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Engel. Custo konnte es nicht ertragen, dass sie in seinen Kopf eindrangen, sie lasen seine Gedanken und ließen ihre hineinströmen.
Alle brachten ihm Verständnis entgegen, hießen ihn willkommen und gaben ihm eine wirre Erklärung, inwiefern sie über diesen und jenen absurden Stammbaum mit ihm verwandt waren. Eine große glückliche Familie. Er wollte ihnen allen sagen, dass sie sich verpissen und ihn verdammt noch mal in Ruhe lassen sollten. Aber er wusste, dass ihnen das bei diesem ganzen Hin und Her von Gedanken mehr als klar war.
Die Bombardierung mit mentalen Dialogen nahm deutlich zu, je näher er den aufwendig verzierten Marmorgängen der Gedenkhallen kam – jedes kleinste Detail erzählte die Geschichte der Welt. Brachte es sie um, wenn sie den Mund zum Sprechen benutzten? Ihre ständigen nonverbalen Geschichten und Reden über die perfekte Ordnung des Universums weckten in ihm den Wunsch, ihnen den fröhlichen Ausdruck aus den Gesichtern zu prügeln. Wen interessierte die Schöpfung, wenn auf der Erde Krieg herrschte?
Die Menschheit gegen die Geister. Ein Verräter in Segue, der einzigen Abwehr gegen die unsterblichen Seelensauger.
Aber sie ließen sich nicht durch noch so vieles Fragen, Schreien oder Um-Hilfe-Betteln bewegen. Jeder Moment, der verging, war ein vergeudeter Moment.
Also hielt Custo sich so gut wie möglich von den Hallen fern, schlich um das Tor herum und wartete darauf, dass der kalte Mistkerl zurückkehrte, der Schattenmann. Es gab nur ein Problem. Der Tod kam zwar häufig vorbei, aber Custo musste ihn abfangen, bevor er wieder fort war. Genau wie die Engel hatte der dunkle Todesbote sein Flehen nicht erhört, als er gestorben war. Und wenn der Tod die Seelen ablieferte, entfernte er sich schnell wieder, bislang stets zu schnell, als dass Custo ihn hätte abfangen und überzeugen können.
Aber es musste einen Weg geben.
Custo erklomm die weißen Steinstufen an der Außenwand des Tores und strich mit den Fingern über die aufwendigen Verzierungen, die die gewaltige Grenze zwischen den Zwielichtlanden und dem Himmel schmückten. Eine begabte, sehr geduldige Seele hatte den elfenbeinfarbenen Stein in ein kompliziertes Gitterwerk verwandelt, in das winzige Tiere und Pflanzen eingearbeitet waren sowie Gesichter und Gestalten von Generationen und Generationen von Menschen, jungen und alten, glücklichen und verzweifelten.
Eine wachsende Wärme in Custos Bewusstsein sagte ihm, dass jemand seinen Ausguck auf der Mauer besetzt hatte. Er streckte seinen Geist aus, um Identität und Absicht desjenigen zu klären, bevor er umdrehte und einen anderen Weg nahm. Er befand sich wirklich nicht in der Stimmung.
Ach. Sein vordem unbekannter Cousin Luca war wieder gekommen, um auf ihn aufzupassen. Es könnte schlimmer sein.
Custo gesellte sich zu Luca, der an dem Steinwall über dem weitläufigen Gebiet der Zwielichtlande lehnte. Von dort blickte er hinunter auf die diamantweiße Küste des breiten, grauen Kanals und den sich anschließenden Schattenwald, dessen Blätter so dunkel und wandelbar wie Nachtschattengewächse wirkten. Die einzige Konstante in den Zwielichtlanden war die verführerische Frage, Was, wenn …?
Der Tod konnte jeden Augenblick zurückkehren. Aus diesem Blickwinkel und von dieser Höhe aus musste das kleine Boot des Schattenmannes zu sehen sein. Custos Fahrkarte hinaus.
»Geh weg«, forderte Custo ihn auf.
Luca lachte. »Ich dachte, du sehnst dich vielleicht nach etwas Gesellschaft.«
»Du weißt, dass das nicht der Fall ist.« Er musste hier raus. Er musste einen Weg finden, in die Welt der Sterblichen zurückzukehren und Adam zu warnen. Den hatte der Geisterkrieg so absorbiert, dass er sicher nicht auf die Idee kam, in den eigenen Reihen nach einem Saboteur zu suchen, selbst nicht nach Spencers Verrat. Adam war einfach zu vertrauensselig. Ohne Adam würde das Segue Institut zugrunde gehen, und ohne Segue würde die Welt eines Tages von Geistern beherrscht.
Luca seufzte. »Vielleicht kommt dir die Zeit erträglicher vor, wenn du einen Dienst übernimmst. Eventuell findest du deine Bestimmung. Es ist Großes zu leisten.«
Nichts, für das er sich eignete. »Ich ziehe die Einsamkeit vor.«
Dass Custo bei der Gnadenrettung durch den Himmel einigermaßen bei Verstand geblieben war, lag nur daran, dass sich an ihm trotz der überschwänglichen – und seiner Meinung nach leicht zwanghaften – Ordnung dieses Ortes, nichts verändert hatte. Zumindest soweit er das beurteilen konnte. Er war er immer noch er selbst, und wenn er auf der Außenmauer warten wollte, versuchte ihn niemand zu etwas anderem zu zwingen. Allein für diese Gnade verdiente Luca seine Aufmerksamkeit.
Luca war in seinen späten Vierzigern gestorben, wirkte aber jung und fit wie fünfundzwanzig, lässig in Jeans und ein weißes T-Shirt gekleidet, während Custo Schwarz trug. Luca hatte lange dunkle Locken, ein beinahe feminines Äußeres, wäre da nicht dieser intensive Blick in seinen dunklen Augen gewesen.
»Vielleicht findest du deine Erinnerungen dann weniger störend«, gab Luca zu bedenken.
Nein, danke. Außer seinen Erinnerungen – den guten, den schlechten und den ganz schlechten – war ihm nichts geblieben. Alles, was ihn ausmachte. Er wollte nichts anderes werden. Niemand anders.
»Nun, wenn du so weit bist. Ich werde dich immer finden.« Luca legte kurz eine Hand auf Custos Schulter und stieg dann die Treppenstufen hinab.
Custo weigerte sich, sich zu verabschieden, und wandte sich wieder seinem Aussichtspunkt zu. Im Himmel gab es keinen Abschied, nur ungewollte, endlose Begrüßungen.
Ein Blinzeln oder eine Ewigkeit später tauchte das Boot auf. Custo klammerte sich an die Mauer, um einen Anflug von Vorfreude zu unterdrücken.
Er wusste nicht, wie lange er gewartet hatte. Eine Minute? Ein Jahr? Ein Jahrtausend? Er konnte es unmöglich sagen.
Das schmale Boot beförderte zwei Passagiere, einen alten Mann, dessen weiße Haare im Schein des Tores leuchteten, und den großen, grimmigen Schattenmann, in wallende Dunkelheit gehüllt. Der alte Mann passierte das Tor, und im Himmel brachen Jubel und Willkommensrufe aus. Das Tor schloss sich vor dem mächtigen Pochen aus Zwielichtlande.
Aber diesmal fuhr der Tod nicht wieder ab, obwohl göttliches Licht seinen Umhang durchdrang und ihn daran zurück zu den dunklen Bäumen zerrte. Seine glänzenden schwarzen Haare wehten im gleißenden Licht des Tores von den breiten Schultern. Sein nackter Körper war muskulös und die dunkle Haut des Todesboten schwarz gefleckt, verbrannt von der Helligkeit des Himmels. So schnell wie das Licht seine Nasenspitze versengte, erneuerte der Schatten sie. Der Tod wirkte ernst, vor Anstrengung traten seine hohen Wangenknochen hervor, aber nichts deutete daraufhin, dass er sich zurückzog.
Endlich.
»Kathleen!«, rief der Schattenmann wütend in Richtung Mauer, seine Stimme tönte voll, tief und gebrochen. Sein Zorn ließ das Tor erbeben und die Farbe der Mauer dunkel werden.
Endlich suchte er sie, die Frau, die den Tod dazu verführt hatte, sich zu verlieben. Wieso jetzt, nach all der Zeit? War auf der Erde etwas geschehen?
Custo musste nach Hause. Die Unwissenheit quälte ihn.
»Kathleen!«, rief der Tod wieder, lauter und entschiedener diesmal. Trotzig ballte er die freie Hand an seiner Seite zur Faust; mit der anderen umklammerte er den Griff seiner Sense, seine Knöchel waren schwarz gesprenkelt. Er neigte den Körper, als stemmte er sich gegen einen brutalen, heftigen Wind. Ein Gesetz des Himmels, eines von Gott weiß wie vielen, verbot den Bewohnern der Zwielichtlande, sich in den Mauern aufzuhalten.
Vielleicht …
Custo versuchte, mit seinem Geist die verlorene Liebe des Todes zu finden. Vielleicht konnte er mit dem Herrscher der Zwielichtlande ein Geschäft machen, wenn er ihm einen Gefallen tat. Custo warf seinen Geist aus wie ein Netz, kam jedoch ohne Fang zurück. Er versuchte es noch einmal und durchsiebte alles mit größerer Sorgfalt. Nichts. Verdammt.
Kathleen war nicht im Himmel.
»Kathleen!« Der Tod warf die Sense ins Wasser, als würde er jede weitere Zusammenarbeit mit dem Göttlichen verweigern. Das Licht des Himmels riss seinen Umhang in Streifen.
In Custos Kopf reifte ein Entschluss heran. Auch für ihn war der Himmel nicht der richtige Ort.
»He!«, rief er von der Mauer herab.
Der Schattenmann sah nach oben. Seine vollkommen schwarzen Augen strahlten Macht aus.
»Ich tausche mit dir«, bot Custo an. War so etwas möglich?
Keine Antwort, er spürte nur ein Pochen, als der Tod ihn, bis in die Seele hinein, einer gründlichen Prüfung unterzog.
»Willst du rein oder nicht? Ich gehöre nicht in den Himmel und habe keine Lust hier herumzuhängen, bis sie das herausfinden.« Jetzt war überaus deutlich, dass er nicht hierher gehörte.
Custo blickte über seine Schulter. Niemand war hinter ihm her. Noch nicht.
»Ich will.« Der Schattenmann sprach die Worte wie einen Eid aus. Der Tonfall erschütterte Custo bis ins Mark. Er war froh, dass er nicht da sein würde, wenn der Tod herausfand, dass Kathleen sich woanders aufhielt.
Custo grinste. »Komm zum Tor.«
Custo nahm zwei oder drei Stufen auf einmal. Er blickte nicht zu den grasbedeckten Ebenen, die zu den Großen Hallen führten. Er wollte nicht die Nerven verlieren, musste seine Chance nutzen.
Vorsichtig tastete er die geschnitzte Oberfläche des Tores ab. Als er die aufwendig gearbeiteten Figuren eines sich umarmenden Paares berührte, die das Schloss zum Himmel markierten, wurde seine Hand warm, sie brannte. Er nahm seinen ganzen Willen zusammen und drückte dagegen.
Knarrend öffnete sich das Tor.
Custo stellte fest, dass sich die brennende Hand des Schattenmanns genau seiner gegenüber befand. Ein Lichtblitz, und sie tauschten ihre Positionen. Custo befand sich draußen.
Segue.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte Custo quer über den Strand. Er sprang in den Kanal und schwamm auf das treibende Boot zu. Mit etwas Glück gab es darin ein Ruder. Er erschrak über die Kälte des Wassers, verlor jedoch nicht an Geschwindigkeit. Die salzige Brühe lief ihm in den Mund, in Ohren und Nase. Er blinzelte gegen die brennenden Tropfen in seinen Augen an und wollte sich rasch einen Weg durch das Wasser bahnen.
Während er schwamm, prüfte er mit seinem Geist, ob man ihn verfolgte. Seine Wahrnehmung erweiterte sich, und er entdeckte Luca, der zusammen mit einer Gruppe von Leuten nach ihm Ausschau hielt und seinen Fortschritt verfolgte. Unter ihm löste sich der sandige Boden auf, und das Wasser gewann schnell an Tiefe.
An dem schmalen grauen Boot des Schattenmanns angekommen, streifte etwas sanft seinen Körper. Das Boot neigte sich gefährlich zur Seite, als Custo ein Bein über den Rand schwang und sich nach oben zog, und als er den Rest seines nassen Körpers hineinrollte, brachte er es beinahe zum Kentern. Er kniete sich sofort hin und blickte in das Wasser.
Der Schatten einer riesigen Kreatur – kein Fisch – tauchte auf. Er würde es als Meerjungfrau beschreiben, deren grünliche Haut über ausgeprägten Wangenknochen ins Blaue überging und ihr die Gesichtszüge einer Wassergöttin verlieh. Wie bei Medusa schlängelten sich ihre Haare wie dicke Tentakel um ihren Kopf, und während sie ihn beobachtete, blinzelte sie schnell mit ihren schwarzen Augen. Sie lag auf dem Rücken, sodass das Wasser um ihre vollen, festen Brüste schwappte.
Oh, süße Schönheit. Nebel waberte durch seinen Kopf, Adam und Segue und die Erde wichen aus seinem Bewusstsein. Adam würde ihn verstehen.
Die Meerjungfrau lächelte und reizte einen ihrer Nippel.
Eine Welle der Lust durchströmte Custo und sammelte sich qualvoll in seinen Lenden. Sein plötzliches Begehren spülte alle Gedanken fort, es gab nur noch den wundervollen geschwungenen Körper der Meerjungfrau. Sein Blick glitt über ihre glatte Gestalt und suchte nach einem Ort, an dem er in sie eintauchen und in der Ekstase versinken konnte. Was für ein Tod!
Ein gigantisches Brüllen zog seine Aufmerksamkeit zurück zu der riesigen Mauer. Der tiefe wütende Schrei des Schattenmannes erschütterte die sandige Küste vor dem Himmelstor wie ein Erdbeben, die Körner kräuselten sich zu feinen Wellen.
Oh, oh. Anscheinend hatte der Tod entdeckt, dass seine Liebste nicht im Himmel war.
Mit der Wut des Schattenmanns stieg der Wasserstand, und das Boot schaukelte gefährlich auf einer Welle, als das Wasser des Kanals plötzlich mit einem lauten saugenden Geräusch vom Waldrand zurückwich.
Die Meerjungfrau kreischte und entblößte spitze Piranhazähne, bevor sie in die bewegte See abtauchte.
Custo wich zurück – das war nicht der Kuss, von dem er geträumt hatte.
Ein Tsunami bildete sich, und die schlummernde Kraft des Wassers erwachte. Custo suchte nach einem Ruder. Nichts. Aber ein Ruder konnte ihn ohnehin nicht retten. Er saß auf dem Boden des Bootes und klammerte sich an die Seitenwände.
Mit einem plötzlichen Stoß wurde die Barke in Richtung Zwielichtlande geschleudert. Wie ein Speer segelte er durch die Luft, bis das Wasser den Wald erreichte, er den Halt verlor und gegen einen Baum schleuderte. Verzweifelt klammerte er sich an die Äste, unter ihm toste das Wasser. Das Boot krängte, trieb davon und zerschellte. Mit den Splittern regnete die bittere Enttäuschung des Schattenmannes auf ihn herab.
Custo schüttelte den Kopf, und zusammen mit dem Wasser verschwand die Verlockung durch die Meerjungfrau. Sie hatte sich seinen Geist untertan gemacht. Wenn ihre Macht über ihn ein Hinweis sein sollte, waren die Zwielichtlande ein ziemlich gefährlicher Ort.
Er blieb in seinem Nest, bis sich das Wasser zurückzog, schüttelte noch immer schockiert die Äste und suchte das dichte Unterholz unter sich nach Gefahren ab. Als er nichts entdeckte, machte er sich auf den Weg hinunter in den Schlick. Das war harte Arbeit. Seine Jeans klebten an den Beinen und behinderten ihn beim Klettern, ein knochiger Zweig riss sein Hemd unterhalb des Ärmels auf. Dennoch schaffte er es, den Boden zu erreichen, und lief durch den matschigen Sumpf in die Dunkelheit.
Die Welt der Sterblichen musste auf der anderen Seite des Waldes sein, oder? Durch die Dunkelheit und über eine helle Kreuzung, dann musste die Erde einfach nur diesen namenlosen Mistkerl wieder aufnehmen. Dann Segue und die Nachricht für Adam. Und wie es danach weiterging, wusste er nicht.
Die feuchte Luft trieb einen kalten Schauder über seine Haut, doch er ignorierte ihn und lief weiter in den Wald hinein, um nicht gefasst zu werden. Es gab keinen Weg, nur Schatten und schwarze Baumstämme, sanft beschienen von einer nicht zu ortenden Lichtquelle. Der Geruch von Holz herrschte vor, allerdings konnte er keine Baumsorten unterscheiden und scherte sich auch nicht darum. Gefährliche Baumwurzeln überwucherten die Erde unter ihm.
Er schien deutlich besser in der Zivilisation aufgehoben und würde einen Straßenkampf stets einem Waldspaziergang vorziehen.
Wieder versuchte er, seinen Geist auszustrecken, aber diese Fähigkeit war in dem Wald gestorben. Er wusste nicht, was vor ihm oder was hinter ihm lag, zumindest nicht mit Sicherheit. Aber es musste einen Rückweg geben. Adams Institut hatte die Existenz von Gespenstern nachgewiesen. Segue musste nur Platz für ein weiteres Gespenst schaffen.
Ein leuchtendes Rot erregte seine Aufmerksamkeit, saftige Beeren hingen dick und schwer wie Trauben an den Ästen eines Busches. Bei ihrem verführerischen Geruch lief Custo das Wasser im Mund zusammen. Plötzlich fühlte sich sein Magen elendig hohl an. Wie praktisch, dass das Obst gerade da war, wenn er es brauchte. Er griff nach einer vollen Traube und leckte sich voller Vorfreude die Lippen, doch dann hielt er inne.
Er musste nichts essen. Er war tot.
Dennoch versprachen die Beeren eine saftige Geschmacksexplosion in seinem Mund. Nur ein Biss …
Nein. Nach der Meerjungfrau konnte er nichts mehr trauen. Jede Geschichte, jedes Märchen, das er je gehört hatte, riet davon ab, im Jenseits etwas zu essen. Im Schattenreich durfte er nichts und niemandem trauen. Custo wandte sich ab.
Ein kleines Wesen, das einem Kaninchen ähnelte, sauste durch die Bäume. Es blieb stehen, setzte sich auf die Hinterbeine, reckte den Kopf in die Höhe und sah ihn aus allzu menschlichen Augen an. Seltsam. Das Tier hob den Kopf, als witterte es Gefahr, und hoppelte davon.
Custo lauschte ebenfalls, aber er hörte nur das Ächzen und Knarren der Bäume. Ein gelegentliches Knacken. Ein unheimliches Jaulen.
Nein, kein Jaulen. Traurige, langsame Geigen.
Er drehte sich um und ließ den Blick suchend über die Bäume gleiten. Vor ihm schimmerte ein Streifen weißen Lichtes, der zum Teil von schwarzen Stämmen verdeckt wurde. Das Licht nahm ab und hellte wieder auf.
Er ging darauf zu, um es zu untersuchen, und entdeckte eine Lichtung, umgeben von knorrigen alten Bäumen. In der Mitte tanzte eine Frau. Sie bestand aus Licht und war schlank, groß und verloren, ihre Haut blass und schimmernd. Ihre dunklen Haare hatte sie auf dem Hinterkopf zu einem Knoten hochgesteckt, wie eine Fee oder eine Ballerina. Auf Zehenspitzen glitt sie dahin und setzte sich mit jeder Dehnung und Beugung ihres Körpers über die Schwerkraft hinweg. Die bewegende Musik gehörte zu ihr. Sie berührte ihn.
Noch mehr Feenzauber? Es war ihm egal.
Sie hielt die meiste Zeit den Blick unendlich traurig auf den Boden gerichtet, aber als sie das Gesicht hob, um eine Drehung zu tanzen, war es voller Hoffnung, und er wusste, dass er nie mehr derselbe sein würde.
Sie musste ihm gehören. Er spürte es mit jeder geschundenen Faser seines Körpers.
Die sanfte Linie ihres Kinns, die jungen vollen Lippen und ihre märchenhaften Augen schienen perfekt. Plötzlich überkamen ihn heftige Zweifel: Die Frau – kaum mehr als ein Mädchen – war alles, was er nicht war. Er rau, sie weich und geschmeidig. Er gierig und grob, ihre Bewegungen voller Magie, wie ein Traum. Er verdorben und verbraucht, sie strahlend und frisch.
Custo schob den Zweifel beiseite. Nun, er war eben ein selbstsüchtiger Mistkerl. Schade. Er musste sie bekommen, oder er würde für immer leiden.
Angespannt und voller Erwartung versteckte er sich hinter einem dicken Baum. Er wollte sie nicht erschrecken, aber wenn sie sich nun einmal in diese Richtung bewegt hatte …
Ein Knurren drang über die Lichtung.
Custos Aufmerksamkeit zuckte zu den dunklen Bäumen auf der anderen Seite. Ein riesiger schwarzer Wolf bleckte die Zähne, duckte sich und machte sich bereit, die Frau anzugreifen.
Die Tänzerin verspannte sich etwas, fuhr jedoch mit ihren Bewegungen fort. Wieso? Ganz offensichtlich wusste sie um die Anwesenheit des Wolfs. Als sie noch stärker erblasste, merkte er, dass sie Angst hatte. Wieso wich sie nicht zurück?
Der Wolf entdeckte Custo und veränderte seine Haltung, er legte die Ohren an und bereitete sich auf einen Angriff vor.
Eine Zorneswelle packte Custo. Er durfte nicht zulassen, dass der Wolf ihr etwas antat.
Mit ausgebreiteten Armen trat er langsam aus den Bäumen hervor. Seine Aufmerksamkeit richtete sich zugleich auf die verschreckte Frau, die ausgerutscht und stehen geblieben war, und auf den gefährlichen Wolf, der die Lefzen nach oben zog und seine messerscharfen Zähne bleckte.
Custo trat in die Mitte der Lichtung. Der Blick der Frau glitt von ihm zu dem Wolf und weiter zu den Bäumen hinter ihnen, als hätte sie dort etwas entdeckt.
»Oh, nein. Nicht schon wieder«, murmelte sie. Dann sagte sie lauter, mit aufgesetzter Heiterkeit: »Nein, Jasper. Hier ist nur eine glatte Stelle auf dem Boden. Hat jemand etwas Kolofonium dabei?« Ihre nervöse Stimme klang seltsam verzerrt und entfernt. Der Glanz ihrer Haut ließ nach, ihre Magie veränderte sich.
Mit zwei riesigen Sprüngen schoss der Wolf auf sie zu. Custo warf sich dazwischen, stieß die Frau zur Seite und brachte sie so in Sicherheit. Der Wolf krachte schwer auf den Rücken, und sie fielen gemeinsam auf den Boden.
Die Luft brannte wie Schnaps in seinen Lungen.
Ohne dass er einen Aufprall spürte, landete er auf einer harten Oberfläche. Das Mädchen wich flink zur Seite aus. Und der Wolf sprang über Custos Kopf hinweg in einen großen leeren Saal, in dem sich rote Samtsitze unter Balkonen hintereinander reihten. Dann verschwand er in der Dunkelheit. Es war ein Theater.
»Ich habe etwas dabei, Annabella«, sagte jemand.
Die Tänzerin antwortete nicht; sie starrte ängstlich zu Custo und wirkte überaus reizend. Die anderen Sterblichen beachteten ihn nicht, als wäre er nicht da, obwohl er sich auf der Bühne befand.
Er war zurück, wieder auf die Erde gelangt. Aber als was?
Dann begann er zu brennen. Er bestand nicht aus fester Materie, dennoch brannte er. Sein Körper schrie vor Schmerz, und er rannte los.
»Nein, warte!«, rief das Mädchen.
Er hätte gern geantwortet, aber er ertrug die Hitze nicht. Jeder Nerv in ihm bebte und knisterte. Er glitt durch die Lagen aus Vorhängen an der Seite der Bühne und bemerkte, dass sich der Staub aus den Ecken erhob, um ihn zu jagen. Schmutz und Feuchtigkeit verbanden sich zu einem furiosen Schwarm, der ihn verfolgte. Jedes lose Staubkorn und jeder Tropfen sammelte sich um ihn.
Er rannte, obwohl er keine Füße besaß, mit denen er den Boden berührte.
Er raste einen gewundenen Gang hinunter und floh durch einen Ausgang, in dem sich Raucher aneinanderdrängten, in die Nacht. Auf dem Bürgersteig senkte sich die Wolke aus Staub und Feuchtigkeit auf ihn herab. Der Tornado drückte ihn auf den Boden, umfing ihn und … formte ihn.
Er spürte, wie sich seine Atome neu ordneten. Wie die Moleküle erst zersprangen und sich dann zu frischen Zellen zusammensetzten, aus denen sich Organe, Haut und Knochen bildeten. Als seine Sehnen rissen und sich neu spannten, zuckte er erschrocken zusammen. Dann merkte er, wie sich die Flüssigkeit in seinem Körper zu Blut verdickte und – angetrieben von seinem Herzschlag – zum ersten Mal durch seine neuen Venen strömte. Mit dem ersten Atemzug schrie er sein Leid heraus und wand sich auf dem Pflaster. Dann weinte er, erstickt und heiser.
»Holen Sie die Polizei«, rief jemand.
Custo wischte sich die triefende Nase und die Augen, dann krabbelte er zurück zu dem Gebäude. Als er sich das Hinterteil auf dem Asphalt aufriss, registrierte er, dass er nackt war.
»Bleiben Sie ganz ruhig«, sagte ein Mann und streckte beschwichtigend die Arme aus. Ein jugendlicher Typ mit Jogginghosen und Sportschuhen. »Es ist Hilfe unterwegs.«
Hilfe? Er musste verrückt sein.
Eine andere Stimme hallte von den Mauern des Gebäudes wider. Mehr Menschen tauchten auf.
Custo keuchte, schaffte es jedoch aufzustehen. Seine Knie gaben nach, aber er stützte sich an einem rostigen Geländer ab und hielt sich aufrecht. Ein heftiges Zittern überlief ihn. Verdammt, war das kalt. So verdammt kalt.
»Halten Sie Abstand«, sagte der Mann und wich selbst ein paar Schritte zurück.
Custo blickte sich um. Wo zum Teufel befand er sich? Um ihn herum ragten hohe Gebäude auf, die meisten von ihnen waren grau, aber eines hatte eine glänzende verspiegelte Fassade.
Er drehte sich um, trat taumelnd in ein Loch und suchte an dem Gebäude Halt. Als er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, beschleunigte er seinen Schritt, und tauchte beim Ertönen einer Polizeisirene in eine Gasse ein. Zitternd vor Schreck und mit einem seltsamen Schwindelgefühl wartete er dort.
Custo hob die Hand und dehnte die Finger, so dass er die Handfläche sehen konnte, dann drehte er sie um. Anscheinend war es seine eigene, nur ohne die Narbe über den Knöcheln. Er schloss die Finger zu einer Faust und drückte sie, bis die Hand brannte. Er hatte wieder Kraft. Er war mit Sicherheit kein Gespenst. Ein Engel? Keine Ahnung. Vielleicht hätte er Luca mehr Fragen stellen sollen, als er noch die Gelegenheit dazu hatte.
Er versuchte den Trick der Engel und öffnete seinen Geist. Die Menschheit krachte in sein Bewusstsein, Seele für Seele, ihre inneren Stimmen machten jedes Denken unmöglich. Das war zu viel, viel zu viel. Er versuchte, sich von ihnen zu befreien, konnte sich selbst in dem Durcheinander aber nicht finden. Er holte tief Luft und suchte nach ihr. Er griff nach ihr wie nach einer lebensrettenden Leine und spürte ein wonniges Ziehen. Mit dem Wissen, dass das Mädchen dort drinnen in Sicherheit war, kehrte sein Verstand zurück. Er drang in ihre Gedanken ein – sie wollte sich auf den Nachhauseweg machen und rechnete unterwegs mit einem tätlichen Angriff.
Sein neues Herz zog sich zusammen. Wovor hatte sie Angst?
Vor dem Wolf. Das musste es sein.
Custo erinnerte sich an den Angriff des Tieres. Den Zusammenstoß. Den Sturz. Schreckliche Schuldgefühle überkamen ihn. Er war dafür verantwortlich, dass das Biest in die Welt der Sterblichen gelangt war. Sie hatte den Weg frei gemacht, aber er hatte den Wolf hinüberbefördert.
Nun, der Wolf durfte sie nicht bekommen. Bald würde ganz Segue nach ihm suchen und das Mädchen nicht mehr belästigt werden. Er musste sich nur beeilen.
Custo wartete hinter einem Müllcontainer, bis ein armer Herumtreiber vorbeikam. Er packte ihn, nahm ihn in den Schwitzkasten, hielt ihm den Mund zu und zerrte ihn in eine Gasse. Der Mann wehrte sich, war aber zu klein und zu leicht, um ihm etwas anhaben zu können.
»Ich will nur deine Hose«, knurrte Custo dem Mann ins Ohr. Drei Minuten später schwankte Custo voll bekleidet aus der Gasse. Er lief zur nächsten Ecke. Auf den Straßenschildern stand W FIFTY-SIXTH und AVE OF THE AMERICAS. New York City. Stadtmitte.
Dann wusste er, wohin er gehen musste. Das Segue Institut verfügte überall über sichere Gebäude. In New York City kannte Custo vier. Vier plus eins, letzteres ein sicherer Ort, von dem nur er und Adam wussten. Sobald er dort eintraf, hatte er Zugang zu allem, was er brauchte, zu Bargeld, Essen und Waffen. Am wichtigsten war, dass er Adam suchen und warnen konnte.
Aber nicht ohne das Mädchen.