22

»Mom, ich weiß, dass ich ihn erst seit ein paar Tagen kenne.« Annabella hatte das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt, während sie ein paar Kartons durchwühlte, die Soldaten aus Segue ihr aus ihrer Wohnung gebracht hatten. Anscheinend hatte Adam sie beim Wort genommen, als sie gesagt hatte, nie mehr dorthin zurückzugehen.

Die Wohnung, die sie mit Custo in Segue teilte, war mit braunen Kartons vollgestellt und roch nach Pappe und Packband. Es herrschte völliges Chaos, Annabella hatte bei ihrer Sucherei überall Kleiderhaufen und diverse andere Dinge auf dem Boden hinterlassen. Und nachdem Custo und sie nun beschlossen hatten umzuziehen, musste sie alles wieder einpacken.

Wenn sie nicht bald ihren Vorrat an Spitzenschuhen fand, kam sie zu spät zur Probe. Venroy hatte sie ohnehin schon auf dem Kieker, weil sie vor zwei Tagen so früh den Empfang verlassen hatte. Nur gut, dass man sie in den Fernsehberichten über die Auseinandersetzung in der Stadt nicht erkannte. Auf den Videoaufnahmen von Mobiltelefonen war sie weniger unscharf, aber Adam kümmerte sich darum.

Den gestrigen Tag hatte sie mit Custo im Bett verbracht und sich mit ihm gemeinsam ›erholt‹, aber jetzt war es Zeit, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Sie musste sich einen Namen machen.

»Dann ist es eindeutig zu früh, um zu ihm zu ziehen«, sagte ihre Mutter. »Du kennst den Mann doch kaum.«

Annabella wusste, dass Custo gut und stark und gefühlvoll war. Bei ihm fühlte sie sich sicherer als irgendwo anders auf der Welt oder jenseits von ihr. Er half ihr, ihre Gabe zu beherrschen, genau wie sie ihm half, seine neuen Fähigkeiten zu kontrollieren. Wenn sie nicht tanzte, halfen sie gemeinsam, weitere Grenzüberschreitungen zwischen den Welten zu verhindern.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich zu ihm ziehe.« Was der Wahrheit entsprach. Custo besaß keine Wohnung. »Ich wohne bei seinem Freund, bis ich etwas gefunden habe. Ich kann nicht mehr in meiner Wohnung schlafen, nachdem ich weiß, dass nebenan jemand ermordet wurde.«

»Schlaft ihr in einem Bett?«

Verdammt, ihre Mutter war schlau. Annabella hatte damit gerechnet, dass die Sache mit dem Mord sie sicher wieder so aufregen würde, dass sie nur noch von den Gefahren des Großstadtlebens reden würde.

»Das geht dich nichts an«, erklärte Annabella etwas zugeknöpft.

»Dann wohnst du mit ihm zusammen.« Langes Schweigen. »Annabella, es sieht dir überhaupt nicht ähnlich, dich so Knall auf Fall zu verlieben. Ich mache mir Sorgen. Ich will nicht, dass du verletzt wirst oder alles aufs Spiel setzt, was du mit deinem Tanzen erreicht hast.«

»Er ist ein guter Kerl, Mom. Ich bin verrückt nach ihm und wette, du wirst es auch sein.«

Annabella spürte einen Anflug von Sorge und merkte, dass ihre Zukunft mit Custo sie beschäftigte. Die Tatsache, dass er wie ein Mensch alterte, war ziemlich tröstlich, aber sie mussten trotzdem herausfinden, wie sie überhaupt miteinander leben konnten, vor allem da er etwas ungewöhnlich aussah. Sie mussten eine halbwegs plausible Erklärung für die dunklen Linien auf seinem Körper finden. Dass er einen Schattenwolf verschlungen hatte, klang vielleicht nicht ganz überzeugend.

Wieder Schweigen am anderen Ende, etwas länger diesmal. Dann ein schwerer Seufzer. »Bring ihn Sonntag zum Abendessen mit.«

Ihre Mutter war ihre beste Freundin; sie konnte ihr Custo nicht lange vorenthalten. »Da habe ich eine andere Vorstellung. Wie wäre es Dienstag?«

»Schön, dann am Dienstag. Ich rufe deinen Bruder an, damit er deinem Custo auch ein bisschen auf den Zahn fühlen kann.«

Annabella lächelte. Es würde lustig werden, Custo dabei zuzusehen, wie er sich wand und drehte. Und noch mehr, ihn später damit aufzuziehen.

Hinter ihr raschelte etwas. Annabella drehte sich um, und entdeckte Zoe, die neben einem ihrer Kartons hockte. Mit einem Ratschen zog Zoe das Klebeband ab.

»Äh, Mom, ich muss jetzt zur Probe. Bis Dienstag! Alles Liebe.« Annabella beendete das Gespräch und sagte zu Zoe gewandt: »Das sind nicht deine Sachen.«

Zoe hob den Blick, die schwarzen Ponyfransen fielen ihr in die Augen. Ohne Schminke sah sie aus wie ein trotziges Kind.

»Ich habe keine Sachen«, sagte Zoe. »Ich brauche etwas zum Anziehen. Ich lasse Abby hier nicht allein, und Adam oder Talia werde ich nicht um eine verdammte Sache bitten. Also bleibst nur du.«

Abigail machte nicht so gute Fortschritte, wie Dr. Lin es sich erhofft hatte, aber sie war stabil. Zoe musste sich große Sorgen gemacht haben. An einem fremden Ort, ohne Freunde und mit einer Horde gruseliger Monster kein Wunder, dass sie schlechte Laune hatte.

Zoe wühlte in einem Karton. Ein rosafarbener Spitzenschuh blitzte auf und ließ Annabellas Herz höher schlagen. Bingo! Wenn sie jetzt noch Custo aufstöberte, schaffte sie es pünktlich zur Probe.

»In den Kartons dort drüben findest du etwas zum Anziehen«, sagte Annabella und schnappte ihre Schuhe. »Und Schminke ist im Bad. Bedien dich.«

»Ich weiß nicht, warum du so fröhlich bist«, rief Zoe ihr hinterher. »Mit euch beiden, das kann doch nicht gut gehen.«

Annabella blickte sich um und hatte Mitlied mit ihr. Niemand konnte mit Sicherheit die Zukunft voraussagen, nicht Abigail und ganz sicher nicht Zoe. Das Mädchen besaß die schwer zu erklärende Fähigkeit unglücklicher Menschen, bei anderen die tiefsten Ängste zu spüren und zu schüren.

Es konnte nicht gut gehen?

Ha! »Aber ganz bestimmt.«

»Du siehst besser aus«, stellte Adam fest, als er sich von seinem Computerbildschirm zu ihm umdrehte. »Weniger hässlich, aber immer noch beunruhigend.«

Lächelnd ließ sich Custo Adam gegenüber auf einen Stuhl fallen und musterte die blauen Augen und die geschwollene Nase seines Freundes. »Du siehst immer noch furchtbar aus.«

»Ja. Talia ist wütend auf mich, weil ich verletzt bin. Man hätte sie beinahe wieder auf die Krankenstation bringen müssen, als sie davon erfahren hat.«

»Sie weiß aber schon, dass du hauptberuflich Geister jagst, oder?«

Adam lachte. »Sie will nicht, dass ich es ohne sie tue. Auch wenn sie in Zukunft mit dir und dem Orden nicht mehr so viel zu tun haben wird, ist sie erst einmal wütend.«

Das erinnerte Custo an etwas. »Apropos Talia und die Babys. Was machst du mit Gillian?«, fragte Custo. »Du kannst sie nicht einfach gehen lassen.«

»Warum nicht?«

»Sie weiß zu viel über Segue und über Talia. Die Geister waren so erpicht darauf, die Babys zu bekommen. Vermutlich wollten sie ihre Fähigkeiten für sich nutzen. Die Frau muss die Konsequenzen für ihr Handeln tragen.« Custo war kurz davor, zu ihrer Zelle hinunterzugehen und sie höchstpersönlich zu würgen.

Jegliche Heiterkeit verschwand aus Adams Gesicht. »Die Geister werden nicht einmal in die Nähe meiner Kinder kommen. Und dafür, dass sie es überhaupt gewagt haben, meine Familie zu bedrohen, werde ich jeden von ihnen jagen und umbringen. Zusammen mit dem Orden bin ich jetzt stark genug, um einen breiten Angriff zu starten.« Adam beugte sich vor und zog die Augenbrauen zusammen. »Und was die liebe Ärztin angeht, so überlasse ich sie der Gnade der Geister. Ohne ihre Verbindung zu Segue ist sie für die Geister nicht mehr als ein Leckerbissen.«

»Du lässt sie also gehen«, wiederholte Custo. Gillian würde den kurzen Rest ihres Lebens vollkommen verängstigt durch die Gegend rennen. Die Geister würden sie unweigerlich fassen. »Weiß Talia das?«

»Ja. Ich kann sie nicht von allem abschirmen. Sie wollte Gillian den Geistern mit roter Seidenschleife als Geschenk überreichen. Ihre Worte.« Adam lächelte schwach. »Die bevorstehende Mutterschaft hat, sagen wir, ihr Temperament verstärkt.«

»Hört sich ganz so an.« Talia war immer so still und fleißig gewesen. Außer, wenn sie geschrien hatte, natürlich.

Adam stützte die Ellbogen auf den Tisch, seine Miene hellte sich auf. »Luca und der Orden wollten nicht hierbleiben. Deshalb habe ich sie in unserer Außenstelle untergebracht. Wenn du nichts dagegen hast, gebe ich ihm das Okay, das Loft im obersten Stockwerk zu renovieren. Talia und ich möchten nicht dort wohnen, und es könnte durchaus praktisch sein.«

Custo zuckte mit den Schultern. Wenn jemand die Erinnerung an seinen Tod aus dem Loft verbannen konnte, dann der Orden. »Das ist gut. Es wird allerhöchste Zeit, dass die Bude einen neuen Anstrich bekommt.« Und Fenster. Und Fahrstuhltüren.

»Das hättest du alles in meinen Gedanken lesen können«, sagte Adam. »Was wolltest du also mit mir besprechen?«

Custo seufzte. Die Luft war zu schwer zum Atmen, aber er zwang sie in seine Lungen und wieder heraus. »Ich werde Segue verlassen.« Dafür war es allerhöchste Zeit.

Schweigen legte sich über den Raum.

»Ich glaube, ich habe gewusst, dass das kommen würde«, antwortete Adam und wirkte erschöpft. Gealtert.

Natürlich hatte Adam es gewusst. Custo schloss sich dem Orden an. Mit seinen neuen Fähigkeiten, deren gesamte Bandbreite und Stärke er erst noch erforschen musste, brauchten sie ihn mehr als je zuvor. Außerdem musste er eine Menge lernen.

»Wirst du so unvernünftig wie die anderen?«, fragte Adam.

Custo lächelte und spielte mit. »Nein, du bekommst keinen Zugang zu ihrem unserem Waffenlager. Die Waffen haben übernatürliche Fähigkeiten. Wenn wir zulassen, dass die Menschheit sie benutzt, gibt das nur Ärger.«

»Du hast dem Schattenmann den Hammer gegeben«, hielt Adam dagegen.

»Und ich werde die Verantwortung dafür tragen müssen, wenn er damit was auch immer für ein Chaos anrichtet.« Aber wenn der Schattenmann das Werkzeug nutzen konnte, um Kathleen wiederzufinden, war es die Ausnahme wert. Custo musste nicht erst Adams Gedanken lesen, um zu wissen, dass er seiner Meinung war.

Adam schüttelte den Kopf. »Unvernünftig.«

Da Segue und der Orden oft zusammenarbeiten würden, ging Custo davon aus, dass er diese Klage noch häufig von Adam zu hören bekommen würde.

Als es leise an der Tür klopfte, hob Adam den Blick.

Custo drehte sich um und sah Annabella. Sie trug ihre riesige Tanztasche über der Schulter und hatte ihre dunklen Haare zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden. Ihre Augen wirkten märchenhaft und riesig.

»Die Probe beginnt in einer Stunde«, sagte sie mit einem bedauernden Zucken.

Custo wusste, dass die Geste gespielt war. Es tat ihr nicht leid. Sie wollte jetzt gehen. Ihre Augen glänzten; sie wollte tanzen.

»Kommt ihr heute Abend hierher zurück?«, fragte Adam.

Annabella warf Custo einen Blick zu. Er nahm an, das sollte bedeuten Nein. Wir suchen uns etwas in der Stadt.

Ein hübsches Hotel mit allem Luxus. Nach den letzten Tagen hatten sie sich das mehr als verdient. Anschließend musste er eine Wohnung für sie suchen. Eine komfortable, aber sichere Bleibe, nicht zu weit entfernt vom neuen Sitz des Ordens und ihrer Ballettcompagnie. Luca hatte vermutlich nicht gemeint, dass er mit einer menschlichen Frau zusammenziehen sollte, als er von einem diskreten Leben unter den Menschen gesprochen hatte. Andererseits hatte Custo sich noch nie an irgendwelche Regeln gehalten. Er würde jetzt nicht damit anfangen.

Custo erhob sich. Ihm fehlten die Worte, um all das auszudrücken, was er Adam sagen wollte. Weil der fast sein gesamtes Leben für ihn da gewesen war. Ihm immer wieder den Hintern gerettet hatte. »Es war «

Adam räusperte sich. »Ja. Das war es.«

Über dem Schreibtisch schlugen sie die Hände gegeneinander und hielten sie fest. Custos Brust zog sich unangenehm zusammen. Er würde Adam weiterhin regelmäßig sehen, aber dies war ein Abschied.

Vor dem Büro legte Custo den Arm um Annabellas Schultern, und sie gingen den langen Flur hinunter. Sie umfasste seine Taille. Sie passten perfekt zueinander. Er entfernte sich von seiner Vergangenheit und schritt seiner Zukunft entgegen.

»Nun «, hob Annabella an.

Custo drückte den Knopf des Fahrstuhls, der sie zum Ausgang brachte. Die Fahrt in die Stadt dauerte eine Stunde. Er würde sie bei der Probe absetzen und dann zur Außenstelle von Segue fahren, um mit Luca die Renovierung zu besprechen. Wer auch immer die Konstruktion des Turms beaufsichtigt hatte, musste sich darauf verlassen haben, dass die Engel den Ort vor der menschlichen Wahrnehmung abschotten konnten. Sie lebten in gefährlichen Zeiten; das Sicherheitssystem der Außenstelle musste ohne Illusion funktionieren. Und natürlich mussten sie ihre Einstellung gegenüber modernen Waffen ändern. Wenn die Geister bewaffnet waren, musste es auch der Orden sein.

»Custo! Du hörst mir nicht zu.«

Er küsste Annabella auf den Kopf. »Tut mir leid. Was hast du noch gleich gesagt «

Sie schnitt eine Grimasse, dann sagte sie: »Weißt du, im Schattenreich «

»Ja, da kenne ich mich aus.« Und zwar immer besser.

Annabella kniff die Augen zusammen und bedachte ihn mit einem kühlen Blick.

Okay, sie machte keine Witze.

Sie biss sich auf die Lippe und holte tief Luft. »Weißt du noch, als du gesagt hast: ›Mach einen anständigen Mann aus mir‹?«

Custo knurrte innerlich. Sie zitierte ihn mal wieder. »Ja?«

»Hast du das ernst gemeint?«

Er runzelte die Stirn. Worauf wollte sie hinaus? Zwischen ihren Brauen bildete sich eine reizende Sorgenfalte, die er mit seinem Daumen glatt strich. Sie brauchte sich um nichts zu sorgen, außer um ihre Vorstellung. Um alles andere würde er sich kümmern.

»Was ich meine, ist «

Custo seufzte. Es wäre so viel einfacher, wenn sie zuließ, dass er ihre Gedanken las.

»Nun « Sie blinzelte hektisch, aber er sah Tränen in ihren Augen aufblitzen.

Oh. Sie wollte das »ewige Glück«. Heiraten, ein Haus und Babys wie Adam und Talia. In seinem Kopf war er bereits verheiratet. Sie war die Richtige, und das machte ein Stück Papier nicht mehr oder weniger wahr. Und das Haus? Musste zentral gelegen sein. Aber, ja, er wollte möglichst jede Nacht mit ihr in einem Bett verbringen. Konnte er sogar Kinder zeugen? Er hatte keine Ahnung. Nur gut, dass er an Wunder glaubte.

Annabella rang die Hände und wand sich immer noch. »Der Satz taucht normalerweise bei Bis-dass-der-Tod-euch-scheidet-Szenarien auf.«

Szenarien? Beinahe hätte Custo laut gelacht. Er nahm sie in die Arme und zog sie in die Mulde seines Körpers, die wie für Annabella geschaffen schien. Sie war weich und roch frisch vom Duschen. Er würde für ihr Szenario kämpfen, aber eine Sache wusste er ganz sicher.

»Der Tod kann uns nicht scheiden.«