1

Annabella tanzte en pointe, beugte sich in eine sanfte Arabesque, kreuzte dabei die Arme über der Brust und neigte demütig den Kopf. Durch die Bewegung wirkte ihr langes Übungstutu in den Spiegeln des Studios wie eine stumme weiße Hochzeitsglocke. In jenem Augenblick tönten die ersten überirdischen Töne von Giselle durch den Raum. Das erste unheimliche Wimmern der Streicher das zweite

Sie holte Luft und beugte ihr Gewicht genau in dem Augenblick nach vorn, in dem ihr Partner sie geschmeidig in die Luft hob.

»Halt. Halt. Halt.« Thomas Venroy schlug mit seinem Stock auf den Boden, damit jemand die Musik ausmachte. Der künstlerische Direktor kommunizierte beinahe ausschließlich, indem er streng den Stock auf den Boden stieß. Trotz der schwülen, feuchten Hitze im Studio trug er Anzughosen und ein Buttondown-Hemd. Die letzten spärlichen grauen Haare hatte er quer über den fast kahlen Schädel gekämmt.

Annabella löste sich aus der Position, stemmte die Hände auf die Hüften und atmete schwer. Die abgestandene Luft roch nach altem Schweiß, aber niemand kam auf die Idee, ein Fenster zu öffnen und die eisige Luft hereinzulassen, denn dann würden sich ihre Muskeln verkrampfen.

Sie blickte über ihre Schulter zu ihrem Partner Jasper Morgan. Er hatte die Unterbrechung genutzt, um ein Handtuch von seiner Tasche zu nehmen und sich den Schweiß abzuwischen. Die übrigen Tänzerinnen machten an der Stange Dehnübungen oder saßen auf dem Boden an der rückwärtigen Wand des Studios. Sie übten bereits seit über fünf Stunden, obwohl es bei der morgigen Probe mehr um die Inszenierung und die Kostüme als um die Verfeinerung der Bewegungen ging. Es musste jetzt sein. Wenn nötig, würde sie die ganze Nacht bleiben es war ihr erster Auftritt als Primaballerina. Ihre Giselle musste perfekt sein, selbst wenn die Compagnie in der Galavorstellung nur den zweiten Akt aufführte.

Jasper warf das Handtuch über die Schulter und hockte sich auf den Boden. Vermutlich dehnte er seinen Rücken ihrer brachte sie auch gerade um. Wenn sie nach Hause kam, würde sie eine Flasche Ibuprofen schlucken, ein heißes Bad nehmen und wie ein Baby heulen. Aber nicht jetzt. Nicht, solange jemand zusah.

»Annabella«, sagte Venroy von seinem Platz neben dem großen Spiegel aus, »deine Schultern sind total angespannt. Du sollst eine Wili darstellen. Einen Geist. Eine Wolke.«

Anspannung. Richtig. Sie wurde fast verrückt vor Anspannung.

Sie rollte die Schultern. »Ich mache es besser«, erklärte sie. »Ich war nicht ganz konzentriert, das ist alles.«

»Anna.« Venroy winkte ab. »Du bist müde. Jasper ist müde. Geht nach Hause und «

»Nein«, unterbrach ihn Annabella. Sie erschrak sich über ihren scharfen Ton, holte tief Luft und flehte: »Ich muss es richtig hinkriegen. Es fehlt nicht mehr viel. Das spüre ich. Nur noch ein Mal.«

Venroy runzelte die Stirn. Eines der Mädchen im Hintergrund murmelte »Diva«, aber Anna drehte sich nicht zu ihr um. Es spielte nicht wirklich eine Rolle, was die anderen dachten. Sie hatte ihr Leben für das Ballett geopfert; sie erwartete nicht, dass irgendjemand sie zu einer Pyjamaparty einlud.

Sie blickte zu Jasper hinunter. »Bitte.«

Stöhnend richtete sich Jasper auf, knäuelte sein Handtuch zusammen und warf es an die Seite. Er tanzte bereits seit zwei Jahren als Solist und war genauso engagiert bei der Sache. Er hatte die ideale Größe für sie. Mit seinen blauen Augen und den blonden Haaren machte er immer eine gute Figur auf der Bühne, ganz abgesehen davon, dass er genau wusste, wie man ein Paar Strumpfhosen ausfüllte. Zu schade, dass er schwul war.

Jaspers widerwillige Unterstützung machte ihr Mut. Fragend drehte sie sich zu Venroy um.

»Ach, na gut. Ein letztes Mal.« Venroys Blick glitt zu den Tänzerinnen an der hinteren Wand. »Macht euch bereit.«

Annabella nahm wieder ihre Anfangsposition ein und wartete auf den Einsatz der Musik. Es war ihre letzte Chance, es vor dem großen Abend ›perfekt‹ zu machen.

Tief Luft holen. Schultern entspannen. Los.

Die sanfte Musik erklang erneut aus dem CD-Spieler. Sie ließ sich von der Melodie leiten. Beinahe lautlos glitt sie auf Spitzen durch die Schritte, die dem Pas de deux folgten.

Sie verband die einzelnen Bewegungen so geschmeidig miteinander, dass die Arabesquenfolge zur schattenhaften Bewegung eines Waldgeistes wurde. Sie löste sich von Annabella und gab sich ganz dem Zauber des Balletts hin. Ließ sich von dem Tanz in den Geist von Giselle verwandeln, der Wili.

Eine Arabesque. Ein Atemzug. Und Jaspers starke Hände umfassten ihre Taille und hoben ihren Körper in die Luft.

Er setzte sie sanft neben dem Grab auf dem Waldboden ab, dann trat er vor, um sie zu umarmen, um den Geist seiner Liebe festzuhalten. Aber es war zu spät, viel zu spät. Der trügerische Prinz Albrecht hatte ihr schwaches Herz gebrochen, und sie war gestorben. Jetzt kam er um Mitternacht, um sie zu quälen.

»Leicht! Denk an deine Arme!«, rief Venroy.

Annabella korrigierte die Haltung ihrer Arme, sodass sie zurückhaltend wirkte, und neigte kummervoll den Kopf.

Aufgeschreckt von einer Brise, die durch die dunklen Bäume wehte, glitt sie auf Spitzen zurück.

»Ja! Jasper darf dich nicht kriegen!«

Sie sah Jasper nur undeutlich, während sie leichtfüßig über die Bühne lief. Wenn sie ihn ansähe, richtig ansähe, ginge der Moment verloren. Die magische Reise zwischen dem Hier und dem Jenseits. Prickelnd strömte ihr Blut durch ihren vibrierenden Körper und kribbelte bei jedem Schwung und jeder Wendung in ihren Fingerspitzen. An den Rändern des Studios sammelte sich Dunkelheit, und anstelle der Wände entstand ein märchenhafter Wald.

»Das ist es! Wunderschön, Anna!« Venroy hob seinen Stock. »Mädchen, macht euch bereit!«

Die Musik schwoll an. Ihre Wilischwestern glitten aus den Baumreihen hervor und schwebten wie Nebel um sie herum, bevor sie am Rand der Lichtung mit über der Brust gekreuzten Armen und gesenkten Köpfen zwei Reihen bildeten, die Augen hohl und eingefallen, als wären sie tot.

Ein Zögern in der Musik, dann sang eine einzelne Geige, und das Tempo der Melodie zog an, aber der Klang blieb unheimlich. Flink und leicht vollführte sie eine Serie von Rückwärtssprüngen, dann bereitete sie sich auf die Diagonale vor.

Sie hob den Blick für die Drehung.

Aus dem dunklen Fantasiewald funkelten sie weit auseinanderstehende gelbe Augen an. Gefährliche Augen.

Ihr stockte der Atem. Sie blinzelte heftig und schüttelte den Kopf, zwang sich zu entspannen: Schultern nach unten. Konzentriere dich.

Die Musik schwoll erneut an ihr Zeichen. Sie vollführte leichtfüßige Drehungen vorwärts. Während ihr Oberkörper durch die Luft schwebte, bewegten sich ihre Füße in hohem Tempo und mit technischer Perfektion. Sie war der Geist eines an Liebeskummer gestorbenen Mädchens; die Schwerkraft hatte keine Macht über sie. Sie war fließendes Wasser, dicht wie die Atmosphäre. Allein die Magie und die Nacht beherrschten sie.

Ein tiefes Knurren tönte durch den Wald. Nach ihrer schwungvollen Drehung erblickte sie erneut die gelben Augen. Jetzt setzte der riesige Schatten eines Wolfes zum Sprung an.

Sie verlor das Gleichgewicht und wankte. Ihre Füße rutschten weg, und sie klatschte auf den Studioboden.

Ein Wolf. Mit klopfendem Herzen rutschte Annabella aus der jetzt leeren Ecke des Raumes. Suchend sah sie sich im Studio um, die Lichter waren auf einmal grell und blendeten. Die Wilis verließen ihre Positionen und lösten die Reihen auf.

Hat das irgendjemand gesehen?

Alle hatten nur auf sie geachtet.

Wohl nur ich.

Das Wesen war fort, genau wie der finstere Wald, beides hatte sich in ihrer Fantasie aufgelöst.

Schließlich blickte sie zu Venroy, der die Augen geschlossen hielt und sich in den Nasenrücken kniff.

Eine Welle der Scham schwappte heiß über sie hinweg. Vielleicht war es wirklich Zeit, nach Hause zu gehen.

Sterbliche. Eindringling. Frau.

Hell wie Feuer. Sie tanzte wie eine Flamme. Eine Gefahr.

Ihr fruchtbarer Geruch brannte dem Jäger in der Nase. Erde, Moschus, süß. Ihm knurrte der Magen. Er wetzte die Zähne.

Die sterbliche Flamme flackerte, dann erlosch sie, aber ihr Geruch hing noch in der Luft. Zog ihn an. Er bewegte sich an der Grenze der Zwielichtlande entlang, bohrte heimlich die Tatzen durch die Lagen aus Schatten und suchte nach ihr. Er legte den Kopf auf eine Seite und nahm Witterung auf.

Hier entlang. Die Jagd war eröffnet.

»Anna, ich möchte dich kurz sprechen«, sagte Venroy. »Ihr anderen seid für heute entlassen.«

Annabella stützte sich ab und stand auf. Hüfte und Ellbogen schmerzten von dem Sturz. Na, toll. Sie blickte kurz zu den Tänzerinnen, die in Zweier- und Dreierreihen den Raum verließen. Bis vor ein paar Monaten war sie eine von ihnen gewesen. Als die Besetzung für die neue Spielzeit angekündigt wurde, hatte sie fest damit gerechnet, zu der großen Gruppe der Wilis zu gehören. Ganz sicher nicht damit, vor ihnen zu stehen und das weibliche Solo zu tanzen.

Alles hatte mit den schicksalhaften Worten begonnen: »Anna, ich möchte dich kurz sprechen.«

Diesmal erwarteten sie keine guten Neuigkeiten.

Kinn hoch. Morgen war die Kostümprobe sie war die Giselle, ob es ihnen passte oder nicht. Sie ging auf ihn zu und betete, dass Venroy nicht die Stimme erheben würde. Auf den Hintern zu fallen, war demütigend genug. Dass das ganze Studio auch noch seine Predigt mit anhörte, wäre zu viel.

Venroys Gesicht nahm einen milderen Ausdruck an. »Ich mache mir Sorgen um dich, Anna. Ich frage mich, ob wir dich zu früh berufen haben und du noch zu jung bist. Deine Technik ist stark, aber andere sind genauso gut, manche sogar besser. Du arbeitest ganz bestimmt sehr hart, aber das tut jede andere hier auch.«

Ihr drehte sich der Magen um. Sie wollte den Rest nicht hören.

»Und du hast Talent. Das ist nicht zu übersehen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich spreche nicht von Geschicklichkeit. Ich spreche von einer Gabe. Wenn du tanzt, erwacht die Geschichte zum Leben. Weißt du, was ich meine?«

»Ich weiß, was ich empfinde, wenn ich tanze.« Ihre Stimme war belegt.

Er sah sie streng an. »Was?«

»Es ist anders. Wundervoll. Aber auch irgendwie seltsam. Losgelöst von der Welt, als ob ich fliegen könnte. Klingt das verrückt?«

»Nein«, entgegnete Venroy. »Und ja. Aber das ist Ballett.« Er wurde ernst. »Wir können den Giselle-Teil aus der Eröffnungsgala streichen und ihn durch etwas anderes ersetzen. Wir können stattdessen jederzeit die Serenade aufführen.«

Ihr Gesicht brannte. »Ich schwöre, dass ich es schaffe.«

»Du hast dir zu viel abverlangt. Es ist keine Schande zuzugeben, dass du noch nicht so weit bist. Wir ändern einfach das Programm.« Er stand auf und richtete seine Hosenbeine. »Wenn du dich allerdings für die Giselle entscheidest und während der Aufführung so abgelenkt bist wie heute Abend, war das dein letzter Auftritt als Solistin.«

Schlagartig wich die Hitze aus Annabellas Gesicht. Nachdem die Kritik zu ihr durchgedrungen war, schlug ihr Herz heftig und trieb eine frische Welle der Kränkung durch ihren Körper. In ihren Augen brannten Tränen. Die bloße Vorstellung, Thomas Venroy enttäuscht zu haben, schnürte ihr die Brust zusammen. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, blickte auf ihre Schuhe und konzentrierte sich auf den abgetragenen roséfarbenen Satin, um nicht zu weinen. Sie war eine erwachsene Frau, verdammt.

»Was willst du?«

Es gab nur eine Antwort. »Giselle

Venroy fasste ihr Kinn, hob ihr Gesicht und schüttelte sie leicht. »Anna, bitte. Ich glaube an dich. Wenn du tanzt, erstrahlst du. Versuche, den Augenblick zu genießen.«

Das versuchte sie. Sie packte ihr ganzes Talent und ihre ganze Seele in diese Aufführung. Das war ihr Traum.

Mit einem Seufzer hob Venroy sein zusammengelegtes graubraunes Sakko vom Boden auf, klopfte es ab und schlüpfte hinein. »Geh nach Hause. Schlaf dich aus. Vertrau darauf, dass die Vorstellung wunderbar wird. Sobald du im Kostüm auf der Bühne stehst, kann dich nichts mehr aufhalten. Du lässt dich durch nichts ablenken und wirst ganz Giselle sein, mit Körper und Geist.«

Wird dieser Wolf da sein? Sie biss sich auf die Lippe, damit ihr die Frage nicht versehentlich herausrutschte. Dann schluckte sie heftig und nickte. Venroy durfte nicht den Eindruck bekommen, dass sie verrückt wurde.

Er legte einen Arm um ihre Taille und führte sie aus dem Studio, dann gab er ihr einen Klaps auf den Po und schob sie in Richtung Umkleide.

Jasper lehnte vor dem Studio an der Wand. »Du musst einmal richtig gevögelt werden.«

Annabella blieb stehen und schenkte ihm ein halbherziges Lächeln. Der Süße hatte gewartet, um sich zu überzeugen, dass es ihr gut ging. Er hatte sich das Handtuch um den Nacken gelegt und hielt die Enden mit beiden Händen fest. Der Rest seines fantastischen Körpers zeichnete sich unter seinen verschwitzten Strumpfhosen und dem Trikot ab. Sehr eindrucksvoll.

Er grinste sie an. »Du weißt schon. So, dass dein Verstand ausgeschaltet wird und dein Körper trieft.«

Sie brachte ein Lachen zustande. »Ist das etwa ein Angebot?«

»Ich würde es sofort tun, wenn ich könnte, Süße. Du brauchst es.« Er ergriff ihre Hand und küsste ihre Handfläche. »Aber ich glaube, das würde meinen Freund verwirren.«

»Du Glückspilz«, antwortete sie und drehte sich zur Umkleide um. Es war bekannt, dass Jasper und sein Freund Ricky so gut wie verheiratet waren.

Jasper ließ ihre Hand los. »Such dir einen netten Jungen.«

»Ha!«, entgegnete sie, während sie die Tür zur Umkleide öffnete. Einen netten Jungen. Er klang wie ihre Mutter. Sie hatte keine Zeit für nette Jungen. Oder böse.

Langsam fiel die Tür zu. »Das wirkt Wunder!«

Annabella schob sich an einer Gruppe Tänzerinnen vorbei, die vor dem Eingang stand. Wenn sie sich beeilte, war sie in zwanzig Minuten zu Hause. Im Hintergrund zischten die Duschen. Die meisten Tänzerinnen hatten es ebenfalls eilig, riefen sich Abschiedsgrüße zu und drängten sich an halbnackten Körpern vorbei. Anna ließ sich auf die Bank sinken. Sie zog ihr Tutu aus, hängte es an einen Haken in einem Spind und löste die Bänder an ihren Schuhen. »Anna«, rief Katrina. Sie hatten sich angefreundet, als sie vor ein paar Jahren gemeinsam dem Ensemble beigetreten waren. Seit Annabellas Aufstieg zur Ersten Solistin hatten sie nicht viel miteinander gesprochen.

»Ja?« Annabella lehnte sich auf der Bank zurück und beobachtete, wie Katrina sich ein T-Shirt über den Kopf zog.

»Ein paar von uns gehen zur Entspannung noch etwas zusammen trinken. Kommst du mit?« Während sie eine Jeans griff, stupste Katrina ein anderes Mädchen an Marcia, mit ihrer eleganten Hochsteckfrisur , die über die umständliche Einladung stöhnte.

Etwas trinken. Ein bisschen lachen. Wie in alten Zeiten.

Aus politischen Gründen sollte sie mitgehen. Das wusste sie. Das war auch Katrina klar. Und nach dem Schweigen in der Umkleide zu urteilen, wussten es alle anderen ebenfalls.

Aber ihr Körper schmerzte, ihre Gedanken rasten, und sie musste unbedingt in Ruhe weinen. Sie wollte auf gar keinen Fall, dass ihr Minizusammenbruch, ausgelöst durch Alkohol, in der Öffentlichkeit stattfand. Wahrscheinlich würde sie von Wölfen mit gelben Augen plappern und Nein. Etwas trinken zu gehen, war heute ganz bestimmt keine gute Idee.

Katrina las die Antwort in ihrem Gesicht, zuckte kühl mit den Schultern und wandte sich ab.

Annabella bemerkte, wie einige der Tänzerinnen Blicke untereinander tauschten. Eine formte mit den Lippen das Wort Diva schon zum zweiten Mal wurde ihre heute dieser Stempel aufgedrückt. Diesmal traf sie die Beleidigung.

Diva? Sie verstand das nicht. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert, seit sie zur Primaballerina aufgestiegen war.

Anna zog ihre Schuhe aus und warf sie in ihre Tasche. Dann wühlte sie darin nach einem Trainingsanzug, um ihn über Strumpfhosen und Trikot zu ziehen. Sie würde zu Hause duschen.

Aber Diva? Okay, heute Abend hatte sie um einen zusätzlichen Durchlauf gebeten, aber das kostete jede von ihnen vielleicht zehn Minuten. Höchstens fünfzehn. Und sie konnte nichts dafür, dass sie zu müde war, um noch etwas trinken zu gehen schließlich hatte sie den ganzen Abend getanzt. Nicht die anderen. Im zweiten Akt von Giselle stand das Ensemble die meiste Zeit, und Venroy hatte ihnen erlaubt, den Großteil der Zeit zu sitzen.

Diva? Bitte.

Sie wickelte sich einen leichten Schal um den Kopf auf gar keinen Fall durfte sie so kurz vor der Aufführung krank werden und machte sich auf den Weg.

Draußen empfing sie der intensive Geruch von Laub, in den sich Abgase und andere städtische Aromen mischten von würzigem Essen, Bier, alter Zeitung, fauligem Abwasser und frischer Wäsche. Sie atmete tief ein, damit die allgegenwärtige Lebendigkeit der Stadt auf sie überging und sie es zurück zu ihrer Wohnung schaffte. Die Geräusche des fernen Verkehrs und der Sirenen trieben sie zu einem raschen Schritt an. Die Bushaltestelle war nur einen Block entfernt. Je eher sie zu Hause ankam, desto schneller konnte sie zusammenbrechen. Sie zog den Schal unter ihrem Kinn fester und ging noch etwas schneller.

Die dunkle Straße war nicht ganz verlassen. Straßenlaternen und Gebäude sorgten für so viel Licht, dass sie in jeder Richtung vier Blocks weit sehen konnte. Ein Paar schlenderte vor ihr her, und eine Gruppe schnatternder Raucher den verknitterten Hosen und Hemden nach zu urteilen junge Angestellte drückte sich vor einem erleuchteten Eingang herum. Nichts, was ein Mädchen aus der Stadt beunruhigte.

Die Bank an der Bushaltestelle war leer. Annabella setzte sich, schlug die Beine übereinander und blickte wieder die Straße hinunter. Kein Bus in Sicht.

Ihre Gedanken wanderten zurück zu der Probe. Angespannte Schultern, hatte Venroy gesagt. Sie musste sich mehr Mühe geben, sich zu entspannen. Und er hatte sie ermahnt, auf ihre Arme zu achten. Vielleicht stimmte mit ihrer gesamten oberen Körperhaltung etwas nicht.

Halt. Du verrennst dich schon wieder. Sie stand auf, um sich zu zerstreuen und lehnte sich gegen einen Laternenpfahl.

Aber es schadete nicht, ein paar alte Videos anzusehen. Sie besaß eine Aufzeichnung von Natalia Makarovas Giselle. Sie hatte die Aufführung zwar tausendmal gesehen, aber nie auf ihre Schultern und auf ihre Arme geachtet. Vielleicht

Auf der anderen Straßenseite zog ein dichter Schatten ihre Aufmerksamkeit auf sich. Etwas bewegte sich, lungerte dort herum. Vielleicht eine große Katze. Oder ein Hund. Oder oder

Ihr Herz schlug schneller. Bewusst wandte sie den Blick ab. Das passierte ihr nicht noch einmal.

Wenn sie ihren iPod dabeihätte, könnte sie ihren Verstand ausschalten. Sie schüttelte sich und holte tief Luft.

Es gab keinen Grund, die ganze Nacht auf der Bank zu warten. Sie konnte an der nächsten Haltestelle in den Bus steigen, denn sie brauchte eine größere Ablenkung. Sie griff ihre Tasche und zog gleichzeitig ihr Mobiltelefon hervor. Dann drückte sie die »1« und die Sprechtaste, um mit ihrer besten Freundin zu reden, die prompt abnahm.

»He, Mom«, sagte Annabella. Sie hängte ihre Tasche über die Schulter und lief mit großen Schritten den Bürgersteig hinunter, wobei sie sich an das helle Licht der Straßenlaternen hielt. Paranoid, aber egal.

»Ach, gut, dass du anrufst«, antwortete ihre Mutter. »Ich habe schon versucht, dich zu erreichen. Ich brauche eine zusätzliche Karte für die Freundin von deinem Bruder. Anscheinend hat er doch nicht mit ihr Schluss gemacht, sodass sie jetzt zum Eröffnungsabend kommt.«

Annabellas Schritte hallten auf dem Bürgersteig. Ein Schauer lief ihren Rücken hinunter, die Haare in ihrem Nacken richteten sich auf, und ihr Herz schlug heftig und trieb sie zu einem schnellen Schritt. Sie versuchte, das bedrückende Gefühl zu verdrängen, dass sie jemand verfolgte, blickte aber dennoch über ihre Schulter zurück.

Hinter ihr sah sie nichts als einen Haufen Schatten und einen Block weiter einen Fußgänger.

»Annabella?«

Oh. Bruder. Freundin. Karte. Richtig. »Glaubst du, dass er stattdessen noch einmal um ihre Hand anhält?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung.« Ihre Mutter hielt inne. »Wieso bist du so außer Atem?«

»Ich bin auf dem Heimweg.« Sie blickte über die Straße und blieb so abrupt stehen, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlich ein Schatten. Nichts als ein Schatten, Schwarz auf Schwarz, und wenn sie blinzelte, verlor sie ihn leicht aus dem Blick.

»Es ist schon spät, Bell.« Ihre Mutter klang besorgt. »Nimm dir ein Taxi. Auf meine Rechnung.«

»Das würde ich tun, aber ich sehe keins.« Sie hielt den Blick auf die vielschichtige Dunkelheit gerichtet, wie versteinert wartete ihr Körper auf die nächste Bewegung. Alles um sie herum schien sich kaum merklich zu verändern. Die Gebäude, die Straßenlaternen, die Abfalleimer aus Metall. Sie drehte völlig durch.

»Liebling, was ist los?«

»Nichts. Es ist albern. Ich habe bei der Probe gepatzt.« Aber da sie ihrer Mutter alles erzählen konnte, fügte sie hinzu: »Und ich glaube, ich werde verfolgt.«

»Was?« Ihre Mutter sprach lauter. »Wo bist du? Kannst du dich irgendwo in Sicherheit bringen?«

Verdammt. Jetzt war ihre Mutter besorgt. »Es ist nur ein Hund, Mom. Ein Hund läuft mir hinterher.«

»Geh irgendwo hinein.«

»Die Geschäfte haben geschlossen. Ich warte auf den Bus.« Die nächste Haltestelle lag nicht einmal einen Viertel Block weit entfernt. Dort erwartete sie eine beleuchtete Bank, und es gab keine Schatten. Annabella lief darauf zu.

»Kannst du dort jemanden um Hilfe bitten?«

Sie blickte sich um. Es war niemand mehr zu sehen. Seltsam. So spät war es noch nicht. »Nicht wirklich.«

»Wieso bist du mitten in New York City ganz allein?«, fragte ihre Mutter.

»Mir geht es gut, Mom. Mach dir keine Sorgen. Der Hund bleibt auf der anderen Straßenseite.«

Noch während sie sprach, bildete sich aus den Schatten erneut die Gestalt eines schwarzen Wolfs, seine Augen leuchteten in dem pechschwarzen, dreieckigen Gesicht.

Das musste aufhören. Sie musste sich unbedingt beruhigen.

Sie ließ sich auf die Bank fallen und schloss die Augen, ihr Körper bebte. Da ist nichts. Nur ein Produkt deiner Fantasie. Ein Teil von ihr schrie Gefahr, während der Rest von ihr zuversichtlich war. Sie drehte nicht durch, nicht jetzt. Sie konnten sie gern in eine psychiatrische Anstalt einweisen, aber bitte erst nach der Gala.

»Annabella?«

Als sie die Augen öffnete, bewegte sich der Wolf langsam über die Straße auf sie zu. Mit gesenktem Kopf und angelegten Ohren bahnte er sich einen Weg durch die dunklen Schatten zu ihr. Er knurrte leise und bedrohlich, seine gefährlichen gelben Augen auf sie gerichtet.

»Mom, ich habe Angst.« Sie klang wie drei und nicht wie dreiundzwanzig, aber das war ihr egal. Sie krabbelte nach oben und setzte sich auf die Rückenlehne der Bank. Das Blut pochte in ihren Ohren, und sie klammerte sich an das Telefon wie an eine Rettungsleine. Langsam entspannte sich ihr Körper leicht, und sie wusste, dass sie notfalls rennen konnte, auch wenn sie noch so müde war.

»Ich verständige auf der anderen Leitung die Polizei.«

Annabella traten Tränen in die Augen, als sie die Not in der Stimme ihrer Mutter vernahm. Sie hätte nicht zu Hause anrufen, ihre Mutter nicht mit hineinziehen dürfen. Der Wolf überquerte die Mittellinie, und sie begann zu zittern. Ihre Ohren rauschten. Das passiert nicht wirklich. Das kann überhaupt nicht sein.

»Alles wird gut, Liebling.« In Gedanken stieß ihre Mutter mit Sicherheit ein Stoßgebet aus. »Wo ist der Hund jetzt?«

»Er ist « Angst erstickte ihre Stimme. Der Wolf trottete weiter auf sie zu, ohne dass seine Tatzen ein Geräusch auf dem Asphalt erzeugten. Als er näher kam, bemerkte sie, dass sein schwarzes Fell nicht schwarz war, sondern ihm lediglich die Farbe fehlte. Wie ein Albtraum war das Wesen nicht gegenständlich, doch sie spürte deutlich seine Absicht.

»Liebling?«, drang die hohe, schrille Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr.

Ein Schrei bildete sich in Annabellas Kehle und formte sich zu einem festen Knoten der Angst.

Aber der Wolf blieb am Rand des Lichtkegels einer Straßenlaterne stehen. Er bleckte die Zähne, bellte ein paarmal wie Gewitterdonner, trat aber nicht in den Lichtschein. Das Bellen traf sie wie Schläge, aber sie blieb auf ihrem Sitz. Lief nicht in die Dunkelheit davon.

Langsam drehte der Wolf eine Runde um den Lichtkegel, wobei er sie nicht aus den Augen ließ. Er wartete.

Wenn sie das Laternenlicht wie einen Umhang um sich hätte schlingen können, hätte sie es getan. Sie war fest entschlossen, die ganze Nacht auf der Bank zu verbringen, bis die Sonne aufging, und das Monster verbrannte.

»Liebling?«

»Ja.«

»Der Hund?«

Ein Wolf. »Ich glaube, er ist verrückt«, stieß sie hervor. »Ich rühre mich einfach nicht. Und atme nicht. Vielleicht lässt er mich in Ruhe.«

»Ach, Liebes.« Jetzt weinte ihre Mutter.

»Es tut mir leid, Mom.« Die Tränen in ihrer Stimme gesellten sich zu denen ihrer Mutter. Der Wolf beendete seine erste bedrohliche Runde. »Ich hätte ein Taxi nehmen sollen. Ich verspreche, dass ich ab jetzt immer ein Taxi nehme.«

Ihr Blick folgte dem Tier, das eine zweite Runde drehte, aber anscheinend in einem größeren Bogen, denn er entfernte sich von der Bank.

Das schrille Quietschen der Busbremsen lieferte die Erklärung. Der Bus war gekommen und hielt mit einem Zischen. Dort drinnen war es taghell. Die Rettung.

»Was ist das?«, wollte ihre Mutter wissen.

Die Bustür klappte auf. Annabella lachte, während ihr die Tränen über die Wangen liefen und trat aus dem Licht der Straßenlaterne in die Sicherheit. »Der Bus. Ich bin im Bus.«

»Oh, Gott sei Dank«, keuchte ihre Mutter in das Telefon. »Kommst du jetzt klar?«

Wenn alle Lampen in ihrer Wohnung brannten und sie anständig schlafen konnte. »Ja, ich glaube schon.«

Während sie sich auf einem Sitz niederließ, blickte sie aus dem Fenster auf die dunkle Straße und suchte nach Anzeichen von Bewegung. Ich hoffe es.