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Blut tropfte von Custos Arm auf den kalten Betonboden der Zelle. Ein tiefer Schnitt in seinem Unterarm, der Haut und Muskeln verletzt hatte, bereitete ihm heftige Schmerzen ein Abschiedsgeschenk von einem von Adams Männern, und ein Test: Geister heilten sehr schnell, Menschen nicht.

Nicht, dass Custo eine Willkommensparade erwartet hatte; Adam musste alle erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen treffen. Custo lehnte an der Zellenwand sein Hintern war von dem langen Sitzen auf dem harten Boden schon ganz taub , sein Unterarm ruhte gut sichtbar auf seinen Knien. Den Ärmel hatte er über den Ellbogen nach oben geschoben. Die einfachste Methode, Geister zu identifizieren, bestand darin, ihnen bei der Heilung zuzusehen, eine beeindruckende Mischung aus Albtraum und Wunder.

Custo war selbst mehr als neugierig. Heilte ein Engel, der sich unerlaubt entfernt hatte, genauso schnell?

Das monotone Grau der Zellenwand wurde lediglich von einem langen, knapp handbreiten Schlitz aus dickem Plexiglas durchbrochen. Es gab keine Möglichkeit, Essen hereinzubringen, ohne die zwei Fuß dicke, stahlverstärkte Tür zu öffnen. Abgesehen von dem metallischen Geruch seines Blutes roch die Luft nach Erde, als befände sich die Zelle in einem Keller, und war vom eigenartigen Körpergeruch der lebenden Toten durchzogen. Eine Geisterzelle.

Custo kannte die drei Einrichtungen von Segue im Nordosten der USA wie seine Westentasche er war bei allen an der Planung beteiligt gewesen aber dieses Gebäude kam ihm nicht bekannt vor. Es musste neu sein, und falls das stimmte, dauerte der Geisterkrieg an, und seit seinem Tod mussten mindestens ein paar Monate vergangen sein. Da er in Annabellas Gedanken gelesen hatte, dass sie grundsätzlich von den Geistern wusste, musste die Bedrohung offiziell bekannt sein. Er rechnete. Wahrscheinlich war mehr als ein Jahr vergangen. Kein Wunder, dass Adam misstrauisch war.

»Ich bin kein Geist, Adam«, rief Custo. Seine Stimme hallte ihm von der Wand entgegen.

Wie erwartet, erhielt er keine Antwort.

Custo öffnete seinen Geist und ortete Adam, der sich auf der anderen Seite der Zellenwand befand. Custo las seine Gedanken: Sein Freund war entschlossen, den Test abzuwarten. Custo drang weiter in Adams Verstand vor und versuchte, seine tiefer liegenden Gedanken zu ergründen, aber wie immer konnte er nur die Gedanken lesen, die die unmittelbar bevorstehenden Handlungen betrafen, und auch auf die konnte man sich verlassen. Ständig änderten die Leute ihre Meinung.

Er suchte weiter und stieß nicht weit entfernt auf Annabella. Ihre Gedanken bildeten ein einziges Durcheinander. Wahrscheinlich war sie verängstigt, besorgt und wütend. Aber in Sicherheit. Es gab keinen besseren Ort für sie als Segue, für ihren Schutz und für die Lösung ihres Problems. Je eher er mit Adam die Geisterfrage geklärt hatte, desto schneller konnte er sie beruhigen. Er wollte nicht, dass sie sich unnötig ängstigte. Sie war angriffslustig, das gefiel ihm, aber zu zart, um gegen ein Schattenwesen zu kämpfen. Er würde sich um alles kümmern.

In seinem Kopf blitzte ein Bild auf: Annabella, die ihre Beine um ihn schlang, während er tief in sie eindrang, lustvolle Reibung, ihre Herzen schlugen dicht nebeneinander, sein Mund an ihrer Schulter, der süße Geruch ihrer Haut

Ein heftiges heißes Zischen lenkte Custos Aufmerksamkeit zurück auf seinen Arm. Der Schmerz vertrieb die Fantasie aus seinem Kopf. Er blinzelte heftig und untersuchte seine Wunde.

Geronnenes Blut verdeckte die tiefen Gewebelagen, die klaffende Wunde stand offen wie ein weiter, lippenloser Mund. Doch die Farbe an den äußeren Rändern des Schnittes ging von Dunkelrot in Rosa über, während sich die Haut langsam in Narbengewebe verwandelte. Nur Millimeter, aber Custo war sicher, dass er heilte und zwar schnell.

Mist. Sein Herz krampfte sich zusammen.

Adam konnte daraus nur einen einzigen Schluss ziehen dass er einen Geist beobachtete. Und beim Thema Geister war Adam immer sehr entschieden gewesen. Er wollte sie alle umbringen. Custo konnte ihm das nicht verübeln. Adams eigener Bruder, Jacob, war freiwillig zum Geist geworden, hatte sein Menschsein gegen die Unsterblichkeit eingetauscht, dann Adams Eltern umgebracht, sich mit ihren Seelen gestärkt und sich über Adam lustig gemacht, dass er zu menschlich und zu schwach sei, um ihn aufzuhalten. Jacob hätte es besser wissen müssen, hätte wissen müssen, dass Adam nicht zusammenbrechen und ihm die Vernichtung seiner Familie nie vergeben würde. Das Segue Institut war zu einem einzigen Zweck gegründet worden er wollte einen Weg finden, Jacob zu töten.

Die Hitze in Custos Arm erreichte jetzt seine Knochen, das Zusammenwachsen der Haut schmerzte. Die Heilung verlief nicht annähernd so schnell wie bei den Geistern, die sich in Minutenschnelle von eigentlich tödlichen Wunden erholten, aber sie ging deutlich schneller vonstatten als bei einem normalen Menschen. Also, verdammt, ein Geist.

Custo hob seinen unverletzten Arm, befeuchtete seinen Daumen und entfernte das getrocknete Blut vom Rand der Wunde. Jetzt war ganz offensichtlich, dass er unnatürlich schnell heilte. Die Wahrheit war nicht zu übersehen.

Um Missverständnissen vorzubeugen, drehte er die sich schließende Wunde dem Schlitz in der Wand zu. »Ich bin kein Geist, Adam. Ich bin ein « Er verstummte. Noch immer konnte er dieses alberne Wort nicht laut aussprechen. Er stöhnte innerlich, holte tief Luft und versuchte es noch einmal. »Ich bin ein Engel

Schweigen. Nicht einmal eine Frage flackerte in Adams Kopf auf.

Custo seufzte. »Ich weiß. Ich weiß. Es klingt absurd. Ich erwarte nicht, dass du mir glaubst, denn ich fasse es ja selbst nicht, aber es ist so. Du kannst es nur herausfinden, indem du mir vertraust. Ich bitte dich, mir zu vertrauen.«

Schweigen.

Jacob hatte Spaß daran gehabt, mit Adams Gedächtnis zu spielen, ihn hereinzulegen und ihn an die Zeiten zu erinnern, als sein Leben noch in Ordnung gewesen war. Custo wollte nicht dasselbe tun, wollte seinen Freund nicht mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit manipulieren. Nicht, dass Adam etwa gerührt gewesen wäre. Er hatte gelernt, nicht auf das hinterlistige Gerede von einem Geist in einer Zelle zu hören, nicht auf die raffinierten Bitten, ihn freizulassen, egal, ob es sich um seinen Bruder oder einen lange verlorenen Freund handelte.

Custo seufzte und ließ den Arm zurück auf die Knie sinken. Er spürte Adams Anwesenheit auf der anderen Seite der Betonmauer, seine strahlende Persönlichkeit. Adam konnte sich keine Fehler leisten. Wenn die Welt nur annähernd so war wie zuvor, konnte Adam auf keinen Fall mit ihm ein Risiko eingehen.

Adam kam zu einer Entscheidung.

Als die Zellentür aufgeschlossen wurde, schob sich Custo nach oben und stand auf.

»Ich will einen Anwalt sprechen. Sie haben kein Recht, mich gegen meinen Willen festzuhalten!«, schrie Annabella dem Schlitz in der Mauer ihrer seltsamen Zelle entgegen. Sie war schlimmer als die Zellen, die sie im Fernsehen gesehen hatte ein schrecklicher kalter grauer Keller, in dem nur ein beschissener Klapptisch mit zwei beschissenen Klappstühlen stand. Zumindest war der Raum einigermaßen beleuchtet. Wenn sie in der Nähe der Tür blieb, sollte sie sicher sein. Die dämmerige Ecke auf der anderen Seite kam nicht infrage. An solchen Orten hielt sich der Wolf gern auf. Sie wollte ihre Taschenlampe, damit sie ihn verbrennen konnte.

Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, um etwas Krach zu erzeugen. In dem Betonraum klang der Schlag wie ein Schuss.

»Hallo! Verdammt! Ich bin total müde!« Ihre Stimme hörte sich rau und schrill an. Sie hatte unfassbare Angst und zuckte bei jeder Kleinigkeit zusammen. Wenn sie von diesem ganzen Mist mit Custo krank wurde, würde sie ihn umbringen. Und diesen Idioten Adam gleich mit. Sie hätte sich nie darauf einlassen dürfen, mit Custo ein Taxi zu teilen. »Ich will einen Anwalt sprechen!«

Annabella zog einen Stuhl an die helle Seite des Tisches. Das verdammte Ding krachte zusammen, und es bedeutete einen ziemlichen Kampf, ihn erneut auseinanderzuklappen. Als sie ihn endlich wieder geöffnet hatte, stellte sie ihn auf den Boden und setzte sich vorsichtig darauf.

»Ich. Muss. Mich. Entspannen«, sagte sie laut. Offenbar hörte sie niemand. »Ich muss mich entspannen. Ich muss Ruhe bewahren. Ich trete in« sie rechnete die Stunden aus, bis sie auf der Bühne stehen musste »rund zwanzig Stunden auf. Ich muss mich zusammenreißen. Tief ein- und ausatmen.« Sie sog die Luft ein, bis ihre Lungen beinahe platzten und ließ den Atem langsam entweichen. Und noch einmal. Viel besser.

Sie blickte über ihre Schulter zu dem Schlitz in der Betonwand. Verdammt. »Holt mich hier raus!« Ihr Kreischen war durchdringend, ein Ton, bei dem Glas zersprang, aber dem Beton konnte er nichts anhaben. Sie musste sich mehr anstrengen.

Das durfte doch nicht wahr sein. Sie sah sich noch einmal um.

»Vielleicht bin ich vollkommen verrückt geworden.« Das klang deutlich plausibler als jede andere Erklärung. »Das ist es. Ich bin verrückt. Das ist keine Gefängniszelle; das ist eine Gummizelle in einem sehr einfachen Krankenhaus. Ich bin nicht von einem Wolf verfolgt worden darin manifestieren sich lediglich meine Ängste und mein Stress. Und dieser Custo ist « Die Verkörperung meiner heißesten Träume. Na, bitte. Verrückt.

Beton kratzte laut über Beton. Annabella stand auf und warf dabei den Stuhl um. Die riesige, dicke Tür schwang auf. Erneut stieg Wut in ihr hoch. Wer auch immer dafür verantwortlich war, dass man sie unrechtmäßig eingesperrt hatte, konnte etwas erleben. Sie würde Anzeige bei der Polizei erstatten. Und ihn verklagen, weil er versucht hatte, ihre Vorstellung zu ruinieren.

»Ich erwarte einige Erkl…«, hob Annabella an und verstummte abrupt, als die Tür so weit aufstand, dass der Gefängniswärter dahinter zum Vorschein kam.

Es handelte sich um eine kleine, hochschwangere Frau. Wenn Annabella müde war, wirkte die Frau, als würde sie gleich ohnmächtig werden. Sie war leichenblass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Beides wurde noch durch ihre weißblonden Haare betont, die sie zu einem schlichten Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.

Annabella unterdrückte ihre Entrüstung und behielt die Beschimpfungen, die ihr auf der Zunge lagen, für sich. Ganz zu schweigen davon, dass sie sterbenshungrig war. Sie hatte heute vier Stunden getanzt.

Die Frau lächelte sie zaghaft an.

»Oh, verdammt«, sagte Annabella unwirsch. »Ich hole Ihnen einen Stuhl.« Sie drehte sich um, doch das verdammte Ding war wieder in sich zusammengefallen.

Die Frau lachte und watschelte herein. »Sehr freundlich.«

»Nun, Sie sehen aus, als würde es gleich losgehen«, grummelte Annabella und klappte den Stuhl wieder auseinander. »Hier.«

»Noch zwei Monate. Zwillinge.« Die Frau stützte sich auf dem Tisch ab und setzte sich. Mit einem weiteren Kratzen fiel die Metalltür ins Schloss.

»Oh « Annabella blickte zur Tür. Erneut kroch Wut in ihr hoch.

Die Frau drückte ihre Hand. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin Talia, Adams Frau. Wir sitzen hier nicht lange fest. Adam ist gerade bei Custo, aber er sieht andauernd nach mir.« Sie seufzte schwer. »Andauernd«, betonte sie und verdrehte die Augen.

Annabella kämpfte mit dem zweiten Stuhl. »Wo sind wir hier? Und warum zum Teufel hält man mich als Geisel gefangen?«

»Sie sind keine Geisel. Sie befinden sich nördlich von New York City, in einer Einrichtung von Segue.«

»Das ist kriminell.«

Talia zuckte mit den Schultern. »Der Präsident persönlich hat uns das Recht eingeräumt, Geister festzunehmen und einzusperren.«

»Ich bin kein Geist«, schoss Annabella zurück. Der Präsident? Der Vereinigten Staaten von Amerika?

»Aber Sie glauben mir.« Talia zeigte wieder ihr müdes Lächeln und zog ihre Hand mit einem zufriedenen Seufzen zurück. »Wollen Sie mir erzählen, wieso?«

Wieso? Als ob sie irgendeine Ahnung hätte, warum die Welt plötzlich so beängstigend verrückt spielte. Erst der Wolf, dann diese surreale Begegnung mit Custo und schließlich die Soldaten, die sie beide aus dem Unterschlupf in der Stadt gezerrt hatten.

Talia hob interessiert die Brauen. »Wie wäre es, wenn Sie damit beginnen, wie Sie Custo begegnet sind?«

»Wie wäre es, wenn Sie mich hier herausließen?«

»Erst Custo«, entgegnete Talia. »Außerdem habe ich Adam versprochen, dass ich Sie nicht aus der Zelle lasse.«

Trotz ihrer Wut musste Annabella lächeln. »Aber Sie haben ihm nicht gesagt, dass Sie vorhatten, mich zu treffen?«

Wieder zuckte Talia mit den Schultern. »Custos Rückkehr hat ihn ein bisschen verwirrt, und da habe ich die Gelegenheit genutzt.«

»Werden Sie Ärger bekommen?« Die Frau schien schon so geschlagen genug. Dass dieser Mistkerl Adam sie noch mehr stresste, hatte gerade noch gefehlt.

»Am liebsten würde Adam mich so anschreien, dass die kleine Ader an seiner Schläfe anschwillt, aber er tut es nicht. Der arme Mann hat es dieser Tage nicht leicht.«

»Der arme Mann? Er hat mich durchsucht. Und zwar überall!« Annabella hob die Brauen, um sicherzugehen, dass Talia sie richtig verstand.

»Glückspilz. Ich wünschte, er würde mich durchsuchen.« Wieder dieses müde Lächeln.

Annabella musterte Talia von oben bis unten. »Sieht aus, als hätte er Sie vor sieben Monaten gründlich durchsucht.«

Talia lächelte breiter, ihre Augen leuchteten. »Das hat er. Unsere verspätete Hochzeitsreise nach Paris war sehr schön. Erzählen Sie mir von Custo, bevor Adam zurückkommt oder mich jemand verpetzt.«

Custo? Wie wäre es zuerst mit etwas Freiheit? Ein wenig angemessener Behandlung?

Annabella begegnete Talias müdem Blick und spürte, wie sich ihr letzter Ärger in Luft auflöste. »Na, gut.«

Sie erinnerte sich an jenen Augenblick, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Es war nur ganz kurz gewesen: Die Kostümprobe war wie üblich gut und schlecht verlaufen. Sie hatte gerade ihr letztes Solo begonnen, da tauchte der Wolf auf. Sie hatte das Tier ignoriert und sich gesagt: Wenn er real ist, ist es zu spät zum Wegzulaufen. Und wenn nicht, muss ich mir keine Sorgen machen. Auf der anderen Seite hatte sie Custo, versteckt hinter der Dekoration, entdeckt.

»Er ist aus dem Nichts aufgetaucht«, sagte Annabella. »Im einen Augenblick habe ich allein auf der Bühne getanzt, im nächsten war Custo bei mir und hat mir geholfen, die Wahnvorstellung von einem Wolf zu bekämpfen.«

»Wie bitte?« Talia zog die Brauen zusammen. »Von einem Wolf?«

»Ja. Sie werden mir nicht glauben, aber ich schwöre, es ist die Wahrheit.« Custo hatte ihr geglaubt; vielleicht würde diese Frau ihr ebenfalls glauben. »In der Stadt ist ein riesiger Wolf unterwegs. Er besteht aus Schatten und verfolgt mich seit zwei Tagen.«

Annabella lehnte sich zurück und wartete auf Talias Reaktion. Wenn die Frau nur andeutungsweise ungläubig, herablassend oder amüsiert wirken sollte, würde sie ihr ordentlich die Meinung sagen, ob schwanger oder nicht.

Talia bekam schmale Lippen und wirkte angespannt. »Besteht der Wolf aus Schatten oder existiert er in den Schatten?«

Ihre ernste Miene jagte Annabella einen eisigen Schauder über den Rücken, ihre Kopfhaut kribbelte, und das Blut wich aus ihrem Gesicht. »Es gibt ihn wirklich?«

»Das ist sehr gut möglich.«

Zwei Menschen glaubten ihr. Das bedeutete, dass der Wolf real war und sie wirklich verfolgte. Annabella legte den Kopf auf den Tisch, denn der Raum um sie herum begann sich zu drehen.

»Hier sind Sie sicher«, erklärte Talia. Annabella spürte eine tröstende Hand auf ihrer Schulter. »Wieso berichten Sie nicht von Anfang an?«

Der Jäger kauerte in einer dunklen Ecke und keuchte vor Angst. Widerliche beißende Industriegerüche hingen in der Luft. Fremde Geräusche erschütterten ihn und hallten in einer Welt aus rauem, kühlem Grau wider. Seine Krallen scharrten und kratzten über ein Firmament aus flachem, unnatürlichem Stein. Keine Bäume, keine Magie. Nur riesige, breite Höhlen, eine über der anderen bis tief unter die Erde.

Nicht sein Gebiet. Nicht sein Reich. Hier war er der Eindringling.

Der Jäger machte sich in dem mageren Erdschatten bereit. Kratzend löste sich ein hohes Jaulen aus seinem Hals. Zurück. Er musste zurück.

Sterbliche verrieten sich durch ihre schweren Schritte. Sie wirkten brutal und kontrolliert. Allesamt Kämpfer. Der strahlende Mann, der sich ihm in den Zwielichtlanden in den Weg gestellt hatte, war schlimmer, aber sie hatten ihn eingesperrt.

Die Frau befand sich auch irgendwo hier, ihr Geruch hing noch schwach in den Gängen.

Sie konnte ihn zurück in die Zwielichtlande bringen, den Weg zu dem endlosen Wald freimachen. Seinem Revier.

Mit schwerem Schritt nahte ein Kämpfer. Ein Mann, der einen intensiven Geruch von Leben verströmte.

Der Jäger bleckte die Zähne, legte die Ohren an und war bereit zum Angriff.

Der Mann lief ganz selbstverständlich den Gang hinunter, als dürfte er sich in diesen Höhlen frei bewegen. Kam immer näher. War voll mit sterblichen Körpersäften.

Dieser Kämpfer konnte an die Frau herankommen. Vielleicht konnte er sie zwingen, ihm mit ihrer Magie den Rückweg zu ebnen.

Der Jäger sprang nach vorn, um ihn zu packen.

Die Tür ging auf, und Custo stellte sich mitten in die Zelle nicht zu nah an die Tür, als wollte er angreifen oder flüchten, aber auch nicht zu weit auf die andere Seite, als wollte er Adam von der Sicherheit verheißenden Tür weglocken.

Adam trat ein, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. An seiner Schulterhaltung erkannte Custo, dass er darauf vorbereitet war, notfalls zu kämpfen. Sie hatten zwar häufig gemeinsam Geistern gegenübergestanden, aber Adam hatte auch ein paar davon allein überwältigt.

»Ich bin kein Geist.« Zum Beweis setzte sich Custo auf den Boden. Wenn er ein Geist wäre, würde er sich daran machen, Adam zu verspeisen.

»Ein Engel?« Adams ausruckslose Stimme verriet nicht, was er dachte.

Custo kratzte sich das Kinn wie ein Gangsterboss in einem Film ein alter Witz zwischen ihnen und zuckte mit den Schultern.

»Von Gott gesandt?«

Custo zuckte leicht zusammen und wehrte ab.

»Von wem dann?« Das klang etwas sarkastisch.

Custo räusperte sich. »Ich bin ohne Erlaubnis gegangen.«

Adam runzelte die Stirn, setzte sich gegenüber von Custo im Schneidersitz auf den Boden und musterte ihn kühl. »Dann erzähl mal.«

Es gab zu viel und zu wenig zu erzählen, aber er wusste zumindest, wo er anfangen sollte. »Nun, Spencer hat mich umgebracht.« Custo ließ den Teil mit der Folter aus.

»Ich erinnere mich«, sagte Adam, die Kiefermuskeln angespannt. Wütend. Aber seine Gedanken verrieten nichts.

»Was ist eigentlich aus ihm geworden?« Custo imitierte Adams gelassene Haltung, aber auch er war wütend. Er hatte eine Rechnung zu begleichen.

»Hast du das nicht von deiner Wolke im Himmel aus gesehen?«, fragte er überaus sarkastisch. Sehr wütend.

»So funktioniert das nicht.« Custo sprach betont ruhig weiter. »Hast du ihn umgebracht?« Soweit Custo wusste, hatte Adam noch nie jemanden getötet. Custo glaubte nicht, dass er das ertragen könnte.

»Die Geister sind mir zuvorgekommen.«

Ach. »Wie passend. Er hat mit ihnen zusammengearbeitet.« Spencer war der Verbindungsmann zwischen dem IBÜ und dem Segue Institut gewesen. IBÜ, die Initiative zur Bekämpfung übernatürlicher Erscheinungen, war eine geheime Regierungsabteilung, die versuchte, die Geister zu kontrollieren, während das Segue Institut sie erforschte und herausfinden sollte, warum sich Menschen in Monster verwandelten. Das IBÜ verpatzte vieles.

Custo holte tief Luft. »Übrigens hat Spencer mir erzählt, dass es einen Verräter in Segue gibt. Noch jemanden, der mit den Geistern gemeinsame Sache macht. Jemand, dem du vertraust.«

Nun war es raus. Und Custo eine große Sorge los. Adam war gewarnt.

Woher weißt du das?, fragte Adam im Geiste, aber er sagte: »Wann hat er dir das gesagt?«

Adam wusste also schon Bescheid. Eine gute Nachricht.

»Bevor er mich getötet hat.« Es war überaus ärgerlich, dass dieser Mistkerl Spencer ihn umgebracht hatte. Nicht sehr rühmlich. »Hattest du irgendeinen Verdacht, dass es noch einen anderen Verräter gibt?«, fragte Custo, obwohl er die Antwort aus Adams Kopf bereits kannte.

Adam zuckte mit den Schultern. »Wir hatten in den letzten sechs Monaten ein paar interne Lecks und haben dadurch ein paar Leute verloren. Kurz nachdem du gestorben bist, hat Talia den Dämon getötet, der die Geister geschaffen hat. Es gibt ungefähr noch tausend Geister, die auf der ganzen Welt verteilt sind. Eine Weile haben wir sie aggressiv verfolgt und beseitigt, aber dann haben sie gelernt, sich besser zu verstecken und ihre Angriffe zu koordinieren. Ihr Ziel ist Segue vor allem Talia und ich.

»Sitzt du deshalb in dieser charmanten Bude?« Custo ließ den Blick über die durch und durch graue Zelle gleiten. »Das ist nicht dein Stil, Adam.«

»Der Laden gehört mir nicht. Er ist im Besitz der US Armee, die sich übrigens im Laufe unserer Bemühungen sehr kooperativ gezeigt hat.«

Custo hob abwehrend die Hand. »Oh, bitte nicht das IBÜ. Wo ein faules Ei ist, gibt es sicher noch andere.«

»Das IBÜ wurde aufgelöst. Die Existenz der Geister ist jetzt allgemein bekannt, und wir haben die volle Unterstützung des Militärs.«

Custo blickte hinunter auf seinen nun verheilten Arm und versuchte, diese neuen Informationen zu verarbeiten. Spencer war tot, was ihn persönlich enttäuschte. Die Regierung garantierte volle Unterstützung, was einen großen Fortschritt bedeutete. Und der Krieg mit den Geistern war noch im Gang. Er spannte den Muskel in seinem Unterarm an, die blutige Kruste sprang auf.

Adam sprach aus, was ihm durch den Kopf ging. »Dann habe ich in dir also eine unbekannte Größe «

Custo lächelte. Das war vorsichtig ausgedrückt. Er blickte wieder auf.

»Und einen Verräter in Segue.«

Custo nickte und grinste breit. »Du musst dich nicht bei mir bedanken. Ich bin nur aus dem Himmel geflohen, einer Piranhameerjungfrau mit riesigen Titten entkommen und auf die Erde gefallen, um deinen armen, vornehmen Hintern zu retten.«

Adam lächelte schwach, dann besann er sich. »Du bist kein Geist?«

»Ein En-gel.«

Adam hob eine Braue. »Eine Meerjungfrau.«

»Mit riesigen Titten. Meergrünen.« Custo hielt zur Veranschaulichung die Hände mit einigem Abstand vor seine Brust.

Adam lachte. »Und wie war es im Himmel?«

»Langweilig. Ordentlich. Nett.« Custo zuckte mit den Schultern. »Dir würde es gefallen, aber für mich ist das nichts.«

Adam senkte den Kopf. »Für mich auch nicht, Talia hat dort keinen Zutritt.« Die Todesfee.

»Ach? Du warst nicht untätig.« Adam schien es voll erwischt zu haben mit seiner Halb-Fee-halb-Mensch-Forscherin. Ja, laut Himmelsgesetz war Todesfeen der Zutritt verwehrt. Konnte eine Todesfee, die durch ihr Schreien in der Lage war, die Grenze zwischen der sterblichen Welt und dem Jenseits zu durchbrechen, durch das Himmelstor treten? Vermutlich hing es davon ab, welche Seite ihres Erbgutes die Oberhand gewann, überlegte Custo. Ziemlich kompliziert.

»Ich werde Vater wir bekommen Zwillinge.« Der schlichte Satz klang sehr glücklich. Adam besann sich und sah ihm direkt in die Augen. »Aufgrund der Schwangerschaft haben die Geister ihre Angriffe verdoppelt. Sie jagen uns. Ich kann es mir nicht leisten, irgendein Risiko einzugehen.«

»Ich will dir helfen. Ich weiß, was dir Familie bedeutet.« Ich war da, als man dir deine erste genommen hat.

Sie schwiegen eine Weile.

Schließlich räusperte sich Adam und schüttelte die Vergangenheit ab. Custo bemerkte die Veränderung in ihm, konnte beinahe fühlen, wie Adam die Erinnerungen wegpackte. Manche Erlebnisse waren einfach unerträglich.

»Ich habe da eine überaus zornige junge Frau in einer anderen Zelle. Eine Annabella Ames. Sie hat gedroht, mich in Stücke zu reißen, wenn ich euch zwei nicht wieder zusammenbringe. Eine sehr eindrucksvolle Ausdrucksweise.«

Braves Mädchen. »Wir müssen dafür sorgen, dass sie immer beschützt wird.«

»Deshalb haben wir dich hier eingeschlossen.«

Sehr witzig. Aber er meinte es ernst. »Du kennst ja Talias Trick mit der Dunkelheit, wenn sie die Schatten um sich zieht. Den sie benutzt hat, um sich vor den Geistern zu verstecken.«

Adam legte den Kopf schief.

»Nun, ich weiß, wie sie das gemacht hat. Sie hat die Grenze zwischen der Welt der Sterblichen und den Zwielichtlanden durchlässiger gemacht, indem sie die Schatten von dort herübergezogen hat. Und glaub mir, dort gibt es reichlich Schatten.« Custo hielt inne und gab Adam Gelegenheit, seine Aussage zu bestätigen oder ihm zu widersprechen.

Doch Adam sagte nichts, weder mündlich noch im Geiste.

»Annabella kann die Grenze nicht durchlässig werden lassen, aber wenn sie tanzt, kann sie sie beinahe überschreiten. Sie verfügt über eine Magie die überwältigend ist.« Custo sah wieder vor sich, wie sich ihre strahlende Gestalt durch die dunklen Bäume bewegt hatte. Bezaubernd. »Jedenfalls hat ein Wesen aus den Zwielichtlanden, ein Wolf, versucht, sie anzugreifen. Ich habe mich ihm in den Weg gestellt, und irgendwie sind wir beide mit ihr zurück in die Welt gekommen.«

Adam runzelte eine Braue. »Du willst, dass ich sie vor einem Wolf beschütze?«

»Wir. Ich will, dass wir sie beschützen. Es ist ein Schattenwolf.«

»Wodurch unterscheidet er sich?« Adam stand auf. Zeit zu gehen. Hoffentlich hat Talia nicht ihrem weichen Herzen nachgegeben.

Custo folgte seinem Beispiel. »Er besteht aus Schatten. Er existiert in Schatten. Wir müssen immer auf sie aufpassen.«

Adam machte eine Geste in Richtung Schlitz, es klickte, und mit einem schleifenden Geräusch wurde der Riegel von der Tür entfernt. Custo trat nach vorn, aber Adam legte eine Hand gegen seine Brust und hielt ihn auf. »Ich bin noch nicht ganz überzeugt.« Adams Ton und Miene waren todernst.

Was sollte das werden? Auch wenn das bei einem toten Mann etwas seltsam erscheinen mochte, Custo spürte Hunger. Er wollte etwas essen und mit einem Bier nachspülen. Er wollte die Gelegenheit haben, mit Annabella allein zu sein. Er wollte sich davon überzeugen, dass ihre Haut so seidig war, wie sie aussah.

»Du hast immer Unglaubliches geschafft«, sagte Adam. »Ich habe nichts anderes von dir erwartet, aber ich kann dich nicht guten Gewissens nach einem fünfminütigen Gespräch freilassen.«

»Was für einen Beweis brauchst du?«

»Was hast du zu bieten? Ich sehe keine Flügel.«

»Das ist ein Märchen.«

Adam lächelte und blickte von der nun geöffneten Tür über seine Schulter zu ihm zurück. »Talia sagt, dass die Wahrheit in den Märchen ihre Wurzeln hat.«

Das klang ganz nach ihr.

Custo seufzte. »Ich weiß nicht, wie ich dich überzeugen kann. Außerdem habe ich, anders als Jacob, nicht alle Zeit der Welt.«

Custo wollte wieder leben. Musste wieder leben. Lebensbejahende Handlungen standen ganz oben auf seiner Liste. Er hatte so lange darauf gewartet.

Adam beugte sich leicht nach vorn. »Jacob ist tot und Hunderte von Geistern ebenso.«

»Der Schattenmann?« Custo erinnerte sich an den Augenblick, in dem der Geisterkrieg ausgebrochen war, an jenem Tag hatte Talia ihren Schrei entdeckt. Die Geister hatten den Hauptsitz von Segue in West Virginia angegriffen. Es war unmöglich gewesen zu entkommen. Bis Talia Er hatte so ein Geräusch noch nie in seinem Leben gehört, es war schön und schrecklich zugleich gewesen, heiter und vernichtend, ein Widerspruch in sich. Sie hatte mit ihrem Schrei ein Loch in den Himmel gerissen, durch das der Tod gekommen war und mit seiner Sense zahlreiche Geister beseitigt hatte. Bevor ihr Vater Jacob erreicht hatte, hatte sie das Bewusstsein verloren.

Wenn Jacob tot war, musste sie wieder ihren Vater gerufen haben.

Adam tat so, als würde er sich in dem Betonloch umsehen, auf seinem Gesicht zeichneten sich Schmerz und grimmige Entschlossenheit ab. »Wir fangen Geister, halten sie hier fest, bereiten uns vor und dann «

Und dann ruft Talia mit ihrer Trompete den Tod.

Adam ging, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich werde tun, was ich tun muss. Ich habe einen Weg gefunden, meinen Bruder umzubringen. Ich kann auch dich umbringen.

Custo ballte die Hände zu Fäusten und erinnerte sich. An jenem Tag hatte der Schattenmann die menschlichen Männer und Frauen verschont. Würde er einen Engel verschonen?

Was machte er mit einem Engel, der ihn betrogen hatte?