blut?«
»Unter Kontrolle.« Das vermutete er, ansonsten wäre Adam panischer gewesen.
Annabella schnappte nach Luft. Trotz ihres Bebens fühlte sie sich kalt in seinen Armen an. »Was, wenn er zurückkommt? Das Licht hat nicht funktioniert. Ich dachte, es würde helfen – neulich auf der Straße war das so –, aber in dem Raum hat es nichts genutzt.«
»Kannst du mir erzählen, was passiert ist?«
Er hat mich fast ver… – Annabella brachte den Gedanken nicht zu Ende. »Ein Mann ist in mein Zimmer auf der Krankenstation gekommen. Ein Soldat. Er hat sich seltsam benommen, aber ich wusste, dass es der Wolf war.«
»Woher?«
»An seiner Art, sich zu bewegen. An seinen Augen.«
Custo nickte. »Weiter.«
»Er hat gesagt, er wäre ein Jäger und dass du und ich in sein Revier eingedrungen seien und er eine Brücke wolle, um zurückzukommen.« Dann hat er mich begrabscht und hätte mich vergewaltigt, wenn ich ihm nicht in seine widerlichen Eier getreten hätte. Custo wurde heiß, aber als Annabella fortfuhr, unterbrach er sie nicht. »Dann ist Talia hereingekommen und hat gesagt, sie wäre eine irre Todesfee und hat dem Kerl befohlen, zurück ins Schattenreich zu gehen. Okay, dann wurde es ziemlich gruselig, denn sie hat den Raum komplett verdunkelt. Ich hasse die Dunkelheit. Und der Jäger-Wolfskerl ist explodiert und aus dem Raum geflohen. Die ganze Sache ist verrückt!«
Custo ließ die Einzelheiten Revue passieren. »Er hat gesagt, er wäre ein Jäger? Ich dachte, er wäre ein Wolf.«
»Sind Wölfe keine Jäger?« Also echt, du Idiot.
Custo ignorierte ihren beleidigenden Gedanken. »Und er sucht einen Weg zurück ins Schattenreich?«
Die eigentliche Frage ist, dachte Annabella. »Warum hat ihm das Licht nichts ausgemacht? Das war vorher anders.«
Custo kannte die Antwort. Zuvor war der Wolf in den Zwielichtlanden eingeschlossen. Er blieb im Schatten, weil er musste. Die Trennung zwischen den Welten war unantastbar. Aber in der kurzen Auseinandersetzung in dem dunklen Wald, als die drei aufeinandergestoßen waren, hatte der Wolf die Grenze überschritten und war mit Annabellas Rückkehr in die Realität auf die Erde herabgefallen. Genau wie Custo herabgefallen und wiedergeboren worden war. Schatten blieben für den Wolf ein Zufluchtsort, aber das Licht auf der Erde machte ihm nichts mehr aus. Nicht, nachdem er frei war.
Zu kompliziert, um es Annabella zu erklären, zumal sie viel zu aufgelöst erschien, um zuzuhören. Es hatte schon lange genug gedauert, bis Adam, sein bester Freund, der wie ein Bruder für ihn war, ihm geglaubt hatte, und sie vertrauten sich bereits sehr lange. Annabella wusste nichts, also konnte er nirgendwo anknüpfen. Engel? Todesfee? Zwielichtlande? Custo entschied sich für die einfachste Antwort. »Wenn er wieder angreift, kümmere ich mich um ihn.«
Sie lachte verächtlich. »Wir wissen nicht, wie er aussieht. Er kann die Gestalt wandeln. Im einen Augenblick ist er ein Wolf, im nächsten ein Mann, im nächsten ein Haufen Schatten. Und du glaubst, du könntest dich um ihn ›kümmern‹? Das bezweifle ich.«
»Aber er besteht doch aus Schatten?«
»Hast du mir nicht zugehört? Licht kann ihm nichts anhaben!« Bei dem Wort »anhaben« wurde ihre Stimme schmerzhaft schrill, aber Custo achtete nicht darauf. Ihm kam eine Idee.
Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, seine Panik wich einer neuen Entschiedenheit. Talia hatte ihn darauf gebracht. Sie war ein Kind der Schatten, und sie konnte es nicht ertragen, dass er in seinem jetzigen Zustand so »strahlte« – er war ein Engel. Auch der Wolf war ein Schattenwesen. Vielleicht konnte der Wolf ihn im Schattenreich herausfordern, seinem eigentlichen Revier. Konnte ihn angreifen und töten, falls Engel zweimal sterben konnten (ein verwirrender Gedanke). Aber auf der Erde würde der Wolf vermutlich vor ihm zurückschrecken, und er konnte ihm ebenso schaden wie der Todesfee, der Tochter des Schattenmanns. Vielleicht sogar noch mehr, denn Talia war zur Hälfte ein Mensch und dadurch vielleicht bis zu einem gewissen Grad durch ihre Gene geschützt.
»Annabella« – Custo strich ein paar dunkle Strähnen aus ihrem Gesicht – »vorher waren wir nicht auf ihn vorbereitet, aber jetzt sind wir es.«
»Er kann seine Erscheinung verändern. Was, wenn er sich in einen Löwen verwandelt? Oder, oder in einen Tiger, oder …«
»Einen Bären?«, vervollständigte Custo lächelnd.
Wieder schlug sie auf ihn ein. Diesmal tat es weh. »Mach dich nicht über mich lustig.«
Custo fasste sich. »Das nächste Mal sind wir vorbereitet.«
Annabella schwieg, aber sie bebte immer noch bei jedem Ein- und Ausatmen. Sie schluckte heftig, eine Sekunde zitterte ihr Kinn, dann hatte sie den Reflex unter Kontrolle.
Custo wollte sie näher an sich ziehen, wollte sie trösten, ließ sich aber von ihr zurückstoßen. Eine Sache hatte er über Annabella gelernt – sie stand gern auf eigenen Füßen. Sosehr er sie für die Demonstration ihrer Kraft bewunderte, sie machte ihn verrückt. Brachte es sie um, wenn sie sich von ihm für zwei Minuten halten ließ – richtig halten?«
»Er wollte, dass ich, oder wir, die Welten miteinander verbinden. Hat das mit dem Schattenzeug zu tun, von dem du und Talia gesprochen habt?«
Custo nickte knapp. »Ich weiß nicht, was Talia mit dir besprochen hat, aber was mich angeht, so glaube ich, ja. Es gibt drei Welten: Die Erde, die Zwielichtlande und das Jenseits.«
Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ist der Wolf ein Gespenst?«
»Nein. Warte.« Custo überdachte seinen Ansatz. »Die Zwielichtlande, das Schattenreich, sind ein Ort der Möglichkeiten, der Fantasie, der Inspiration. Ja, die Menschen reisen kurz vor ihrem Tod dort hindurch; Talia ist ein Teil des Schattenreiches und kann als Todesfee mit ihrer Stimme die Schatten manipulieren und andere, wie den Wolf, dazu zwingen, die Grenze zu überschreiten. Aber die Zwielichtlande sind weit mehr als das. Die Menschen betreten sie in ihrem täglichen Leben, um sich inspirieren zu lassen und zu Erkenntnissen zu gelangen. Das Schattenreich ist eine Quelle der Magie, ein Brunnen, aus dem man Talent schöpfen kann, so wie du es getan hast.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Sie schüttelte den Kopf und wehrte sich gegen alles, was er sagte.
»Doch, das tust du. Du weißt es ganz genau«, beharrte Custo. Sie hob das Kinn, aber er fuhr fort. »Ich habe dich zum ersten Mal im Schattenreich gesehen. Du hast getanzt, strahlend und wunderschön, voller Magie.«
»Ich bin nicht magisch.«
»Dein Talent ist eine Art von Magie.«
Sie runzelte die Stirn, ihr Blick verlor an Schärfe und sie dachte nach.
»Wieso tanzt du? Wie fühlst du dich dabei? Was kannst du, was andere nicht können?«
Es verging eine Weile. Er versuchte, ihre Gedanken zu lesen, aber sie bewegten sich zu schnell, eilten von einer Schlussfolgerung zur nächsten; ihr Intellekt ging die Ereignisse und Erklärungen durch, blieb aber nie an einem Ort stehen, um zu begreifen. Schließlich holte sie tief Luft, atmete aus und schüttelte den Kopf. »Du meinst, durch meinen Tanz käme ich an beide Orte? Dass ich tatsächlich in seinem Revier war?« Heißt das, ich darf nicht tanzen?
Custo griff nach ihrem Arm, aber sie zog ihn weg und seine Hand hing leer in der Luft. »Annabella …«
Sie wich einen Schritt zurück. »Erst der Wolf und jetzt du. Wie kannst du es wagen, mich anzufassen? Und vertraulich zu werden? Ich habe keine Ahnung, wer du bist. Nicht wirklich. Du hast mir einen sicheren Platz zum Schlafen angeboten und bis jetzt …«
Er musste sie unterbrechen, bevor sie eine drastische Entscheidung fällte. »Das ist immer noch der sicherste Ort für dich.«
»Soweit ich das beurteilen kann, bin ich nirgends mehr sicher«, erwiderte sie und wurde laut. »Ich kann noch nicht einmal tanzen.«
»Natürlich kannst du das. Aber jetzt weißt du, dass du die Magie genauso beherrschen musst wie deine Bewegungen. Jetzt weißt du, wieso die ganz Großen ganz groß sind und dass du zu ihnen gehören kannst.«
Sie presste die Hände auf die Ohren und hielt ihren Kopf. »Ich will nicht mehr darüber reden!« Ich kann nicht.
Custo schluckte alles hinunter, was er hatte sagen wollen. Die Worte brannten in seinem Hals, genau wie seine Arme darauf brannten, sie zu halten. Beschwichtigend hob er die Hände. Nicht heute Nacht.
Sie ließ die Arme sinken. »Gibt es in diesem Laden jetzt ein verdammtes Bett für mich oder nicht?«
Er bemühte sich, nicht über ihren Ton zu lächeln. »Ja. Solange er bei Talia bleibt, hat Adam uns seine Wohnung überlassen.« Offensichtlich würde Custo die erste Nacht, die er zurück auf der Erde war, auf dem Boden schlafen müssen.
Er öffnete die Tür und blickte hinaus. Die Wächter standen auf ihren Posten. Alles war ruhig. Nirgends lauerten Wölfe. Er hätte gern den Arm um sie gelegt – es hatte sich so gut angefühlt –, aber er unterdrückte den Impuls. Annabella trat zu ihm und spähte ebenfalls hinaus. Sie presste die Lippen aufeinander, nahm offenbar allen Mut zusammen und trat aus dem Labor.
»Der Aufzug?«, fragte Custo die Wächter.
Die Sicherheitsbeamten wiesen ihnen den Weg und würden heute Nacht vor Adams Wohnung Posten beziehen.
Als sie auf zwei normale silberne Schiebetüren zukamen, spürte Custo eine Hand an seinem Ellbogen.
»Warte«, sagte Annabella und wirkte wieder vollkommen verwirrt, »was hast du in den Zwielichtlanden gemacht?«
Custo dachte an ihre letzte Bitte und entschied sich für die Wahrheit. »Ich war auf der Durchreise auf meinem Weg zurück zur Erde.«
Sie blieb abrupt stehen, bevor sie in den Aufzug stiegen, runzelte die Stirn und versuchte zu begreifen, was er gesagt hatte. Er war nicht bereit, es ihr genauer zu erklären, nicht, nachdem sie deutlich geäußert hatte, dass sie es nicht hören wollte.
»Aus dem Jenseits?«, fragte sie.
Custo nickte und zog sie in den Aufzug. »Dem Himmel. Ich bin dein Schutzengel.«