21

Annabella wand sich und entriss ihren Arm Adams festem Griff. Sie bemerkte, wie Adam und Luca sich ansahen. Anscheinend hatten sie etwas vor. Da es niemand für nötig hielt, sie einzuweihen, handelte es sich vermutlich um einen äußerst schlechten Plan. Sie hatte es nicht genau vernommen, doch Custo hatte dem Wolf etwas Kryptisches angeboten, was der Wolf nun überdachte.

Was immer es war, die Antwort lautete: »Nein!«

Custo drehte sich zu ihr um. »Vertrau mir, Baby, es ist richtig so.«

»Behandele mich nicht wie ein ›Baby‹!«, kreischte Annabella. Sie war kein Kind. »Steh mir zur Seite. Kämpfe mit mir.«

Sie würde es nicht aushalten, wenn er ihr nicht zur Seite stand, und konnte kaum glauben, dass er hier jetzt diese Machonummer abzog. Obwohl doch. Dieses sture Verhalten passte zu ihm.

»Klar, man wird versuchen, dich aufzuhalten«, murmelte Custo dem Wolf zu. »Aber wenn du es erst geschafft hast zu entkommen, heilt mein Körper von allein.«

»Du willst mir sagen, dass ich einen Engel besitzen könnte?« Der Wolf zeigte ein breites böses Grinsen.

Annabellas Herz setzte aus. Sie hätte wissen müssen, dass Custo etwas so Dummes, Unmögliches, Hinreißendes versuchen würde. Er opferte sich für sie.

Aber was dann? Dann lief immer noch ein machthungriger, verrückter Wolf frei herum, nur in einem unglaublich schönen Körper. Und soweit sie wusste, verfügten sie über keine Möglichkeit, Custo anschließend wiederherzustellen, es sei denn, die Engel und ihr Orden verfügten über eine besondere Macht, die sie ihr verschwiegen.

Sie nahm eine Bewegung wahr. Adam schnippte mit den Fingern. Ein Zeichen. Aber für wen? Wozu?

Annabella ließ den Blick über das Gelände gleiten und entdeckte einen schwarzen Gewehrlauf auf einem weißen Stein. Ein Stück daneben tauchte eine weitere Waffe auf, die sorgfältig auf den Wolf und Custo gerichtet war. Ein dritter Soldat klopfte die Reste eines Geistes von der Wand und bezog ebenfalls Posten.

Sie sollten besser aufpassen, wohin sie schossen, denn selbst wenn Custo übernatürlich schnell heilte, konnte er immer noch

Oh. Gott. Nein.

Jetzt begriff sie und ganz wie vermutet, handelte es sich um einen dummen und schrecklichen Plan, mit dem sie überhaupt nicht einverstanden war: Der Wolf bekam Custo, einen Engel, und das bedeutete ein deutlich besseres Angebot als ihr vergleichsweise schwacher Körper. Für diese perfekte Gestalt nahm der Wolf das Risiko mit den Waffen in Kauf, und Adam würde beim Versuch, das Monster zu töten, seinen Freund kaltblütig erschießen. Ein Glücksspiel für beide Seiten.

Okay. Jetzt war sie wütend.

Annabella wirbelte zu dem Wolf und zu Custo herum, aber es sah aus, als wären sich die beiden bereits einig.

Der Wolf streckte seine Hand mit gespreizten Fingern in ihre Richtung. Die Marionettenfäden, die unablässig an ihren Gliedern und ihrem Geist gezerrt hatten, fielen von ihr ab. Es war, als hätte sie die Schatten schlichtweg ausgeatmet, aber sie fühlte sich rau und wund und schwerer als je zuvor.

Sie ignorierte ihre Erschöpfung; noch war die Show nicht gelaufen.

»Halt!«, schrie Annabella und taumelte zu Custo und dem Wolf, um den Irrsinn zu verhindern.

Zu spät. Als sie auf sie zustürzte, machte Custo einen Schritt nach vorn und sog den Wolf in sich hinein.

Schlagartig trübte sich der Tag ein, am blauen Himmel zogen Wolken auf, und es donnerte. Die Ränder der Welt wurden porös, die Töne rauer, und die Luft schmeckte bitter.

Als Custo wild umherraste, stellte sich Annabella ihm mit ihrem ganzen Gewicht in den Weg. Seine moosgrünen Augen färbten sich vollkommen schwarz. Die Adern in seinem Nacken, seinen Unterarmen und auf seinen Handrücken verdunkelten sich, als würde sein Herz Schatten durch die Venen pumpen. Sein Gesicht war eine Maske kaum kontrollierter Wut.

»Geh weg.« Vor lauter Anstrengung nahm seine Stimme ein tiefes Knurren an.

Annabella duckte sich unter seinem ausgestreckten Arm hindurch und umklammerte ihn, wobei sie hinter seinem Rücken fest ihre Handgelenke umfasste, damit er sie nicht abschütteln konnte. Wenn Adams Männer schossen, mussten sie zuerst sie erschießen. Sie würde nicht von der Stelle weichen.

»Ich kann ihn nicht mehr lange halten«, stieß Custo hervor und zerrte grob an ihren Handgelenken.

»Daran hättest du früher denken sollen«, erwiderte Annabella und hielt sich trotzig fest. Aus ihrer Kehle drängte ein Schluchzen herauf, aber sie schluckte es herunter. Weinen konnte sie später. »Wie kannst du es wagen, den Platz mit mir zu tauschen? Das ist nicht richtig. Jeder hier weiß, dass das nicht richtig ist.«

»Adam!«, rief Custo. »Nimm sie weg! Bitte!«

Custo verwandelte sich in ihren Armen, seine Brust weitete sich, und er keuchte.

Geduckt liefen zwei Soldaten hinter Custos Rücken her, bezogen Stellung und richteten die Waffen auf ihn. Aus dem Augenwinkel sah sie Luca, der eine lange blaue Klinge hielt.

Selbst die Engel waren gegen sie.

»Ich will dir nicht wehtun, Annabella.« Custo klang, als spreche er mit zusammengebissenen Zähnen.

»Das wirst du nicht«, erwiderte sie. »Du liebst mich.«

»Ja, aber der Wolf will dich« Custo schüttelte sich »unbedingt.«

»Wie schrecklich, er zu sein.«

»Das ist die einzige Möglichkeit«, sagte Custo. Seine Stimme hatte ein verstörendes animalisches Knurren angenommen, aber sie gab nicht auf.

»Hör zu, Custo«, sagte Annabella. »Ich will nicht, dass du für mich stirbst. Was ist das für eine beschissene Geste für jemanden, den du liebst!« Die schlimmste überhaupt.

»Annabella.« Die Knochen in seinen Schultern knackten.

»Außerdem bist du schon einmal für jemanden gestorben«, fuhr sie fort, »und sieh nur, wozu das geführt hat.«

Er knurrte an ihrem Ohr, sein Atem strich heiß über ihren Nacken.

»Versuch zur Abwechslung etwas anderes.« Nun ließ sich ihr Schluchzen nicht mehr zurückhalten. Unter Tränen sagte sie: »Lebe.«

Custo fasste Annabellas Handgelenke so fest, dass die Knochen sich bewegten. Sie wimmerte, aber sie ließ nicht los. Verschiedene Stimmen mit einander widersprechenden Botschaften hallten durch seinen Kopf. Töte sie. Liebe sie. Benutze sie. Vögele sie. Beschütze sie.

Wo war Adam, wenn er ihn brauchte?

Annabella hob den Blick zu ihm und sah ihn trotzig an. Ihre Iris war wieder blau, ihre Haut klar und makellos alles wieder normal.

Sie erwiderte seinen forschenden Blick. »Du hast schon besser ausgesehen«, stellte sie fest.

In der Schaufensterscheibe eines Geschäftes auf der anderen Straßenseite erkannte er sich nicht wieder. Um mehr Muskeln und festem Fleisch Platz zu machen, hatten seine Knochen sich verformt. Seine Wangenknochen standen hervor, seine Augen waren größer, schwärzer, tiefer. Schatten pulsierten durch seine Venen und reizten seine Nerven. Die Kraft, die in ihm wuchs, war aufregend, verwirrend und verführerisch.

Custo drehte sich langsam um und betrachtete die Straße. Soldaten, die Waffen im Anschlag, kauerten in einem weiten Bogen um ihn herum. Luca umklammerte sein Schwert so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Der Schattenmann wirkte nicht mehr desinteressiert, sondern schien Mitleid zu haben.

Adams Waffe hing schlaff an seiner Seite. Er hatte einen Schritt auf Annabella zugemacht, tat so, als wollte er sie holen, blieb dann jedoch stehen.

»Adam!«, schrie Custo.

Adam kam nicht näher. Er unternahm keinen Versuch, Annabella zu retten.

Custo blickte Hilfe suchend zum Himmel, doch der blieb verschlossen. Der Sturm trieb die dunklen Wolkenhaufen ineinander, sie verschlangen die Dächer der Gebäude, Blitze zuckten am Himmel.

In seinem Kopf ertönte ein gieriges, ungeduldiges Knurren. Der Sturm sollte losbrechen, und die Straßen sollten sich rot färben.

Im Bewusstsein, ihr dadurch blaue Flecken zuzufügen, packte Custo Annabellas Arme und zwang sie, ihn loszulassen. Sie bebte und schluchzte, aber ihr Griff löste sich. »Ich lass dich nicht gehen« verschmolz zu einer Lassdichnichtgehen-Litanei, die sie durch ihre zusammengebissenen Zähne presste. Sie glitt an seinem Körper herab auf ihre Knie, lehnte die Stirn gegen seine Hüfte und umklammerte ihn erneut.

Sie war so damit beschäftigt, ihn festzuhalten, dass sie Adam und seinen Soldaten freie Bahn gab. Custos Kopf und Brust waren vollkommen ungeschützt. Die Gefahr, Annabella mit einem Schuss zu treffen, gering.

Das war der Moment.

Er senkte den Blick, um ein letztes Mal tröstend über ihre Haare zu streichen, doch seine Hände hatten sich verändert; seine Finger waren dick, grau marmoriert und endeten in gefährlichen scharfen schwarzen Krallen. Es juckte ihn, damit jemanden zu zerquetschen, zu zerreißen oder zu durchbohren. Diese Finger eigneten sich nicht für Zärtlichkeiten.

Custo ballte fest die Fäuste, auch sein Herz krampfte sich zusammen. Er würde diese Hände nicht auf ihren Kopf legen. Solange nur ein Stück seiner Seele übrig war, würde er Annabella nicht wehtun. Seine Liebe zu ihr wandelte sich in den festen Entschluss, der Bestie ihre wachsende Blutlust zu nehmen.

In einer entwaffnenden Geste streckte er die Arme aus, wobei er die Nägel in seine Handflächen bohrte. Er war wieder am Ausgangspunkt angelangt, erneut bereit, sich dem Tod zu stellen. Dieses Mal war der Tod eine endgültige, unendliche, alles verschlingende Dunkelheit.

Heulen kam nicht infrage.

Custo suchte Adams Blick und fand ihn. Das Gesicht seines Bruders war von Kummer und Leid gezeichnet. Er zog die Mundwinkel nach unten, als wollte er einen schlechten Geschmack ausspucken. Dennoch fühlte sich der bevorstehende Tod diesmal viel besser an als bei diesem Mistkerl Spencer. Wie eine Gnade, ein Geschenk.

Custo nickte kurz und knapp, schieß jetzt, während der Wolf in ihm wütend und bereit zum Kampf knurrte. Er wollte die Frau als Schutzschild benutzen und falls sie nach der Flucht noch lebte besteigen und vö…

Er hob die Hände an den Kopf, um die Impulse zu unterdrücken.

Hunger vernebelte seinen Verstand, es war die Gier eines Killers. Er empfand brennende Lust zu töten, zu jagen, zu wüten. Sein Blick verdunkelte sich, ein heftiger Sturm peitschte durch den Tag, löschte alles Licht und schaltete jedes Zeitgefühl aus. Die Straße war grau, der Wind trieb den Staub aus dem Turm durch die Luft. Es sah aus wie kleine wirbelnde Teufel, die auf den Ausbruch der Gewalt warteten.

Schieß. Bring es zu Ende.

Sein Blick wurde scharf. In der Dämmerung zeichneten sich deutlich die Umrisse der Männer ab, seiner Beute. Er konnte sie einzeln riechen, ihr Blut und ihr Schweiß bildeten ein finsteres Bouquet. Mit der Zunge tastete er einen scharfen Reißzahn, der sich aus seinem Zahnfleisch schob. Wie einfach es wäre

Heiße Tränen liefen seine Wangen hinunter, denn seine Kraft bekam feine Risse.

Bitte, Adam! Custo konnte es nicht aussprechen. Annabella, deren Schluchzen heiser klang, würde begreifen und aufstehen. Ihn mit ihrem Leben schützen, während er vom Morden träumte.

Adam brütete mit zusammengebissenen Zähnen über einer Entscheidung.

Mach schnell. Es bleibt keine Zeit. Custo wartete, dass die erste Kugel einschlug. Sehnte sich nach der Erlösung, während ein Blitz den Himmel teilte.

Er wartete. Aber nichts passierte.

»Abtreten«, sagte Adam, den Blick zu den Trümmern gewandt, und ließ seine Waffe sinken.

»Sir?«, fragte ein Soldat.

»Abtreten, habe ich gesagt.«

Custo starrte ihn ungläubig an. Sein Blick zuckte zu Luca, der wissen musste, welche Grausamkeiten sich in seinem Kopf abspielten und dass er seinen Willen kaum noch zähmen konnte.

Bitte! Er konnte durchhalten, bis Luca zehn Schritte nach vorne gekommen war und ihn durchbohrt hatte. So lange musste er durchhalten.

Aber Lucas Blick verfinsterte sich, und er ließ die Klinge sinken. Eine Staubwolke stieg auf. Ich kann das nicht. Ich werde das nicht tun.

So viel zur Familie. Custo war verlassen, allein und wieder durch und durch ein Mistkerl.

Zumindest der Tod, hart wie Stein, machte keinen Unterschied.

Schattenmann?

Der Tod hob den Hammer, den Custo für ihn aus den Trümmern des Turmes geborgen hatte. »Wir sind quitt.« Mit diesen Worten hüllte er sich in Schatten und schritt schweigend davon.

Custo war allein mit der wachsenden Bestie, Annabella und dem Publikum. Sie hatten ihn verraten, als er sie am meisten gebraucht hatte. Wollten sie ein Monster erleben?

Nun denn.

Custo warf den Kopf in den Nacken und heulte den Himmel an. In diesem Geräusch kam seine Wut genauso wie seine Seele zum Ausdruck, er verfluchte Gott und bat ihn zugleich um Erlösung. Licht blitzte auf, und vom Bürgersteig stiegen nebelartige schwarze Schatten auf, mitten in der Stadt wuchsen dunkle Bäume. Das war sein Jagdgebiet mit der Beute, nicht in Käfige, sondern in Gebäude gepfercht. Ihre unzähligen Gedanken verrieten ihm sowohl ihren Aufenthaltsort als auch ihre Vorhaben. Es war so einfach. Zu einfach. Zu viel.

Feenhafte Stimmen ertönten: Anna. Bella. Anna. Bella. Anna. Bella.

Annabella stand auf, ihre Augen funkelten. Sie stellte sich in Position und bildete mit den Armen einen Kreis, in den sie keinen magischen dunklen Rauch eindringen ließ. Die kühlen seidigen Schatten wichen hinter ihr zurück, sie ließ sie nicht an Custo heran.

Die Bestie in ihm brüllte.

»Nein«, sagte sie. Mit ihrer Magie verhinderte sie, dass die Schatten die Schatten nährten. Sie hatte herausgefunden, wie sie je nach Bedarf das Jenseits herbeirufen oder abblocken konnte. Er hatte es ihr selbst beigebracht, als sie die Sonne hatte aufgehen lassen.

Wie konnte sie es wagen?

»Custo oder Wolf « Gereizt schüttelte sie den Kopf. »Oder wer auch immer du bist. Du willst Schatten? Dann musst du dich erst mit mir auseinandersetzen.«

Custo musste beinahe lachen. Was hatte dieses zarte Wesen vor?

Der Wind peitschte durch ihre Haare. Annabella war anmutig und stark, aber in taktischer Hinsicht ahnungslos. Er konnte mit einem Schlag seine Klauen über ihren Bauch ziehen und das Ganze hier beenden.

Aber das wäre zu einfach. Er wollte ihren Nacken.

Annabella zuckte, als er seine große Hand um ihren blassen, schlanken Hals legte. Stur schob sie das Kinn nach vorn und starrte ihn unerschrocken an. Wütend. Willensstark. Eine heftige Leidenschaft reizte ihn, das Schlimmste zu tun.

Wenn er ihr wehtat, zeigte sie es nicht. Aber schließlich war Durchhalten ihre zweite Natur.

Mit gebleckten Zähnen fauchte er sie an. Sie war eine Nervensäge. Vom ersten Tag an. Widerborstig. Lästig. Renitent.

Bevor er etwas anderes tat, würde er sie kleinkriegen, ihren Körper und ihren Geist.

Mit der Hand um ihren Hals zwang er sie hinunter auf den Boden. Sie musste es ein für alle Mal begreifen, musste lernen, wer der Meister war. Dann konnte er mit ihr abschließen. Falls ihre Beine nachgaben, sie hinfiel und sich auf dem Pflaster ihren Dickschädel brach, umso besser.

Doch ihre Beine gaben nicht nach. Ihr Körper bog sich wie eine Gerte, war der Inbegriff geschmeidiger Kraft. Ihre Bewegungen wirkten vollkommen mühelos. Die Biegung ihres Rückgrates bis zu ihren Beinen signalisierte das Gegenteil von Unterwerfung. Das zufriedene Lächeln auf ihren Lippen zeigte ihm, was er bereits wusste. Dass ihre Seele genauso standhaft war.

Ihr Gesicht lief rot an. Er könnte sie leicht umbringen und zwar mit Vergnügen. Der Sturm donnerte zustimmend und ließ das archaische Knurren in seinem Kopf widerhallen.

Anna. Bella. Anna. Bella. Bella. Bella. Bella.

Er könnte den Atem aus ihr herauspressen und drücken, bis sie erstickte und zusammenbrach. Er musste sie lediglich ganz leicht würgen.

Aber würde ihn das befriedigen? Nicht annähernd.

Wieso brach sie nicht zusammen?

Custos Tierverstand suchte nach einer Antwort, nach der Ursache ihres Widerstands. Es musste einen anderen Weg geben, mit dem er zugleich das Geheimnis des menschlichen Willens und die Macht der Sterblichen ergründen konnte.

Ein Blitz erhellte die Umgebung. Der Augenblick dauerte ewig. Mit seinem gierigen Blick erkannte Custo deutlich die Szenerie. Auf der einen Seite des Trümmerfeldes stand Adam, der mit dunklen nachdenklichen Augen erwartungsvoll zusah. Auf der anderen Seite befand sich Luca, dessen Miene gleichermaßen besorgt und zuversichtlich wirkte. Sie symbolisierten sein Ziel der eine aus seinem Leben, der andere aus seiner Zeit als Toter und wollten den Mann mit ihren Gedanken dazu bringen, die Bestie zu überwinden.

In Custos Griff befand sich Annabella, der Mittelpunkt seines Lebens. Da ihre Kehle zugeschnürt war, sprach sie seinen Namen in Gedanken.

Die drei bildeten eine seltsame Geometrie, eine Ordnung, die er nicht ganz begriff. Aber ohne Zweifel oder Vorbehalt wusste er, dass es sich um eine Gleichung handelte, die seine Seele retten sollte.

Wie ein Blitz fuhr die Liebe durch seinen Körper und teilte ihn.

Auf einmal waren Custo und der Wolf wieder zwei getrennte Wesen, die denselben verfluchten Körper bewohnten, aber diesmal hatte Custo die Oberhand. Es war eine zweite Chance. Sein Leben war von Bitterkeit und Reue bestimmt gewesen, von Verachtung für die Dunkelheit; jetzt konnte er sich neu entscheiden.

Das Biest in seinem Kopf brüllte und wehrte sich verzweifelt, als Custo seine Glieder zwang, Annabella loszulassen; der Sturm über ihnen protestierte und toste, aber jetzt hatte Custo das Sagen. Zumindest für den Augenblick.

Die Luft nahm wieder die kompromisslose Festigkeit an, mit der sie sich Veränderungen widersetzte. Annabella hatte recht: Er war schon einmal gestorben; er wollte etwas Neues lernen. Er wollte leben.

Mit wachsamem, misstrauischem Blick richtete sie sich auf und schluckte die zähe Luft. »Custo?«

Sie atmete schwer. Von ihrer Haut ging ein intensives Strahlen aus, das sich von der erdrückenden Dunkelheit in ihrem Rücken abhob. Obwohl sie vor Schwäche zitterte, legte sie wieder ihre Hände gegen die pulsierende Wand aus Schatten, damit sie ihn nicht berührte, nicht den Wolf nährte.

Und das war gut, denn das Biest strich überaus gierig, archaisch und unendlich stark in seinem Kopf herum und suchte nach einer menschlichen Schwäche, die es nutzen konnte. Custo war klar, dass es davon eine Menge gab: Wut, Gewalt, Sex

Ein wölfisches Knurren tönte aus seiner Brust Habe etwas gefunden! und Custos dunkles pochendes Blut strömte in seine Lenden.

So weiche Haut. Ein so fester Körper.

Custo biss die Zähne zusammen. Er blinzelte heftig, wandte den Blick von der hübschen, mutigen Annabella ab und richtete ihn auf das heiße Pflaster. Nein. Das kam nicht infrage.

Zieh sie aus. Leck sie. Nimm sie in den Bäumen.

Custos Augen brannten, dunkler Nebel stieg vom Asphalt auf.

»Custo?«, wiederholte Annabella.

Wenn er bislang versucht hatte, ihr zu widerstehen, war er jedes Mal elend gescheitert. Jedes Mal, wenn es besser für sie gewesen wäre, er hätte sie nicht berührt, hatte sein Verlangen seinen Verstand ausgeschaltet. Wie lange konnte er widerstehen? Nicht lange, das wusste er.

Custo musste schnell sein. Und sich auf noch dunklere Seiten seiner Persönlichkeit gefasst machen.

Er konzentrierte sich auf sein Inneres, konnte den Wolf in sich spüren, der in einem dunklen entlegenen Winkel seines Verstandes geiferte. Es gab keine Möglichkeit, die Bestie zu töten. Custo spürte, dass er die Doppelexistenz nicht viel länger aufrechterhalten konnte. Irgendwann würde der Wolf ihn kontrollieren, wie er es mit Abigail getan hatte.

In seinem Körper konnte nur ein Geist, ein Wille regieren.

Und die Bestie war so verdammt gierig. Custo griff nach der unvergleichlichen Gier, schürte sie und ignorierte alles andere.

Er ließ die Gier des Wolfes in sich strömen und spürte, wie sich das Verlangen mit seinem wachsenden Entschluss verband. Der Wolf reagierte entsprechend, duckte sich, als wollte er zum Sprung ansetzen und wieder sein Bewusstsein übernehmen. Als er absprang, reagierte Custo und verschlang ihn, indem er einmal heftig innerlich schluckte.

Custo schluckte tatsächlich, ein heftiges schmerzhaftes Brennen erfasste seine Sinne und trieb sie zu brutaler Klarheit. Er nahm den Wolf in sich auf, drängte ihn in sein Blut, seine Knochen und seine flirrenden Nerven. Er verleibte sich die rohe, animalische Kraft ein, die dunkle Identität, und machte sie zu seiner eigenen, während er die Persönlichkeit des Wolfes aus seinem Kopf löschte.

Das Brennen verstärkte sich, und der Schmerz steigerte sich zu Erschrecken und Fassungslosigkeit. Custo krümmte sich vor Schmerzen. Sein Körper veränderte sich erneut, schon wieder. In seinem zweiten Leben kam er nicht zur Ruhe. Er wusste nicht, zu was er dieses Mal wurde. Wie viel von sich würde er verlieren? Blieb genug, um Annabella zu schützen?

Er warf den Kopf in den Nacken, griff mit seinen schattenüberzogenen Händen nach oben, um den drohenden Sturm abzuwenden, und sah, dass in der Dunkelheit über ihm Sterne funkelten. In die Geräusche der Stadt mischte sich Flüstern, das Plappern der Voyeure aus dem Schattenreich, die seiner Verwandlung zusahen. Der Geruch von Schweiß und Blut stieg ihm in die Nase, aber er konnte nicht ausmachen, aus welcher Richtung er kam.

Custo drehte sich, sein Orientierungssinn war verwirrt. Hier ging es zur Erde, dort zum Schattenreich, da drüben zum Himmel, und dieser dunkle Weg führte in die Hölle. Welchen Weg sollte er wählen? Wer war er? Ein Wolf, ein Mann, ein Engel oder alles drei? Wohin gehörte er?

Ein Gedanke, der wie ein Gebet klang, drang zu ihm durch. Bitte sei in Ordnung.

Mit einem Ruck fand die wild schwingende Nadel auf seinem inneren Kompass den Norden, blieb stehen und sagte ihm in seiner ganzen Unsicherheit, dass er hier richtig war. Annabella.

Hier spielte es keine Rolle, was er war.

»Custo?«, sagte Annabella. Sie stand seitlich vor ihm, hatte das Kinn erhoben und hielt die Fäuste kampfbereit hoch.

Solange sie ihn nur lieben konnte.

Er streckte eine Hand aus, um sie zu beruhigen. Sie war alles andere als empfindlich, aber er sah anders aus, hässlich. Überrascht stellte er fest, dass seine Klauen sich wieder in menschliche Fingernägel verwandelt hatten. Er nahm es als gutes Zeichen. Seine Haut wirkte etwas blass, hatte aber die olivfarbene Tönung seiner Mutter, nur seine Venen waren noch dunkelgrau. Das war nicht so gut.

»Ich tue dir nichts«, sagte er und versuchte, möglichst emotionslos zu klingen. Er zog seine Hand zurück; auf einmal war er nicht sicher, wie der Rest von ihm aussah. »Zumindest glaube ich, dass ich das nicht tun werde.«

Jetzt hörte er nur noch seine eigene Stimme in seinem Kopf. Wenn die körperliche Veränderung etwas bedeutete, steckte die Kraft des Wolfes in ihm, war ihm zu eigen, pulsierte in seinen Adern. Die Luft knisterte vor Energie und strich über seine Haut. Sehr seltsam. Vielleicht sollte Adam ihn für einige Zeit einsperren, nur für alle Fälle. Er traute sich selbst nicht, vor allem was Annabella anging. Ja, es war besser abzuwarten und zu sehen, was

Blitzschnell hatte Annabella ihre Arme um seinen Hals gelegt. Sie hing in der Luft und presste ihre heißen, weichen Lippen fest auf seine. Custo schnappte nach Atem und sank überrascht auf die Knie, während er sie auffing, damit sie nicht fiel. Auf dem Pflaster angekommen lachte sie heiser, und verdammt, er musste ihren Kuss erwidern.

Dann machten sie eine Feuerprobe.

Custo teilte ihre Lippen mit seiner Zunge. Daraufhin schlang Annabella daraufhin die Arme fester um ihn, schob eine Hand in seine Haare und zog ihn dicht und Gnade etwas schmerzhaft an sich. Sein Körper brannte unter ihrer Berührung, ihrer Nähe, und eine dunkle Welle der Lust umspülte ihn. Dunkler, archaischer, als er es jemals erlebt hatte. Beinahe wölfisch. Ihr Geruch war intensiver, sie roch stärker nach Moschus, als er es in Erinnerung hatte. Ihre Haut war weicher; ihr Mund nass. Er musste sie auf den Boden legen, unter sich, oder auf ihre Knie, sodass sie sich dem Mond entgegenbog.

In diesem Moment schlang sie die Beine um seine Taille, sie schien einverstanden zu sein.

Ein lautes Pfeifen von der anderen Straßenseite brachte ihm die menschlichen Zuschauer zu Bewusstsein. Die Straße, die zerstörten Gebäude, den Gestank der vernichteten Geister. Das war nichts für seine Annabella, die jetzt ihr Gesicht an seiner Schulter verbarg.

Custo. Lucas Stimme drang in seinen Verstand ein. Bist du in Ordnung?

Custo seufzte schwer. Wenn er die Gedanken von jemand anders hören konnte, war er wahrscheinlich immer noch ein Engel. Nicht gerade sein Lieblingszustand, aber so langsam gewöhnte er sich daran.

Luca würde auf eine Antwort warten müssen. Etwas Privatsphäre bitte.

Instinktiv griff Custo nach den Schatten. Sie gehorchten ihm und legten sich wie ein Vorhang vor die Welt. Was bedeutete, dass er auch wölfische Fähigkeiten besaß. Das bereitete ihm am meisten Sorgen.

Im einen Augenblick waren er und Annabella an die Erde gebunden, im nächsten von alterslosen Bäumen umgeben. Er nahm den ursprünglichen Geruch von Erde, Unterholz und wilden magischen Zweigen wahr. Zudem spürte er, wie ihn die Voyeure aus der Schattenwelt interessiert beobachteten und verbannte auch sie. Das hier ging nur ihn und Annabella etwas an. Diese neue Zauberei mit den Schatten war verdammt praktisch.

Mit seinen Händen umfasste er Annabellas Po perfekt und überließ es ihr, sich an ihm festzuhalten, während er einen Baumstamm wählte, an dem sie sich abstützen konnten, um sich auszuziehen, einzutauchen und zu

Warte. Custo wich zurück, erschauderte und holte tief Luft.

Nicht so. Sie verdiente Zärtlichkeit. Sanftes Streicheln. Eine unvergessliche Demonstration von Dankbarkeit und Liebe und seinem Glück.

Er legte seine Stirn an die raue Rinde des Baumes. Verdammt, er zitterte. Und er keuchte wie ein Hund. Das war ein Problem. Er schloss fest die Augen und gestand ihr die Wahrheit. »Ich weiß nicht, ob ich mich unter Kontrolle habe, Liebes. Was dich angeht, traue ich mir selbst noch überhaupt nicht.«

Daraufhin biss Annabella in sein Ohrläppchen. »Wenn du dich das wenigstens fragst, reicht mir das als Sicherheit.«

Annabella spürte, wie Custo das Gewicht verlagerte und sie gegen den Baum drückte. Ihr Körper kribbelte erwartungsvoll, ihre schmerzenden Muskeln entspannten sich und machten sich bereit. Die Umarmung war ihr vertraut, der Druck und alles andere fühlte sich ganz wie Custo an. Ihr Herz schlug heftig vor Erleichterung. Sie hatten überlebt. Und er gehörte immer noch ihr. Mit dem Rest konnte sie sich nicht befassen, dazu fehlte ihr die Kraft.

Custo wich zurück, zögerte, seufzte tief und ließ schließlich zu, dass sie ihm direkt ins Gesicht sah. Das Grün in seiner Iris hatte sie nicht getäuscht er war zurück und wirkte gequälter als je zuvor, während er auf ihre Reaktion wartete. Sein Teint hatte sich verändert, die Adern unter seiner Haut verrieten, dass er von Schatten durchdrungen war. Was vermutlich sehr interessant werden würde. Aber es war immer noch er, immer noch Custo, der einen sehr schlechten Tag hatte.

Sie blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen an und drohte mit gespielter Ernsthaftigkeit: »Muss ich dich erst wieder verführen?«

Seine Augen zeigten ein schwaches Lächeln, in das sich tiefe Reue mischte. Sie spürte, wie seine Brust von einem Knurren vibrierte.

»Ich will versuchen, gut zu sein. Ehrlich«, sagte er müde. Mit dem Daumen wischte er eine Träne von ihrer Wange.

Trotz allem musste sie jetzt lächeln und hob ihr Gesicht, um ihn zu küssen. »Versuch es nicht zu sehr.«