14

Annabella schlief. Endlich. Sie lag im Bett, ihre glänzenden braunen Haare ergossen sich über das blütenweiße Kopfkissen, ihre Lippen waren leicht geöffnet, und sie atmete tief und gleichmäßig.

Custo stieß die Luft aus und raufte sich die Haare. Ein Fieberanfall schüttelte ihn, die Wunde in seinem Bauch pochte. Er war zu wütend, um sich darum zu scheren. Er wollte etwas zerstören, auf etwas einschlagen, etwas mit den Händen auseinanderreißen und es ganz und gar töten. War das zu viel verlangt?

Er stand von dem Stuhl neben dem Bett auf, spürte einen stechenden Schmerz im Bauch und lief an der Matratze auf und ab.

Bei dem Kampf bei Abigail hatte sich der Wolf zum zweiten Mal in zwei Tagen in seinen Händen aufgelöst, und er hatte nur noch Luft gegriffen. Geister konnte man wenigstens einsperren, aber der Wolf entkam ihm immer wieder.

Warum? Wieso griff er an und zog sich zurück, nur um ihnen dann wieder zu folgen, zu warten und sie zu beobachten? Wieso griff er nicht so lange an, bis jeglicher Widerstand gebrochen und alle Beschützer tot waren?

Die Antwort gefiel Custo nicht. Er hatte die letzten drei Stunden seit dem Kampf versucht, eine andere zu finden, aber ohne Erfolg. Der Grund war kristallklar.

Der Wolf wollte, dass Annabella freiwillig mitkam.

Erst hatte der Wolf versucht, Annabella über ihren geliebten Tanz zu verführen. Und genau wie von Custo erwartet, hatte er jetzt nur eine andere Form der Annäherung gewählt.

Abigail, deren Körper bereits von Schatten erfüllt war und dahinsiechte, hatte der Wolf leicht erobern können. Auf diese Weise konnte er die Sterblichkeit erkunden, die er in Annabella so begehrte. Wäre Abigail ein stärkerer Wirt gewesen, wäre der Wolf vielleicht zufrieden, die Bedrohung für die Welt überaus rasch beseitigt und Annabella außer Gefahr gewesen.

Aber Abigail war schwach. Was für ein schlauer Hund, dass er die alte Frau am Leben gelassen hatte. Auf diese Weise hatte er Annabella gedroht und ihr zugleich ein Versprechen gegeben: Komm mit mir, und es wird niemandem mehr etwas geschehen. Dann war er einmal komplett über sie hinweggeglitten, um die Unvermeidlichkeit dieser Verbindung zu demonstrieren. Dass sie, wenn auch zwangsweise, bei ihm sinnliche Lust empfand. Dass noch nicht einmal ihr »Engel« ihn aufhalten konnte.

Bei dem Gedanken musste Custo sich wieder setzen, er schwitzte, ballte die Hände zu Fäusten und dachte daran, wie er bei dem Versuch, den Wolf von Annabella wegzuzerren, ins Leere gegriffen hatte.

Custo blickte über das Bett auf Annabellas reizendes Profil. Sie war im Wagen aufgewacht, hatte verwirrt geblinzelt und versucht, sich zu erinnern. Dann setzte sie sich mit steifem Rücken auf und zitterte die ganze Fahrt zurück nach Segue. Sie ließ sich von ihm nicht mehr in den Arm nehmen, und da er ihre Gedanken lesen konnte, wusste er, dass sie es ernst meinte. Sie wollte nichts essen, obwohl er wusste, dass sie vorher an Essen gedacht hatte. Annabella interpretierte die Angriffe des Wolfes genauso wie er.

Der Wolf, der Jäger, wollte, dass sie willig war, und niemand konnte etwas dagegen unternehmen.

Sie waren alle zusammen zurück nach Segue gefahren, auch Abigail und Zoe, als würde Segue Sicherheit bedeuten. Bis Talia niedergekommen war und sich um den Wolf kümmern konnte, herrschte nirgendwo Sicherheit. Oder bis sie einen neuen Weg gefunden hatten, den Wolf aus der Welt zu locken was keine leichte Aufgabe darstellte, da er zunehmend ungeduldiger wurde. Immerhin hatten sie heute herausgefunden, dass Custo sterblich war und der Wolf praktisch nicht.

Das fühlte sich allerdings mehr nach einem Rück- als nach einem Fortschritt an.

Idiot sollte lieber kooperieren Das kleine Stück aus Adams Gedanken verriet Custo, dass er näher kam. Und tatsächlich ertönte erst ein leises Rascheln im Flur der Wohnung, anschließend ein Schlürfen mehrere Personen durchquerten das Wohnzimmer. Custo stand im Schlafzimmer und wartete, dass sie hereinkamen. Sie sollten bloß leise sein.

Als Adam eintrat, hatte er seine Ich-lasse-nicht-mit-mir-reden-Miene aufgesetzt. Hinter ihm betrat Dr. Lin den Raum. Klein, rundlich und glatzköpfig bildete er einen Gegensatz zu den beiden muskulösen Pflegern, die eine Trage und ein Tablett mit Instrumenten und Arbeitsmaterialien hereinschoben.

Bevor Adam etwas sagen konnte, formte Custo mit den Lippen die Worte »Nein, danke« und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Annabella zu, damit die Truppe sich verzog.

»Hast du nun eine Kugel in deinem Bauch oder nicht?«, fragte Adam leise, mit einem unausgesprochenen du armer Mistkerl dahinter.

Gemäß Luca, vermutlich eine vertrauenswürdige Quelle, hatte Custo eine Kugel im Körper. Ganz zu schweigen davon, dass sein Bauch auf der linken Seite heftig schmerzte. Also wäre er nicht überrascht, dort eine Kugel zu finden.

Custo runzelte die Stirn. Wenn er zuließ, dass der gute Doktor sie herausholte, war er eine Weile außer Gefecht gesetzt, auch wenn er schnell heilte. Was, wenn der Wolf wieder in Segue eindrang? Was, wenn er sich gerade jetzt im Raum befand? Was, wenn der Wolf sich genau diesen Augenblick für seinen nächsten Angriff aussuchte?

Was wenn was wenn was wenn ? Die Frage machte ihn verrückt.

»Oder hast du Angst vor der Nadel?«

Custo bedachte Adam mit einem tödlichen Blick. Das war nicht lustig. Außerdem war das Jahre her, und es gab mildernde Umstände.

Adam zuckte mit den Schultern. »Du weißt, du musst in Topform sein. Gib dir einen Ruck, und lass Dr. Lin die Kugel entfernen. Vorher verrate ich dir nicht, was passiert ist.«

Was passiert ist?

Nichts leichter als das, Custo drang in seine Gedanken ein und besorgte sich die Antwort: Man hatte Geoffrey, den mutmaßlichen Verräter, tot aufgefunden. Er war von Geistern ermordet worden.

Custos Blick verfinsterte sich. Das überraschte ihn nicht. Er hatte gewusst, dass er es nicht gewesen sein konnte. So leicht war es nicht, den Verräter ausfindig zu machen. Blieben noch die siebenundzwanzig übrig, die sich freiwillig in Haft befanden. Er musste sie persönlich befragen und sehen, was er mit seinen direkten Mitteln herausfinden konnte. Es konnte nur einer von ihnen sein; niemand anders war in ihre Pläne eingeweiht gewesen. Bei allem anderen, was vor sich ging, musste diese Bedrohung ausgeräumt werden, und zwar schnell.

Solange ihnen der Wolf auf den Fersen war, hatten sie einem weiteren Angriff der Geister nichts entgegenzusetzen.

Aber zuerst musste Custo sich um sich selbst kümmern. Luca wusste es, Adam wusste es, und er wusste es auch. Eine Operation war verdammt unangenehm, aber die Wunde belastete ihn. Und das würde sich nicht ändern, auch wenn er noch so viel fluchte oder den Schmerz ignorierte.

Gillian wäre Custo lieber gewesen, denn er kannte sie seit Jahren als hervorragende Ärztin, aber sie wich nicht von Talias Seite. Was gut war, denn Custo wollte nicht, dass ihre Schwangerschaft seinetwegen in Gefahr geriet. Er gab sich mit Lin zufrieden.

»Gut. Wir machen es hier«, wandte sich Custo an Dr. Lin. Er sprach mit leiser Stimme. »Kein Schnickschnack, holen Sie sie einfach heraus. Ich heile außerordentlich gut.« Für den Fall, dass der Mann es nicht begriff, fügte er noch hinzu: »So gut wie ein Geist.«

»Er ist kein Geist«, fügte Adam hinzu, was Custo überflüssig fand. »Aber er verfügt über hervorragende Heilkräfte, die von der Kugel behindert werden.«

Genug. Custo wollte es hinter sich bringen. Nicht auf seine Schmerzen achtend griff er die Trage, entwand sie den verblüfften Pflegern, die nichts anderes als Mädchen mit Muskeln waren, und stellte sie in rechtem Winkel vor das Bett, so dass er Annabella während des Gemetzels beobachten konnte. Er zog sein Hemd aus, öffnete seinen Gürtel und ließ die Hosen herunter. Die Haut an seiner Seite fühlte sich heiß an.

Er sprang auf den Tisch und zuckte zusammen, als eine neue Schmerzwelle durch seine Seite schoss, dann sagte er: »Bereit.«

Der Arzt und sein Team waren es nicht.

»Na, los!«

Als Annabella wimmerte, unterdrückte Custo ein Fluchen. Sie hatte so lange gebraucht, um zur Ruhe zu kommen.

Während der Arzt sich vorbereitete, stellte sich Adam neben Custo. Mit einem Blick zu Annabella sagte er: »Es scheint ihr besser zu gehen. Sie hat eine gesunde Gesichtsfarbe. Dr. Lin sagt, dass sie bei dem Angriff durch den Wolf keine körperlichen Verletzungen erlitten hat.«

»Sie hat eine ganze Stunde lang nicht aufgehört zu zittern.«

Aber ja, Annabella war genauso geschockt wie er, als sie entdeckt hatte, dass ihre Haut sauber, glatt und unversehrt war. Sie hatte ihn angehalten, sich umzudrehen, damit sie die intimeren Bereiche untersuchen konnte, sich dann grimmig auf die Bettkante gesetzt und schreckliche, von Angst getriebene Entscheidungen über ihr Leben getroffen, von denen sie ihm jedoch nichts sagte. Er hatte sich auf seine Art informiert, und die Quintessenz lautete: Wenn sie aufhörte zu tanzen, würde der Wolf das Interesse an ihr verlieren.

Wenigstens entschloss sie sich ganz bewusst, ihn nicht mehr Wolf zu nennen. Ihm keine Macht über sich zu geben. Nicht der Verführung der Schatten zu erliegen. Sie wirkte still und verschlossen, aber innerlich kämpfte sie.

»Sie wird darüber hinwegkommen«, sagte Adam. »Man sieht ihr an, wie stark sie ist.«

Aber sie war ein Mensch und hatte Angst. Lediglich ihr eiserner Wille erdete sie. Es gab allerdings eine Ausnahme. »Sie hat gesagt, die Bilder hätten sich bewegt.«

Adam zog die Brauen zusammen.

»Kathleens Bilder«, erklärte Custo. »Annabella hat gesagt, sie wären lebendig, die Bäume hätten sich bewegt.«

Adam blickte hinüber zu den gerahmten Bildern von den Zwielichtlanden. »Hat sie sich das nur eingebildet, oder haben sich die Bäume wirklich bewegt?«

»Was macht das für einen Unterschied?«, entgegnete Custo. Annabella konnte mit ihrem speziellen Blick direkt ins Schattenreich sehen, sodass die Frage der Realität nebensächlich war. Das musste Adam inzwischen kapiert haben.

»Guter Hinweis. Ich lasse sie entfernen.«

Als ein Pfleger ein Tablett neben das Bett schob, trat Adam zur Seite. Custos Bauch wurde mit einer kühlen, scharf riechenden Flüssigkeit eingerieben. Schon dieser leichte Druck schmerzte.

Dann folgte der verdammte Stich, weniger schlimm als Adams spöttisch gehobene Braue. Aber auch nicht gerade lustig.

Custo drehte den Kopf, um besser sehen zu können. Annabella schlief.

Custos bandagierter Bauch brannte wie Feuer, als der erste der Agenten unter Aufsicht die Wohnung betrat. Er wurde im Wohnzimmer festgehalten, während Custo zwei Stühle in der Ecke des Schlafzimmers aufstellte, weit genug entfernt von der immer noch schlafenden Annabella. Es durfte ihn nicht mehr als ein Sichtschutz von ihr trennen. Jeden, der sich auch nur andeutungsweise in ihre Richtung bewegte, würde er umbringen.

»Alle haben den MRT-Lügendetektortest bestanden«, behauptete Adam, als Custo erklärte, dass er jeden Soldaten persönlich befragen wollte.

Adam hatte anscheinend ein neues Spielzeug gefunden, ein Kernspingerät, das die Blutströme im Gehirn maß und deshalb angeblich genauer arbeitete als ein normaler Lügendetektor.

Die Ergebnisse beeindruckten Custo nicht. Der Verräter musste sich in der Gruppe von Soldaten befinden; nur sie wussten, dass Adam während der Vorstellung gestern Abend auf der Rückseite des City Centers postiert sein würde. Deshalb berief Custo seine persönliche Fragerunde ein.

»Du kannst Wahrheit von Lüge unterscheiden?«, fragte Adam.

»So ähnlich«, wich Custo aus. Nicht dass er Adam sein kleines Geheimnis nicht anvertrauen wollte. Er wusste nicht, wieso er es ihm nicht schon erzählt hatte. Irgendwie war ihm das Gedankenlesen außerordentlich peinlich. Er fühlte sich nicht wohl mit dieser Engelsgeschichte, und die Telepathie verschlimmerte das Ganze noch. Gedankenlesen war zwar sehr praktisch, aber er wusste aus eigener Erfahrung, wie unangenehm es war, wenn man heimlich belauscht wurde.

Egal. »Ich kann Gedanken lesen«, sagte Custo. »Es ist mit den Flügeln gekommen.«

Er wartete, dass Adam wütend oder zumindest gereizt reagierte, aber der zeigte lediglich Interesse.

Custo drang weiter in Adams Gedanken ein. »Geht es dir nicht auf die Nerven? Mich nervt es total.«

Adam lächelte schwach und sagte genau, was er dachte. »Ich bin daran gewöhnt. So ähnlich jedenfalls. Wenn Talia mich berührt, spürt sie, was ich empfinde. Sie kann nicht wirklich ›Gedanken‹ lesen, aber sie kann sie aufgrund meiner Gefühle ziemlich leicht erraten.«

»Aber ich bin nicht deine Frau und kann trotzdem deine Gedanken lesen.« Custo konnte es nicht fassen. »Das muss dich doch stören.«

»Nein.«

»Das glaube ich dir nicht.«

Adam lächelte breiter. »Dann lies meine Gedanken und finde es heraus. Du kennst mich ohnehin viel zu gut, als dass ich etwas vor dir verheimlichen könnte. Jedenfalls nichts Wichtiges. Halt dich nur von meinem Schlafzimmer fern.« Jetzt erreichte Adams Lachen seine Augen. »Oder auch nicht. Vielleicht kannst du auf dem Gebiet ein paar Tipps gebrauchen. Deine Freundinnen sind nie lange geblieben. Ich habe mich gefragt «

»Halt deine verdammte Klappe.« Aber auch Custo musste lächeln.

Diese Information war ihm mehr als willkommen. Talia, ein Kind des Schattens, konnte Gefühle wahrnehmen. Custo, ein Himmelsbewohner (wenn auch ein unfreiwilliger) konnte Gedanken lesen. Diese Gegensätzlichkeit entsprach den unterschiedlichen Charakteristika der beiden Welten. Die Zwielichtlande waren von Magie und Inspiration durchdrungen, während der Himmel für Ordnung und Vernunft stand. Die sterbliche Welt lebte von beidem. Kein Wunder, dass die Erde ein Kampfplatz war.

»Weiß sie es?« Adam deutete mit dem Kopf in Richtung Bett. In der Frage drückte sich Adams Meinung aus er fand, dass sie es wissen sollte.

Custo ignorierte das. »Nein. Sie ist schon wütend genug auf mich.«

»Feigling.«

Fei…? Nein. »Sie hat genug Sorgen, auch ohne gehemmt zu sein, weil jemand etwas so Intimes wie ihre Gedanken kennt.« Custo deutete auf Annabella. Man hatte sie erst vor ein paar Stunden angegriffen. Sie brauchte eine Pause.

»Du lernst Sachen gern auf die harte Tour«, stellte Adam mit einem bedauernden Kopfschütteln fest.

»Hör zu, ich sage es ihr, wenn ich so weit bin. Wenn ich das Gefühl habe, dass der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«

»Das musst du wissen«, sagte Adam schulterzuckend und gab ein Zeichen, den ersten Sonderagenten in den Raum zu führen. Insgeheim dachte er jedoch, aber sei vorsichtig, sonst vertraut sie dir nie wieder.

Er war vorsichtig, übervorsichtig sogar. Adam wusste nicht, wie schwierig es war, nur auf den äußeren, verbalen Dialog einzugehen, wenn der interne viel aussagekräftiger war. Wie bei den festgesetzten Agenten ein paar gezielte Fragen, und schon hatten sie den Verräter.

»Pass auf. Jetzt kannst du was lernen«, sagte Custo zu Adam.

Auf einem Stuhl nahm der Soldat vor ihm Platz. Er hatte einen dunklen Stoppelhaarschnitt, aus dem Kragen seines T-Shirts schlängelte sich eine Tätowierung.

»Wie heißen Sie?« Das stand auf einer Karte, die vor Custo lag.

»Leutnant Michael Joseph Parnham, Dritte Division, Segue Spezialeineinheit.« Im Kopf sagte er Mike.

Zeit zur Sache zu kommen. »Arbeiten Sie mit den Geistern zusammen?«

Mike richtete sich auf. »Nein, Sir!« Seine Gedanken bekräftigten seinen Ausruf, Nein, Sir!

Annabella bewegte sich. Wenn mehr als zwanzig Soldaten hier ein- und ausgingen, musste sie ja aufwachen. Aber Custo wollte sie nicht allein lassen. Es musste so gehen.

»Wissen Sie von jemandem, der gemeinsame Sache mit den Geistern macht? Und sprechen Sie leise. Wenn Sie schreien, ändert das nichts am Wahrheitsgehalt Ihrer Antwort.«

»Nein, Sir.«

»Haben Sie je Informationen an Personen außerhalb Ihrer autorisierten Einheit weitergegeben?«

»Nein, Sir.« Abgesehen von dem einen Mal, als ich Jeni gesagt habe, dass ich ins Ausland reise, weil ich ihr versprochen hatte, ihr Bescheid zu sagen, wenn ich das Land verlasse, aber sie hat mich für einen Buchhalter sitzen gelassen, weil sie ein Baby und einen Minivan und ein hübsches Haus haben wollte.«

Der Kerl war nicht ihr Verräter. Der nächste?

Während der dritten Befragung richtete Annabella sich im Bett auf, woraufhin Custo im Anschluss eine Pause anordnete. Adam hatte recht sie sah deutlich besser aus, obwohl sie die Lippen fest aufeinanderpresste, den Körper anspannte und etwas schreckhaft war. Sie wollte immer noch nichts essen.

Sie kämpfte mit sich, ob sie Venroy anrufen und den Empfang absagen oder sich das ersparen und gleich auf alles pfeifen sollte. Sie neigte zu Letzterem, ein überaus schlechtes Zeichen. Sie hatte schon den Impuls unterdrückt, ihre Mutter anzurufen.

Etwas mehr als vierundzwanzig Stunden waren vergangen, und sie standen wieder am Anfang. Sie wollte das Tanzen aufgeben. Das war nicht richtig. Das war nicht Annabella.

»Um wie viel Uhr ist der Empfang?«, fragte Custo.

»Das ist egal«, erwiderte sie. »Ich gehe sowieso nicht hin.«

Auch wenn Abigail, das Medium, laut Zoe gesagt hatte, sie sollten an dem Empfang teilnehmen, war Custo bis zu jenem Moment unentschlossen gewesen. Die Vorstellung, Annabella der Öffentlichkeit preiszugeben, gefiel ihm nicht. In Segue war sie zwar auch nicht sicher, aber hier besaßen sie zumindest einen Heimvorteil. Doch die Resignation in ihren Augen erschien ihm genauso gefährlich wie der Wolf. Sie musste weiterleben, ihrer Leidenschaft für den vollkommenen Tanz frönen, ansonsten klang das Angebot des Wolfes umso verlockender, ihre Sehnsucht nach den Schatten umso stärker.

»Wir gehen zu dem Empfang«, erklärte er.

»Custo«, schaltete Adam sich ein, »Ich weiß nicht « ob das jetzt gerade das Beste ist.

»Nein, Adam«, entgegnete Custo. Wenn man ihrer Angst genügend Raum ließ, nahmen ihre Energie ab und die Selbstzweifel zu.

Adam sah ihn an. Du hast es selbst gesagt. Sie hat heute schon genug durchgemacht.

Custo schlug ganz bewusst einen strengen Ton an: »Sie kann sich nicht den Luxus erlauben, in Selbstmitleid zu schwelgen. Sie muss an diesem verdammten Empfang teilnehmen, ihre Courage wiederfinden. Wer weiß, was morgen ist?«

Aus vor Angst geweiteten Augen sah Annabella ihn an. Custo beobachtete, wie sich ihre Furcht in Vorwürfe und Wut verwandelte, doch sie sagte nichts. Er drang in ihre Gedanken ein: Sie waren tödlich, was allerdings nichts mit dem Wolf zu tun hatte sie wollte Custo die Augen auskratzen.

Gut. Immerhin war sie nun wieder voller Energie, auch wenn seine Chancen schwanden, sie je wieder zu berühren. In ihr zu sein. Wenn dieses Opfer nicht einem Engel würdig war, wusste er es auch nicht.

»Außerdem«, fügte Custo hinzu, »ist das genau das, was der Wolf will. Er will dich um das Leben bringen, das du dir so hart erkämpft hast. Wenn du nicht an dem Empfang teilnimmst, hat er wieder einen Sieg errungen. Als Primaballerina findet der Empfang doch auch zu deinen Ehren statt, oder nicht?«

Sie biss die Zähne zusammen, die feinen Muskeln an ihrem Kiefer zuckten, aber sie nickte. Ja.

Ihr Blick verfinsterte sich, und Custo wusste, dass sie über seine Worte nachdachte. Sie war dabei, die richtige Entscheidung zu treffen.

»Lass uns hingehen«, sagte Custo aufmunternd. »Wir müssen ja nicht lange bleiben.«

»Ich habe nichts anzuziehen«, sagte sie mit belegter Stimme, »und ich fahre nicht nach Hause, um mein Kleid zu holen. Ich gehe nie wieder dorthin zurück.«

»Darum kümmere ich mich«, bot Adam an. »Willst du meinen Smoking haben, Custo?«

Nach dem Mord an Peter brauchte Annabella auf jeden Fall ein neues Zuhause.

»Custo?«

Der Smoking. »Er wird mir an den Schultern etwas zu eng sein, aber es wird schon gehen«, erwiderte Custo mechanisch. Es war ein alter Witz zwischen ihnen und ein schwacher Versuch, die Stimmung aufzuheitern.

Zumindest lächelte Adam ein bisschen und klopfte ihm auf die Schulter. Annabella wandte sich trotzig ab und stieg wieder ins Bett. Adam brachte ihr ein Laptop, damit sie sich die Zeit vertreiben konnte, solange Custo die Soldaten verhörte. Da sie sich den Film Totenerwachen herunterlud, waren hin und wieder leise Schreie zu hören, während Custo arbeitete.

Er konnte sich kein deutlicheres »Leck mich« vorstellen. Es war sehr effektiv.

Vierundzwanzig Befragungen später war Custo mehr als verwirrt. Er hatte alle möglichen Fragen gestellt, aber noch nie war er aufrichtigeren, loyaleren Männern begegnet.

Ratlosigkeit machte sich in ihm breit. Irgendetwas hatte er offenbar übersehen, aber bevor er einen weiteren Versuch unternehmen konnte, musste er erst noch einmal alles durchsehen. Und langsam wurde es spät.

An der Badezimmertür hing ein Kleidersack, der vermutlich ihre Kleidung für den Abend enthielt. Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass sie sich beeilen mussten, wenn sie es zu dem Empfang schaffen wollten.

Custo duschte rasch und entfernte den nun überflüssigen Verband von seinem Bauch, während Annabella sich am Waschbecken schminkte. Als er herauskam, nutzte sie die offen stehende Tür der Duschkabine, um sich dahinter umzuziehen. Dabei war sie alles andere als genant. Ganz abgesehen davon hatte er ihren reizenden Körper erst heute Morgen in Gänze gesehen, aber damit konnte er leben.

Adams klassisch geschnittener Smoking saß tatsächlich etwas knapp an den Schultern, was Custo bei der erstbesten Gelegenheit erwähnen würde, aber er sah gut aus.

Annabella trat hinter der Duschwand hervor und sah beeindruckend aus. Sie trug ein kobaltblaues Kleid, das ihre Haut erstrahlen ließ, und hatte die dicken Haare locker hochgesteckt. Ihre Augen glänzten, und die geschminkten Lippen wirkten zickig und schmollend zugleich. Als sie sich umdrehte, um den Raum zu verlassen, sah er, dass der Ausschnitt in Form eines V bis hinunter zum Poansatz reichte und ihren geschmeidigen Körper voll zur Geltung brachte, während sich der Stoff locker um Taille und Hüften schmiegte.

Es juckte Custo in den Fingern, über ihre Haut zu streichen, den Stoff von ihren Schultern zu schieben, ihre Haare zu lösen und mit den Lippen ihren Nacken zu liebkosen. Er bedauerte sehr, dass er sie so verärgert hatte.

Es versprach, eine höllische Nacht zu werden.

Wolf zerriss mit einer Klaue die Bettlaken. In ihm tobten Wut und Begehren und trübten seinen Blick. Die Konturen des Raumes verdoppelten sich, und die Farben und Ränder um ihn herum verschoben sich, während er mit den Beinen auf der viel zu weichen Matratze Halt suchte. Frau. Engel. Blut. Und zahlreiche andere Sterbliche, alles Männer, aber schwer auseinanderzuhalten.

Die Quellen dieser intensiven, anregenden Gerüche waren jetzt verschwunden. Auch die Frau.

Die Schatten hatten ihn nur widerwillig, zu spät und kraftlos, wieder in die Welt entlassen. Er fühlte sich zu schwach, um sie zu packen und auf seinen Vorteil zu drängen. Etwas früher, als sie noch zu ängstlich und schwach gewesen war, um sich zu wehren, hätte er ihre Einwilligung erzwingen können.

Seine eigenen Schatten hatten ihn verraten, aber sie waren schon immer unzuverlässig und wankelmütig wie die Äste der Zwielichtlande gewesen.

Wolf schüttelte seinen Pelz. Jetzt hatte er seine Gestalt wieder. Die Frau mochte beschlossen haben, seinen Namen nicht mehr zu benutzen, aber sie konnte ihn nicht mehr zurücknehmen.

Er musste ihr eine Falle stellen. Keinen Käfig wie in den unteren Geschossen dieses massiven Gebäudes, wo sie die mit Leben gefüllten Körper hielten, die die Menschen als Geister bezeichneten.

Nein, er brauchte eine Menschenfalle, er musste ein menschliches Herz fangen.

Und die Todesfee, die Mutter, hatte ihm beigebracht, wie.