12

Mit angespannten Schultern trat Custo von Annabella zurück. Er wollte sie nicht alleinlassen, vor allem nicht, wenn ihr so viele wichtige Fragen durch den Kopf gingen. Als er das letzte Mal nicht auf sie aufgepasst hatte, war Furchtbares geschehen. Und dafür trug er die Verantwortung. Er hatte den Wolf in diese Welt gebracht und geschworen, das Wesen sofort zurückzuschicken, aber bislang hatte er sie bereits zweimal fast an ihn verloren.

Allerdings war sie jetzt nicht allein. Adam war bei ihr und noch dazu in einem Turm voller Engel. Sie konnte nicht sicherer sein.

Der Raum hinter Luca, in dem eifriges Treiben herrschte, versprach ein paar interessante Informationen. Custo hatte zu Adam geblickt und dessen Gedanken gelesen, um zu sehen, was der von den schwer bewaffneten Männern hielt, die hinter ihnen den Eingang passiert hatten war die geschwungene Klinge ein Schwert oder ein Säbel aber Adam nahm nichts und niemand außer Luca wahr. Annabellas Gedanken kreisten immer um dieselben Fragen. Mit seinem letzten Kuss hatte er zumindest eine beantworten wollen, ihre Verwirrung aber nur noch verstärkt.

Ihre Gedanken rasten und würden unweigerlich zu Schlussfolgerungen kommen, die nicht zu seinem Vorteil waren, aber ihm blieb keine andere Wahl, als mitzugehen und den glitzernden scharfen Stahl zu untersuchen.

Als er einen Raum betrat, der wie eine elegante moderne Kommandozentrale wirkte, stieg sein Interesse schlagartig. An einer Wand hingen riesige Bildschirme, die wechselnde Bilder von Städten aus der ganzen Welt übertrugen. Über Satellitenbilder legten sich wechselnde Zahlen. Die Bildschirme auf der rechten Seite zeigten Wetterdaten, während die auf der linken in rasendem Tempo Fernsehnachrichten in unterschiedlichen Sprachen sendeten.

Die Männer und Frauen, Engel, widmeten sich verschiedenen Tätigkeiten. Alle waren modern gekleidet, als gehörten sie in die sterbliche Welt einige lässig, andere eher geschäftsmäßig, und wieder andere trugen Kampfanzüge. Einige beugten sich über Konsolen und spähten besorgt auf ihre Bildschirme. Die Kommunikation verlief mit hoher Geschwindigkeit über die Gedanken. Engel vor Ort erhielten Hinweise auf »Einbrüche« und Konflikte sowie Anweisungen, diese zu lösen.

GridC34, rief ein Mann in einem Außenbezirk.

Custo erschrak, bemerkte jedoch, dass sie auf einem der Bildschirme auf eine Ansammlung digitaler blauer Punkte deuteten und einen Ort auf einer Landzunge identifizierten, die von Inseln umgeben war. Griechenland.

Gib mir Athen, antwortete ein anderer. Augenblicklich zeigte ein zentraler Bildschirm das Gesicht eines Mannes mittleren Alters, die schwarzen Haare von silbrigen Fäden durchzogen, um Augen und Mund hatten sich Falten in seine Haut gegraben. Aber trotz dieser Zeichen des Alters wirkte sein durchdringender Blick unter den ergrauten Brauen eindeutig engelhaft.

Ein Engel, der alterte? Custo fehlten eindeutig ein paar Informationen.

Der Mann ließ den Blick durch den gesamten Kontrollraum gleiten und verharrte bei Custo. Der verlorene Sohn?

Die Aufmerksamkeit richtete sich kurz auf Custo, einige Dutzend Blicke, die alles sehen konnten, drangen in seine finstere Seele ein. Custo errötete, schob aber seinen Unmut beiseite. »Wohl kaum«, sagte er. Er mochte keine Gedankengespräche.

Du hast einen weiteren Einbruch in der Nähe der Küste, erklärte ein Mann vom Boden, ohne auf Custo zu achten.

Der Mann auf dem Bildschirm konzentrierte sich. Wir sehen es. Wahrscheinlich wieder eine Badenymphe, die versucht auszubrechen. Wasser ist unser empfindlichstes Medium. Ich schwöre euch, es vergeht keine Woche, in der sich nicht irgendein Narr vom Jenseits angezogen fühlt und dort verloren geht. Sex, Reichtum, sogar Essen bei all den abschreckenden Geschichten dort draußen sollte man doch meinen, dass die Menschheit das ein oder andere begreifen würde. Aber nein, die Geschichten werden zu Mythen, und sie machen immer wieder dieselben Fehler. Wir danken euch. Das Bild des Mannes verschwand vom Bildschirm.

Custo wandte sich an Luca. »Was ist das hier?«

Luca lächelte. »Das ist der Orden, einer der Dienste, gegen die du dich im Himmel so vehement gewehrt hast. Der Turm ist unsere nordamerikanisch-europäische Einheit. Lass mich dir alles zeigen. Ich glaube, du wirst nicht enttäuscht sein. Vielleicht möchtest du sogar bleiben.«

Hier bleiben? Custo verstand nicht.

»Ja«, erwiderte Luca. »Der Orden ist auf der Erde, um den Menschen zu helfen. In letzter Zeit waren wir überwiegend mit der wachsenden Zahl von Übertretungen zwischen dem Jenseits und der sterblichen Welt beschäftigt.«

Custo sah sich noch einmal um. Der Laden vibrierte vor Energie, Zielstrebigkeit und Arbeit. Die Engel in dem Raum wirkten voller Tatendrang, was seiner eigenen Ruhelosigkeit entsprach. Sie hatten eine Aufgabe, sie verfolgten und bekämpften mythologische Wesen. Es erinnerte ihn etwas an Segue.

»Hier entlang«, sagte Luca.

Das Kontrollzentrum erstreckte sich über weite Teile der ersten Etage. Dahinter führte eine breite Wendeltreppe nach oben, wie ein Lichtstrahl zum Himmel. Eine zeitgemäße und moderne Architektur. Im Himmel war alles uralt und geschichtsträchtig gewesen, der Turm dagegen spartanisch und klar. Ein Feuerschiff.

Custo blieb mitten auf der Treppe stehen, denn die feste Wand des Turmes wurde transparent. Auf der Straße dort unten herrschte der übliche lebendige Rhythmus der Stadt, der in direktem Widerspruch zu der klaren Ruhe im Inneren des Turmes stand.

»Sie können uns nicht sehen«, sagte Luca.

Das hatte Custo bereits selbst herausgefunden. »Wie kommt das?«

»Auf dieselbe Art, wie wir Gedanken lesen können, sind wir in der Lage, die Wahrnehmung zu manipulieren. Wir reduzieren die Sinnesschärfe in der Nähe des Turms so weit, dass nur Engel die Schwelle übertreten können.« Luca hob abwehrend die Hand und gab zu: »Das heißt, bis heute. Wenn es nicht Adam Thorne gewesen wäre, hätte man dich auf der Straße aufgehalten.«

Und Annabella?

Luca antwortete nicht, sondern stieg weiter die Stufen hinauf. Custo riss sich von dem Anblick der Stadt los und folgte ihm.

Vor einem großen Torbogen blieb Custo erneut stehen. Dahinter befand sich eine Waffenkammer, in die Custo ehrfürchtig eintrat. Entlang der Wand standen weißblaue Glaskästen mit einer funkelnden Auswahl an Klingen, Handschellen, Bögen und seltsam geformten Waffen. Klingen dominierten. Schwerter einige ziemlich breit, andere schmal und krumme Säbel. Zu seiner Linken befanden sich Rüstungen. War das dort ein Brustpanzer? Er begriff instinktiv, dass es sich hierbei nicht um normale Waffen handelte; sie waren nicht von den Händen Sterblicher hergestellt und geschliffen worden.

In der Mitte des Raumes befanden sich weitere Exponate. Schmale Schubladen deuteten daraufhin, dass sich darin noch mehr Waffen befanden. Von Neugierde getrieben trat er einen Schritt darauf zu und zog eine der Schubladen heraus. Vielleicht fand er jenen einem umgedrehten Dreizack ähnelnden Dolch, mit dem sie gestern Abend die Geister aus der Welt verbannt hatten.

Die Schublade glitt geräuschlos auf, doch darin lag nur unterschiedliches Werkzeug auf blauem Samt. Enttäuscht strich er mit dem Finger über den groben Griff eines Schmiedehammers. Das abgenutzte Holz glänzte, der Kopf auf einer Seite stumpf und auf der anderen gerundet. Nicht gerade das, wonach er gesucht hatte.

Als Custo die Schublade schloss, begann es in ihm zu arbeiten. Dieser Dolch wäre Adam in Segue verdammt nützlich. Wenn Custo seinem Führer nur einen Augenblick entkommen konnte, um den Raum zu durchsuchen

Luca zog die Augen zusammen; anscheinend konnte man aus dem Orden nichts stehlen.

Custo hasste es nicht ohne Grund, wenn Engel seine Gedanken lasen. Er musste wenigstens in der Lage sein, an ein Verbrechen zu denken, wenn er schon nicht dazu kam, es auszuführen. War es ein Wunder, dass er keine Lust hatte, sich in der Nähe von seinesgleichen aufzuhalten? Verschwinde aus meinem Kopf!

Er ertrug Lucas Gesellschaft nur deshalb, weil Luca nicht versuchte, sich mit ihm auf diese nervige Geist-zu-Geist-Art zu unterhalten.

»Was machen diese Sachen hier, wenn sie woanders hilfreich sein könnten?«, fragte Custo. Mit anderen Worten: Ich kenne jemanden, der mit den richtigen Waffen eine ganze Menge Geister töten könnte.

Luca zog eine Braue hoch und antwortete auf den unausgesprochenen Satz. »Adam muss mit dem zurechtkommen, was er hat. Die Waffen bleiben hier. Im Orden. Schließ dich uns an, dann kannst du dir deinen Teil nehmen.«

»Aber dann muss ich einer von euch werden.«

Luca lachte. »Das bist du doch schon. Ich weiß nicht, wieso du dich so dagegen sträubst. Nein, eigentlich verstehe ich es schon, aber ich hoffe, dass du zur Vernunft kommst.«

»Tu dir keinen Zwang an.« Um das Thema zu wechseln, sagte Custo: »Ich sehe keine Schusswaffen.«

Mit verschränkten Armen lehnte Luca am Eingang. »Wir debattieren schon lange darüber, ob wir moderne Kriegsmittel anschaffen sollten. Die meisten der jüngeren Mitglieder sind dafür, aber die Verwaltung des Ordens ist sehr altmodisch.«

»Im Kontrollraum habt ihr die neue Technologie eingeführt«, stellte Custo fest.

Luca zuckte mit den Schultern. »Viele unterscheiden strikt zwischen der Nutzung von Satelliten, die uns helfen, an Informationen zu kommen, und dem Einsatz von Automatikwaffen, mit denen Gewalt verbreitet wird. Jedes Leben, das zufällig verloren geht, ist eines zu viel.«

Das wusste Custo aus eigener Erfahrung; es brannte wie die Wunde in seinem Bauch. Nichtsdestotrotz ließ sich nicht leugnen, dass Feuerwaffen aufgrund ihrer Genauigkeit gegenüber einer Gruppe von Geistern ziemlich nützlich waren.

»Hier entlang«, sagte Luca und verließ die Waffenkammer durch einen weiteren kleinen Torbogen. »Versorgen wir erst einmal deine Wunde. Mit dieser Kugel in den Eingeweiden ist sonst keine Heilung möglich.«

Custo folgte ihm widerwillig. Wenn sein Bauch nicht so geschmerzt hätte, wäre er zurückgeblieben. »Du hast gesagt, dass sie mich umbringt.«

Die Vorstellung war mehr als beunruhigend. Er kannte seine Grenzen nicht wusste nicht, dass es für ihn überhaupt Grenzen gab.

»Das könnte passieren«, erwiderte Luca. »Wenn du ein Mensch wärst, wärst du schon lange tot.«

Sie betraten einen Raum, der zu kleineren verglasten Räumen führte, die an die Operationssäle in einem Krankenhaus erinnerten. An einer Wand standen diverse Geräte ordentlich in einer Reihe. Zwei Frauen in weißen Kitteln warteten neben einem erhöhten Bett. Daneben stand ein schmaler Arbeitstisch mit einem Tablett voll verstörender Instrumente. Und verdammt mit einer Nadel und einer Spritze.

»Ich dachte, Engel wären unsterblich«, sagte Custo. Er wollte nicht annähernd in die Nähe von diesem spitzen Instrument kommen. So stark waren seine Schmerzen nicht. »Wir sind bereits gestorben und wieder geheilt. Wie kann ich, wie können wir, getötet werden?«

Luca machte eine freigebige Geste. »Weil wir in der sterblichen Welt sind. Alles und jeder hier ist sterblich. Auf der Erde bist du ein sterblicher Engel, und als solcher alterst du und kannst getötet werden.«

Das ergab keinen Sinn. »Erst gestern Abend bin ich von Geistern verprügelt worden, man hat sogar ein paarmal auf mich geschossen. Heute bin ich, von diesem nervenden Schmerz abgesehen, kaum angeschlagen.«

»Gestern Abend hast du auf der Schwelle zum Tod gestanden, und das weißt du.« Luca hob eine Braue, als wollte er Custo auffordern, ihm zu widersprechen. »Hätten wir dir nicht geholfen, wärst du gestorben. Du hast diese Verletzungen ertragen und bist geheilt, weil du eine starke Seele hast, eine Seele, die fähig ist, viel Gutes oder Böses zu bewirken, je nach dem, wie du dich entscheidest. Aber wenn er stark genug belastet wird, kann und wird dein Körper sterben.«

Custo erinnerte sich an die lähmende Dunkelheit und wie lange er auf das ersehnte Brennen gewartet hatte, das die Heilung begleitete. Ja, er war gestern Abend etwas Unwiderruflichem sehr nahegekommen.

»Und was dann?« Custo war sich nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte.

»Dein Leben hast du bereits verloren, du hast also nur noch deine Seele. Wenn du ein zweites Mal stirbst, stirbst du für immer. Die Entscheidung, in die sterbliche Welt zurückzukehren, ist deshalb eine schwierige und sollte wohlüberlegt sein.«

Custo war über das Himmelstor gesprungen und wie verrückt auf die Bäume zugerast.

»Da die zweite Geburt traumatisch und schmerzhaft ist, steigen die Engel in den sicheren, schützenden Turm herab, wo sie versorgt werden, bis sie stark und weltgewandt genug sind, um zu arbeiten, ohne die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen.«

Er war nackt und schockiert auf einem Bürgersteig wiedergeboren worden und hatte anschließend einen armen Tölpel um seine Kleidung und sein Bargeld gebracht.

»Dann wird jeder sterbliche Engel mit einer Aufgabe, einer Mission zum Wohle der Menschheit, betraut. Normalerweise ist es zunächst etwas Kleines, Machbares. Dann folgt eine größere, schwierigere Aufgabe und dann eine weitere, bis der Engel sich entschließt, in den Himmel zurückzukehren, vorzugsweise lange, bevor er sterblichen Schaden erleidet«, endete Luca und wartete demonstrativ auf Custos nächste Frage.

Aber Custo war immer noch mit der ersten beschäftigt. »Du sagst, dass ich sterben kann.«

Lucas Mundwinkel zuckten. »Dass du sterben wirst, ja, wenn du lange in der sterblichen Welt bleibst oder nicht diese Kugel aus deiner Seite entfernst.«

Der OP-Tisch stand bereit, die Nadel wartete.

Nein, nein, nein. »Mir geht es vorerst gut.« Übersetzung: Jemand in Segue sollte die Kugel aus ihm herausholen. Seine Freunde warteten unten. Er war nicht scharf darauf, sich der Gnade der Frauen in Weiß auszuliefern.

Du wirst schlafen. Es tut überhaupt nicht weh. Das kam von der Brünetten.

»Rede nicht in meinem Kopf.« Custo knurrte fast. »Und nein, danke. Mir geht es gut.«

»Du forderst das Schicksal gern heraus, nicht wahr?«, fragte Luca. »Nun gut, das ist wie immer deine Entscheidung. Hier entlang « Sie drehten eine weitere Runde auf der ausladenden Treppe und betraten das Stockwerk darüber. Anstelle der breiten Torbögen in der Etage darunter führten hier diverse Flure vom Treppenabsatz weg. Luca ging in einen Flur, öffnete eine Tür und brachte ein einfaches, farbloses Schlafzimmer mit einem sich anschließenden Bad zum Vorschein. »Unterkünfte«, erklärte Luca.

Der Raum war kaum mehr als eine Zelle. »Ich bin kein Mönch«, widersprach Custo.

Luca seufzte schwer. »Wie schon gesagt, du forderst das Schicksal gern heraus. Das ist deine Entscheidung. Diese Räume werden nur zeitweilig genutzt. Die meisten erhalten eine Unterkunft in der Nähe ihres Postens irgendwo auf der Welt. Das schränkt das Kommen und Gehen im Turm ein und verringert die Gefahr, entdeckt zu werden. Wenn du im Kontrollraum arbeitest, wohnst du hier; wenn du draußen arbeitest, bekommst du ein eigenes Zuhause.«

Er könnte also dem Orden angehören, ohne wirklich einen der Bewohner ertragen zu müssen. Das war eine Überlegung wert, vor allem wenn er Zugang zu den Waffen hatte. Es musste einen Haken geben.

»Kein Haken«, entgegnete Luca. »Dienst. Du widmest dich dem Wohlergehen der Welt, was für dich eine Kleinigkeit ist, denn das tust du bereits. Du wärst nicht hier in der sterblichen Welt, wenn du dich nicht dazu entschlossen hättest.«

Custo schüttelte abwehrend den Kopf. Er befand sich hier auf der Erde, weil er über das Tor gesprungen und ausgebrochen war.

»Aber wieso bist du über das Tor gesprungen?«, fragte Luca.

»Weil dort oben niemand etwas unternehmen wollte.« Custos Herz schlug auf einmal heftig vor Wut. »Es war ein Krieg im Gang, und niemand wollte mir zuhören. Verdammt.«

»Wie oft bin ich während deiner Wache am Tor zu dir gekommen? Denk erst nach und beantworte mir dann die folgende Frage: Wer wollte nicht zuhören?« Luca neigte leicht ironisch den Kopf. »Jetzt hörst du zu. Schließ dich uns an.«

Custo konnte nicht glauben, was er da hörte. Was hatte er alles durchgemacht, den Tod verärgert, sich durch die Zwielichtlande gekämpft. War vollkommen unkontrolliert auf der Erde aufgeschlagen. Und hatte den Schattenwolf mitgebracht.

»Du hast schon immer gern den schwierigeren Weg gewählt«, stellte Luca fest.

»Geh aus meinem Kopf.«

Custo musste nachdenken. Das konnte er nicht, wenn Luca jede seiner Schlussfolgerungen kommentierte.

»Wieso kommst du nicht wieder mit nach unten, siehst eine Weile zu und überlegst es dir?«

»Du sollst mich auch nicht bevormunden.«

Luca hob beschwichtigend die Hände. »Ich versuche nur zu helfen.«

Dann drehte er sich um und ließ ihn in dem kleinen Zimmer allein. Custo konnte hören, wie er leise die Stufen hinunterging. Luca überließ ihn seinen Gedanken und gab ihm so viel Raum wie möglich, um die neuen Informationen zu verarbeiten und zu einer Entscheidung zu kommen. Eine, von der Luca meinte, dass er sie bereits getroffen hatte.

Hatte er?

Custo wusste es nicht. Luca war überzeugend, aber Custo war auf das Gespräch nicht vorbereitet gewesen. Er hatte damit gerechnet, in Verwahrung genommen zu werden. Hatte Angst gehabt, dass seine ganze Arbeit unvollendet bliebe, seine Freunde ungeschützt. Jetzt schienen diese Sorgen nichtig.

Der helle kleine Raum war eng. Custo verließ ihn und ging zur Treppe. Vielleicht sollte er ein bisschen im Kontrollraum zusehen, ein Gefühl dafür entwickeln, wie der Orden arbeitete, und dann eine Entscheidung fällen.

Er kam an der Waffenkammer vorbei und dachte wieder an den Dolch. Er durfte ihn benutzen, das sprach eindeutig für den Orden. Wenn die Geister wieder in der Defensive wären, war Talia in Sicherheit. Und der Schattenwolf? Bei der glitzernden Auswahl musste auch etwas für ihn dabei sein.

Okay: eine Wohnung in der Stadt, vorzugsweise in der Nähe von Annabella. Eine Möglichkeit, die Monster zu bekämpfen, die in das Leben seiner Freunde eingriffen. Und er musste lediglich ab und an mit dem Orden in Kontakt treten. Custo musste Luca fast zustimmen.

Wenn Custo sowieso schon kämpfte, konnte er es auch mit den besten Geräten und unter der Ägide der anderen Engel tun.

Er erreichte den Hauptflur und war noch unschlüssig. Luca stand mit dem Rücken zu Custo an der Rückseite des Kontrollraums. Als Custo näher kam, wandte sich ihm Luca zu. »Schon entschieden?«

Fast. Noch zögerte Custo. Irgendetwas störte ihn, es arbeitete in seinem Kopf, seit sie das Gespräch begonnen hatten.

Richtig. Seine Stimmung verfinsterte sich. »Du hast zu Adam gesagt, dass die Geister zurzeit nicht zu euren Aufgaben zählten.«

Luca schüttelte den Kopf. »Die Geister sind in der sterblichen Welt gefangen; sie gehen nirgends hin. Dein Adam leistet Bewundernswertes, indem er sie unter Kontrolle hält. Wir kümmern uns um die Grenzüberschreitungen zwischen den Welten. Wir müssen die Grenzen instand setzen, bevor noch mehr dunkle Schattenwesen die sterbliche Welt bevölkern und ähnlichen Schaden anrichten wie der, der die Geister überhaupt erst geschaffen hat.«

»Aber ihr habt gestern Abend auf der Straße gegen die Geister gekämpft. Was ist heute anders?«

Luca seufzte ungeduldig, als wäre Custo schwer von Begriff. »Wir haben nicht gegen die Geister gekämpft. Das war überhaupt nicht unser Ziel.«

»Für mich hat es so ausgesehen.«

»Dann bist du immer noch ein Narr«, sagte Luca. »Wir haben gekämpft, um dich zu retten. Damit du dich uns anschließen kannst und uns mit deiner großen Seele unterstützt. Es gibt mehr Arbeit, als du denkst. Du wirst gebraucht. Hier. Jetzt.«

»Ich kann meine Freunde nicht im Stich lassen. Das mache ich nicht.«

»Glaubst du, die Geister oder der Jäger wären die einzigen Wesen, die der Erde Schwierigkeiten bereiten, seit der Tod aus Liebe das Universum geöffnet hat? Die Magie sickert wieder in die Welt, und so entsteht auf der einen Seite im Zuge einer großen modernen Renaissance Kunst, Schönheit und Innovation dazu gehört übrigens deine Annabella , und auf der anderen Seite greifen alle Arten dunkler Schattenwesen die Grenze an und gieren nach der Macht der sterblichen Welt. Die Folgen sind weitaus schlimmer als bei den Geistern oder einem Wolf auf Beutezug. Wir tun alles, um das zu verhindern.«

»Du hast gesagt, dass die Magie wieder in die Welt sickert. Ist das schon einmal geschehen?« Custo kannte die Antwort, bevor er die Frage überhaupt ausgesprochen hatte. Natürlich war es bereits früher geschehen. Woher stammten sonst die ganzen Geschichten, Mythen und Legenden? Der Engel aus Griechenland hatte gesagt, die Menschheit hätte die alten Geschichten vergessen. Custo dachte nach.

Unterm Strich hieß das »Ihr kämpft nicht gegen die Geister? Was, wenn Adam und Talia sich entscheiden, damit aufzuhören?«

»Die Geister würden vermutlich stärker. Es kommen mehr Menschen zu Tode.«

»Und der Wolf?«

»Ist auf ähnliche Art hier gefangen und momentan auf Annabella fixiert. Er ist keine so große Bedrohung, weil er als Gestaltwandler seine Form nicht ewig halten kann. Nach einer Weile löst er sich in Schatten auf.«

Diesen Effekt hatte Custo beobachtet, auf einmal war der Wolf mit der Dunkelheit verschmolzen. Das Problem bestand darin, dass der Wolf eine neue Gestalt annehmen konnte. »Und in der Zwischenzeit? Was ist mit Annabella?«

Luca starrte ihn ausdruckslos an.

Wut und Verzweiflung brannten in Custos Adern. »Ihr tut also nichts.«

Luca sah ihm geradewegs in die Augen. »Wir tun etwas. Du siehst es nur nicht. Heute Morgen hat ein kleiner Junge in China einen Drachen aus einem Märchenbuch in die sterbliche Welt befördert richtig, einen feuerspeienden Drachen , und du willst, dass wir in New York City für Ordnung sorgen, indem wir nach einem Wolf suchen, der von allein verschwindet?«

Ein Ausruf innerhalb der Kommandozentrale löste eine neue Aktivitätswelle unter den Engeln aus.

Luca sagte müde: »Das ist bestimmt Coyote, der Gauner. Er hat gerade allen südwestlichen Flügen neue Flugnummern zugeordnet. Und jetzt sollen wir alles stehen und liegen lassen und Geister jagen, um die sich bereits Adam und die weltlichen Regierungen kümmern? Ganz zu schweigen davon, dass der Tod seinen Posten verlassen hat. Wir müssen die Toten zu unserem Tor begleiten, oder sie gehen im Schattenreich verloren. Wir helfen dort, wo man uns am dringendsten braucht. Wir kämpfen, so gut wir können. Und wir brauchen deine Hilfe.«

Das interessierte Custo nicht. »Wenn ich in der sterblichen Welt sterben kann, kann es der Wolf auch.« Schließlich war der Wolf ebenfalls auf die Erde gefallen und in die sterbliche Welt gekommen.

Eine lange Pause verstärkte die Distanz zwischen Custo und Luca.

»Klar.« Gereizt zuckte Luca mit den Schultern, denn er hatte verloren.

Custos Herz hämmerte in einem kurzen Ausbruch von Blutrausch.

»Aber«, fuhr Luca fort und wiegte den Kopf hin und her, als bedenke er das Für und Wider, »als Gestaltwandler kann der Jäger in seinen Schattenzustand zurückkehren und vollkommen unverletzt in einer anderen Gestalt, Mann oder Wolf, wiederauftauchen. Zumindest so lange, bis er diese Gestalt nicht mehr halten kann.«

Custos Blut erkaltete. Gefror. Im Grunde erklärte Luca ihm, dass der Wolf auf unbestimmte Zeit Unsterblichkeit besaß, während er selbst durchaus sterben konnte. Momentan war Annabella und jeder in ihrer Nähe in Gefahr.

»Es muss einen Weg geben«, insistierte Custo.

»Du kennst ihn bereits«, erwiderte Luca. »Am besten ist es, ihn zurück ins Schattenreich zu treiben.«

Ein letztes Mal sah sich Custo in der hoch technisierten glänzenden Engelsburg um. Er dachte an die gefährlichen Waffen in ihren Kästen dort oben und dass er Zugang zu ihnen hätte.

Luca hatte gesagt, Custo habe als Engel das Privileg erhalten, seinen Weg selbst zu wählen. Na, dann. Das war alles sehr interessant. Er hoffte ganz bestimmt, dass der Drache nicht zu viele Leute verbrannte. Und er war beinahe sicher, dass die gut ausgebildeten Lotsen in den Flugzeugtürmen sämtliche Flugzeuge sicher auf die Erde dirigieren würden. Aber eigentlich hatte er sich bereits entschieden, bevor er den Fuß in die dreckige Gasse gesetzt hatte.

»Ich lasse meine Freunde nicht im Stich.«