3
Als Annabella durch die schwere Bronzetür des City Centers auf die 56. Straße West hinaustrat, griff sie ihre brandneue Riesentaschenlampe. Die schwere Lampe war fürs Campen gedacht, aber sie würde sich auf gar keinen Fall ohne eigene Lichtquelle in die Dunkelheit wagen. Nicht, solange dieser gruselige Wolf frei herumlief – auf der Straße oder in ihrem Kopf. Sie legte den Finger auf den Einschaltknopf wie auf den Abzug einer Pistole. Wenn sie diese alberne Kleine-Mädchen-Angst überfiel, stellte sie einfach das Licht an, und das Monster löste sich in Rauch auf.
Nimm das, du knurrendes Miststück!
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie in die vor Energie knisternde Nacht trat. Der Verkehr rauschte durch die Einbahnstraße, ab und an ertönte ein Hupen. Sie schritt direkt auf den Rand des Bürgersteigs zu, um ein Taxi heranzuwinken. Ihr Plan lautete: immer ihre eigene Lampe dabei zu haben, sicher nach Hause zu kommen, vorzugsweise mit einem leckeren Imbiss (sie starb vor Hunger), alle drei Lampen in ihrer Wohnung einzuschalten und an der hellsten Stelle zu schlafen. Sie würde nicht zulassen, dass irgendein realer oder eingebildeter Wolf sie um diese Chance brachte. Morgen würde sie ihr Debüt als Giselle geben.
Und anschließend würde wieder Normalität einkehren.
Vor ihr hielt ein Taxi. So weit, so gut. Sie warf ihre Tasche auf den Rücksitz, glitt mit der Taschenlampe auf dem Schoß hinein und würgte einen Augenblick, als sie den Geruch von Räucherstäbchen einatmete.
Als der Fahrer gerade losfuhr, öffnete sich die gegenüberliegende Tür des Wagens und trieb eine intensive Abgaswolke herein. Das Taxi hielt mit einem Ruck an, und Annabella richtete erschrocken den breiten Lichtstrahl auf den Eindringling. »Das Taxi ist besetzt«, erklärte sie, als sie bemerkte, dass es sich um einen Mann handelte – oder zumindest die untere Hälfte eines Mannes.
Der Typ schob ihre Tasche auf den Boden, stieg trotzdem ein und schlug die Tür zu. »36. West und Fünfte.«, sagte er mit tiefer Stimme in autoritärem Tonfall.
Idiot. »He, ich war zuerst hier!«
Der Mann drehte den Kopf, und sie schluckte die restlichen Worte hinunter.
Er.
In dem schwachen Licht des Taxis verschwammen seine Haare und seine Haut zu goldenen Schatten. Seine Augen wirkten aufrichtig, offen und angespannt, er war etwas außer Atem. Ein kaum verhohlener Ausdruck von Sorge zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als er sie ansah. Oder besser, als er sie von oben bis unten musterte. Sein Blick blieb an ihrer Taschenlampe hängen. Nachdenklich zog er die Brauen zusammen und schob einen Mundwinkel hoch.
Hitze durchströmte ihren Körper und brannte in ihrem Gesicht.
»Die Dame?«, fragte der Taxifahrer über die Schulter nach hinten.
Auf keinen Fall. Sie war zuerst hier gewesen. Und außerdem musste sie direkt nach Hause, etwas Schönes essen und sich entspannen, damit sie für die morgige Gala ausgeruht war. Ganz abgesehen davon, dass mit diesem Kerl irgendetwas nicht stimmte. Sein Gesicht mochte vielleicht überaus attraktiv sein, aber seine Kleidung war zu eng. Sie gehörte eindeutig nicht ihm. Er hatte zwar die Ärmel aufgerollt, aber das Hemd passte dennoch nicht über seine breiten Schultern. Die Hosen waren ein Witz, viel zu kurz; außerdem spannten sie über seinen Oberschenkeln. Ein Grand-plié, und die Nähte würden platzen.
Nur eine Sache konnte sie dazu bewegen, ihre Meinung zu ändern, und es war ihr egal, wenn es albern klang. »Haben Sie kürzlich einen Wolf gesehen?«
Der Mann nickte knapp. »Bei Ihrem Tanz auf der Bühne.«
Mist. In gewisser Weise hatte sie gehofft, verrückt zu sein. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Sich ein Taxi mit ihm zu teilen, war das Mindeste, was sie für den Mann tun konnte, der sich zwischen sie und den angreifenden Wolf geworfen hatte. Vielleicht konnte er ihr sogar erklären, was vor sich ging.
Sie lockerte den Griff um die Taschenlampe und begegnete dem Blick des Fahrers. »Es ist okay.«
Mit einem Schulterzucken wandte der Chauffeur seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu, und das Taxi fuhr los.
Der Fremde entspannte sich nicht, ließ sich nicht in den Sitz sinken. Sein Interesse galt ihr – so sehr, dass sie erneut die Taschenlampe umklammerte. Das Licht konnte ihm womöglich nichts anhaben, aber notfalls würde sie ihm mit dem Kolben den Schädel einschlagen.
»Wie heißen Sie?«, fragte er kurz und knapp.
»Annabella«, erwiderte sie wachsam. »Und Sie?«
»Custo.« Er blickte kurz aus dem Rückfenster, dann wandte er sich wieder ihr zu. »Sie sind Tänzerin? Eine Ballerina?«
»Ja.« Und sie kam nicht umhin hinzuzufügen: »Ich bin Erste Solistin im Klassischen Ballett. Und Sie …?«
»… bringe Sie in Sicherheit. Irgendwohin, wo wir reden können.« Er legte seinen Arm auf die Rückenlehne.
Wohl kaum. Er durfte das Taxi mit ihr teilen, sonst nichts. Aber das musste sie ihm ja nicht sagen. Er war schon angespannt genug.
»Welcher Tag ist heute?«, fragte er.
»Freitag.«
»Welches Datum?«, spezifizierte er angespannt.
»Der 22. Oktober.« Am 23. Oktober war die Galavorstellung, der Beginn der Spielzeit. Ihr großer Tag.
Er runzelte die Stirn, als wäre das immer noch nicht die Antwort, die er erwartet hatte, insistierte aber nicht weiter. »Haben Sie ein Mobiltelefon?«
»Mh … nein.« Eine Notlüge – sie verlieh es nur ungern. Außerdem war es ihr zweiter Rettungsanker. Nicht, dass sie wieder ihre Mutter anrufen und das Leben der armen Frau um weitere zehn Jahre verkürzen wollte. Nein, wenn sie jemanden anrief, dann die Polizei. Vielleicht wegen dieses Kerls.
Custo nahm ihre Tasche vom Boden hoch. Bevor sie ihn daran hindern konnte, hatte er bereits den Reißverschluss aufgezogen. Sie zerrte an dem Riemen – was fiel ihm ein, ihre Sachen zu durchsuchen? Er durchwühlte ihre verschwitzten Tanzsachen, die sie zum Aufwärmen trug, ihre Schuhe. Oh, Mist, ihre Notfalltampons. Sie entriss ihm die Tasche. Das Telefon steckte ohnehin in ihrem Sweatshirt. »Was zum Teufel tun Sie da? Da ist es nicht.«
»Geben Sie mir Ihr Telefon.« Er streckte die Hand aus. »Es ist ein Notfall.«
Sie brauchte ihr Telefon und würde es nicht diesem aggressiven Irren geben. Es war eindeutig ein Fehler gewesen, das Taxi mit ihm zu teilen, aber das konnte sie noch korrigieren. Sie blickte aus dem Fenster, um herauszufinden, in welchem Stadtteil sie sich befand. Direkt hinter New Yorks öffentlicher Bibliothek. Sie hatte ihre Taschenlampe; sie konnte ein anderes Taxi nehmen.
»Verdammt, es ist ein Notfall«, drängte Custo.
Als sie weiterhin zögerte, streckte er die Hand nach ihr aus.
»Okay, okay.« Sie stieß die Hand weg, tastete in ihrer Tasche danach und warf es ihm zu. »Bleiben Sie bloß, wo Sie sind.«
Er fing es auf, und sie wandte sich an den Fahrer: »Ich steige hier aus.«
Das Taxi drosselte die Geschwindigkeit.
Während er eine Nummer eingab, sagte Custo: »Das ist keine gute Idee. Der Wolf ist Ihnen mit Sicherheit auf den Fersen.«
Der Wolf. Bei der Erinnerung an die riesige Bestie mit den funkelnden Augen hämmerte ihr Herz. Ihr auf den Fersen?
»Das ist egal«, sagte Annabella zu dem Fahrer.
Custo stöhnte. Ha! Offenbar hatte er die Mailbox erwischt.
»Adam, Überraschung – hier ist Custo. Ich bin zurück. Weißt du noch, wie wir in Shelby so lange den Strom ausgeschaltet hatten, dass die Uhren stehen blieben? Trau niemandem in Segue, bis du mit mir gesprochen hast.« Custo zögerte. »Ich bin jetzt auf dem Weg zu unserem geheimen New Yorker Lager. Du kannst mich unter dieser Nummer oder in Kürze dort erreichen.«
Seine Nachricht bereitete ihr Kopfschmerzen. Was redete er da für kryptisches Zeug? »Entschuldigen Sie, ich hätte gern mein Telefon zurück.«
Custo reichte es ihr mit einem schwachen Lächeln, als amüsiere er sich über ihren Ärger. »Gehen Sie sofort ran, wenn es klingelt.«
Sie ließ sich nicht von ihm herumkommandieren und legte den Finger auf den Einschaltknopf. Aus. Keine Anrufe mehr für diesen verrückten Taxischnorrer.
Sie bogen von der Hauptstraße ab und fuhren eine kleinere Seitenstraße hinunter, an der diverse Wagen über Nacht parkten. Bald würden sie da sein.
Sie hatte einige Fragen, und ihr blieben nur noch wenige Minuten, um an Antworten zu gelangen. »Dieser Wolf verfolgt mich ständig. Ich habe nicht geschlafen. Ich bin so von Koffein aufgepuscht, dass ich vermutlich nie mehr schlafen kann. Und dabei muss ich morgen Abend mein Bestes geben. Mein Bestes. Können Sie mir bitte erklären, was hier vor sich geht?«
»Um sicherzugehen, muss ich erst die ganze Geschichte hören.« Ein Beben durchlief ihn, und als er sich zusammenriss, zuckte ein Muskel in seinem Kiefer.
Vielleicht war er auf Drogen. »Ich habe Ihnen die ganze Geschichte erzählt.«
»Wann es angefangen hat. Wie der Wolf Sie gefunden hat.«
Annabella rang verzweifelt die Hände. »Ich weiß nicht, wann …« Nein, Moment. Sie wusste es. »Bei der Probe. Gestern Abend, als wir den zweiten Akt zusammengesetzt haben. Wir haben die Partien einzeln geprobt, Stück für Stück, Abend für Abend. Es war das erste Mal, dass das gesamte Ensemble anwesend war.«
»Wie ist es passiert?« Vorbeikommende Scheinwerfer glitten über ihn hinweg und betonten die goldenen Flecken in seiner grünen Iris. So hübsch, zu schade, dass er eine Schraube locker hatte und unverschämt war.
»Ich habe eines meiner Soli getanzt – gerade hatte ich das Gefühl, es genau zu treffen. Es fühlte sich jedenfalls sehr gut an. Ich sah hoch und erblickte den Wolf. Ich habe gehört, wie er mich angeknurrt hat. Keine Ahnung, wie er dorthin gekommen ist oder warum er dort war. Ich dachte, ich wäre einfach supermüde und gestresst. Gibt es ihn wirklich?«
»Eindeutig«, entgegnete Custo. »Sehen Sie ihn nur, wenn Sie tanzen?«
»Nein. Gestern Abend ist er mir zur Bushaltestelle gefolgt.«
Er runzelte die Stirn. »Waren Sie allein?«
»Ja.«
»Wie sind Sie ihm entkommen?« Er bombardierte sie mit Fragen. Wann wollte er anfangen, ein paar von ihren zu beantworten?
»Er hat Angst vor Licht«, erklärte sie und hob ihre provisorische Waffe. »Er bleibt im Schatten.«
»Verdammt«, fluchte Custo.
»Sagen Sie mir nun, was hier vor sich geht oder nicht?«
Er hielt die Luft an und stieß dann seine ganze Verzweiflung heraus. »Der Wolf ist ein Wesen aus den Zwielichtlanden, da bin ich mir sicher.«
»Ein Wesen von wo …?«
Custo blickte hinunter auf seine Hände, ballte sie auf seltsame Art zu Fäusten und dehnte sie wieder, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. »Er ist eine Gestalt aus dem Schattenreich, in den Schatten gefangen, aber er ist heute Abend mit mir in diese Welt gelangt, verstehen Sie?«
Okay, der Mann war geistesgestört, und sie drehte mit ihm durch. Von wo herübergekommen?
Der Fahrer blickte in den Rückspiegel. »Haben Sie eine Adresse?«
Custo blickte aus dem Fenster. »Hier ist es gut.«
Der Wagen hielt am Straßenrand, und Custo öffnete seine Tür. Panik ergriff Annabella. Was nun? Sie konnte nicht mit dem Fremden aussteigen. Er konnte ein Psychopath oder ein Mörder sein oder, oder …
Custo stieg aus, drehte sich um und griff ihre Tasche. Er ließ sie auf den Bürgersteig fallen, streckte die Hand nach ihr aus und machte eine entschiedene Geste. »Kommen Sie.«
So hatte sich das ihre Mutter nicht vorgestellt, als sie ihr angeboten hatte, das Taxi zu bezahlen. Annabella schreckte zurück, obwohl sich ihr Körper über die Aussicht durchaus freute. Der Mann war zwar verrückt, aber trotzdem verdammt attraktiv. »Ich kenne Sie doch überhaupt nicht.«
Er beugte sich hinunter, um ihr in die Augen zu sehen. »Sie wissen, dass Sie bei mir sicher sind.«
Vor Wölfen vielleicht.
»Annabella?«
Ach, wie albern. Aber sie glitt über den Sitz, zog die schwere Taschenlampe hinter sich her, griff seine Hand – sie fühlte sich warm und kräftig an – und stieg aus dem Taxi. Er zog ein Geldbündel aus seiner Tasche und reichte dem Fahrer eine Zwanzig-Dollar-Note.
Als das Taxi abfuhr, hatte Annabella das merkwürdige Gefühl, dass mit ihm jegliche Normalität aus ihrem Leben verschwand. Was zum Teufel tat sie?
»Gehen wir von der Straße.« Custo legte einen Arm um ihre Taille und zog sie dicht an seinen Körper. Ihr Herz pochte, aber sie wehrte sich nicht. Ihre Körper passten gut zusammen, und sein fester Griff beruhigte sie. Zugleich machte er sie nur noch nervöser. Er roch rätselhaft und intensiv. Nach Schweiß, aber dennoch sehr gut.
Sein Körper war starr vor Anspannung. Er eilte mit ihr den Block hinunter und über die Straße auf einen Eingang zu, der in einer Nische lag. Auf Augenhöhe befand sich eine Tastatur. Er tippte einen Code ein, und die Tür öffnete sich beinahe lautlos.
Er versuchte, sie an der Taille mit sich hineinzuziehen.
»Ähm …«, sagte sie, und plötzlich krampfte sich ihr Magen zusammen. »Ich muss bald zurück zu meiner Wohnung. Morgen ist die Gala, und wenn ich nicht etwas Schlaf bekomme …«
»Sie bleiben jetzt hier«, erklärte er.
Sie wehrte sich gegen sein Ziehen. Hier bleiben? Heute Nacht?
Custo ergriff ihre Schultern und senkte den Kopf, um sie aus seinen tiefgründigen Augen direkt anzusehen. In dem Licht, das aus dem Inneren des Gebäudes drang, wirkten seine blonden Haare wie ein Heiligenschein. »Annabella, Sie werden von einem Schattenwolf verfolgt. Das klingt absurd, ich weiß, aber die Wesen aus den Zwielichtlanden kennen keine Vernunft. Hier können Sie sich ausruhen. Schlafen. Umso besser werden Sie morgen Abend tanzen. Ich passe auf, dass niemand in Ihre Nähe kommt.«
Sie zog die Augenbrauen zusammen.
»Auch ich werde Ihnen nicht zu nahe kommen.« Er hob eine Braue und machte sich über ihre Gedanken lustig, aber als sie sein kehliges Knurren hörte, fügte sie im Geiste ein noch nicht hinzu.
Ihr Blick glitt zu seinem Mund. Daraufhin lächelte er. Sie hob den Blick und erhaschte gerade noch ein schelmisches Funkeln in seinen Augen. Sie versuchte, den Blick abzuwenden, schaffte es aber nicht. Die Luft um sie herum knisterte vor Energie, die aus seiner Stärke, ihren Nerven und der Anziehungskraft zwischen ihnen entstand.
Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun? Annabellas Körper vibrierte, sie quälte sich mit der Entscheidung. Sollte sie mit dem Psychopathen, dem attraktiven Mann mit den zu kurzen Hosen, mitgehen oder sich allein der Nacht und dem Wolf stellen? Sie stöhnte und nickte widerwillig – letzte Nacht hatte sie sich die ganze Zeit mit starkem Kaffee wach gehalten. Für jeden anderen mochte es zu früh sein, um ans Schlafen zu denken, aber sie konnte die Augen nicht mehr lange aufhalten. Trotz seiner lächerlichen Kleidung schien dieser Mann zu wissen, wovon er sprach.
Custo musste ihr zustimmendes Nicken gesehen haben, denn er zog sie in das Gebäude und führte sie durch eine lange, niedrige Eingangshalle. Die weiße Farbe blätterte von den Wänden. Es roch staubig, als sei ewig nicht gelüftet worden. Das einzige Fenster war schmal und hoch und bot einen unschönen Ausblick auf Beton. In dem Hauptraum stapelten sich Plastikkisten in militärischem Grün übereinander, große Blockbuchstaben wiesen sie als Eigentum eines sogenannten Segue Institutes aus. Ein Lagerraum.
Okay … vielleicht war sie hier sicher, aber es war entsetzlich ungemütlich. Ihre Tanztasche gab ein jämmerliches Kopfkissen ab – das hatte sie oft genug bei Proben ausprobiert. Vielleicht sollten sie zurück in ihre Wohnung fahren. Oder ein Hotelzimmer nehmen. Besser gesagt, zwei benachbarte Hotelzimmer.
Custo hievte eine Kiste aus dem Weg. So wie sich seine Muskeln unter dem zu engen Stoff seines Hemdes wölbten, musste sie ziemlich schwer sein. Aber durch diese Aktion brachte er einen Durchgang zum Vorschein, es gab also noch etwas Hoffnung.
Sie beobachtete, wie er die restlichen Kisten aus dem Weg räumte. Unter diesen lächerlichen blauen Baumwollhosen hatte der Mann einen festen, gut geformten Hintern. Als er die Arbeit beendet hatte, war sein Hemd nass geschwitzt. An der Wand befand sich eine weitere Tastatur. Custo gab einen Code ein, und das Schloss sprang auf. Die nun folgenden Sicherheitsvorkehrungen erinnerten an ein Gefängnis. Sie musste vollkommen verrückt sein hierzubleiben.
Custo öffnete die Tür und benutzte eine der Kisten als Türstopper. Innen klingelte ein Telefon. Wahrscheinlich war das dieser Adam, den er vorhin angerufen hatte.
Mist. Ihr Telefon war immer noch ausgeschaltet.
Custo ging hinein, und sie folgte ihm. Sie kramte ihr Mobiltelefon hervor und drückte den Einschaltknopf. Während es anging und ein Netz suchte, spähte sie in den Raum. Die Luft roch ähnlich abgestanden, aber der Raum präsentierte sich offen, akribisch sauber, und – Gott sei Dank – möbliert. Jede Ecke war hell erleuchtet. An einer Wand stand ein Schreibtisch mit einem Computer, der Bildschirm leer. Eine weitere Tür führte zu einem hübschen modernen Badezimmer. Und hinter einem grauen Raumteiler entdeckte sie den Fuß von einem niedrigen französischen Bett. Ein Bett, aha.
Er würde auf dem Boden schlafen.
»Ich schwöre, ich bin es«, sagte Custo in den Hörer. »Wer sonst sollte von den Uhren in Shelby wissen?«
Eine Pause.
»Aber ich bin kein Geist geworden. Du weißt, das würde ich nie …«
Wieder Pause.
»Es sind noch seltsamere Sachen geschehen, Adam. Du musst mich anhören.«
Custo zog einen Stuhl unter dem Schreibtisch hervor und setzte sich. »Wir bleiben hier. Wir warten auf dich. Und, äh, wir haben ein Problem.«
Er runzelte erneut die Stirn und hob dann den Blick zu Annabella. »Ich und eine Freundin. Ich erzähle es dir, wenn du hier bist.«
Nachdem er aufgelegt hatte, hob Annabella fragend die Brauen. »Und?«
»Adam ist auf dem Weg.«
Noch ein Verrückter. Sie lehnte sich gegen den offenen Durchgang und seufzte. »Glaubt er, Sie sind ein Geist?«
Fantastidiotisch. In den letzten Jahren waren Geister überall im Internet und gelegentlich in den Nachrichten aufgetaucht, aber sie hatte noch nie einen gesehen, sie wollte auch keinen sehen. Sie wusste nicht viel über sie, außer dass sie tödlich, wahnsinnig und wirklich stark waren. In einem Internetclip hatte sie ziemlich gefährliche Zähne gesehen. Aber sie wusste nicht, was sie wirklich waren und woher sie kamen.
Annabella musterte Custo. Verrückt und stark genug dürfte er sein. Über den tödlichen Teil wollte sie lieber nicht nachdenken. Zumindest schienen seine Zähne normal zu sein.
»Er hält es für möglich.« Custo stand auf und ging zu einem Schrank. Er wühlte in einer Schublade und zog eine Art Anorak hervor, den er auf den Boden fallen ließ. Dann grub er tiefer und beförderte einen Stapel schwarzer Kleidung hervor. »Ich will schnell duschen. Haben Sie etwas dagegen? Anschließend beantworte ich Ihre Fragen.«
Ihre Liste wurde immer länger.
Annabella blickte sich um. Der Raum war hell, und die Taschenlampe in ihrer Hand wog schwer. Hier gab es keine Schatten. Ihr Telefon blinkte. Wahrscheinlich ihre Mutter. »Ja, okay.«
Custo verschwand im Badezimmer, ließ die Tür jedoch einen Spalt breit offen stehen.
Annabella hörte ihre Nachrichten ab. Ein fremder Anrufer hatte aufgelegt – wahrscheinlich Adam –, und ihre Mutter hatte angerufen. Annabella rief zurück und beruhigte sie – keine verrückten Hunde heute Abend. Sie erzählte ihr etwas von einer spontanen Verabredung mit einem süßen Kerl und kam mit einem bedeutungsvollen »Ich kann jetzt nicht reden« zum Schluss. Ihre Mom wirkte überglücklich, dass ihre Tochter eine Verabredung hatte und legte unter der Bedingung auf, später alle Einzelheiten zu erfahren. Das würde ein interessantes Gespräch werden.
Annabella beendete das Telefonat, alles erledigt. Halt, sie überlegte und wählte dann ihre eigene Nummer. Der Anruf landete direkt auf der Mailbox. »Ich bin mit einem leicht irren Mann namens Custo zusammen, der … vielleicht ein Geist ist. Er ist groß, gut gebaut, mit grünen Augen und dunkelblonden Haaren. Er hat mich mit zu einer Wohnung genommen, die dem Segue Institut gehört. Was immer das ist. Jedenfalls verfügt er über die Eingangscodes, um hier hereinzukommen. Es befindet sich im Erdgeschoss eines Backsteingebäudes in der Nähe der 36. Straße West und der Fünften. Oh, und er hat von meinem Mobiltelefon aus einen Mann namens Adam angerufen. Wenn ich verschwinden oder tot aufgefunden werden sollte, fangt hier an.«
»Schlaues Mädchen«, sagte Custo von der Badezimmertür aus. »Das nächste Mal sollten Sie sich eine Hausnummer merken, selbst wenn es nur die vom Nebengebäude oder eine auf der anderen Straßenseite ist. Oder irgendein auffälliges Merkmal.«
»Nun, Sie können mir nicht verübeln, dass ich auf Nummer sicher gehe.« Sie steckte ihr Telefon ein, wich zurück und stieß mit den Oberschenkeln gegen den Schreibtisch. Wow. Custo in zu kleiner Kleidung sah gut aus. Custo in einem engen langärmeligen schwarzen T-Shirt, unter dessen weichem Stoff sich jede Wölbung seines Körpers abzeichnete, war überwältigend. Und sie verstand etwas von guten Körpern. Er trug schwarze Cargohosen, aber sie konnte nicht anders, als sich ihn in Ballettstrumpfhosen vorzustellen. Beinahe musste sie lachen: Dieser Mann? In Strumpfhosen? Nicht in tausend Jahren.
»Ich habe Ihnen keine Vorwürfe gemacht. Ich habe Sie gelobt. Es gefällt mir, dass Sie selbständig denken. Es gefällt mir, dass Sie so umsichtig waren, sich diese Taschenlampe zu besorgen. Es muss anstrengend sein, sie mitzuschleppen. Ich nehme an, Sie haben Ersatzbatterien dabei?«
Sie hob das Kinn. »In meiner Tasche.«
Er lächelte sie an und sie hörte schlagartig auf zu denken. Schließlich erreichte das Lächeln seine Augen, sie strahlten. Sie wurde von einem supergruseligen Wolf verfolgt, und dieser Mann war glücklich?
»Jetzt wird alles gut. Ich würde Ihnen sagen, dass Sie ins Bett gehen sollen, aber Adam wird gleich hier sein. Gut, dass er in New York war. Er hätte auch in West Virginia sein können.« Custos Lächeln verschwand. »Es sei denn, sie haben die Einrichtung nach dem Angriff aufgegeben.«
»Welche Einrichtung? Wer ist Adam?«
»Adam Thorne. Er betreibt das Segue Institut. Eine Forschungseinrichtung, deren Hauptaugenmerk sich auf die wachsende Population an Geistern richtet, obwohl sie sich gelegentlich auch mit anderen übersinnlichen Erscheinungen beschäftigt.«
»Schon wieder Geister.« Und übersinnliche Erscheinungen. Der Kerl schien irre, aber schließlich war sie diejenige, die Fantasiewölfe sah und sollte sich lieber zurückhalten.
»Raubtiere, die aussehen wie Sie und ich«, erklärte Custo. »Aber unmenschlich stark und unsterblich sind. Sie ernähren sich von den Seelen ihrer menschlichen Opfer. Ich habe über sechs Jahre mit Adam zusammen daran gearbeitet, ihre Verbreitung unter Kontrolle zu bringen.«
Custos Telefonat nach zu urteilen stand seine Anstellung anscheinend infrage. Sie biss sich auf die Zunge. Viele Alternativen hatte sie nicht. »Geht dieser Adam meinem Wolf auf den Grund?«
»Ja. Bestimmt.«
»Heute Abend?«
»Wir tun, was heute Abend möglich ist. Segue hat eine einzigartige Aufklärungseinheit, wir sollten in der Lage sein …«
Custo legte den Kopf auf die Seite, als würde er auf etwas lauschen. Dann war er mit einem Schritt bei ihr, griff ihren Arm – die Taschenlampe verdrehte ihr schmerzhaft das Gelenk – und zog sie hinter sich. »Alles wird gut«, sagte er etwas zu ruhig.
»Wo ist er?« Annabellas Herz hämmerte. Sie hielt sich an seiner Taille fest, linste um ihn herum und suchte mit eingeschalteter Taschenlampe nach dem Wolf.
Sie sah nichts als Kisten.
»Nicht schießen. Ich bin unbewaffnet«, schrie Custo. »Und ich habe eine unschuldige Frau bei mir.«
Also kein Wolf. Sie richtete die Taschenlampe auf den Eingang.
Custo blickte zu ihr hinunter. »Wehren Sie sich nicht. Damit habe ich gerechnet. Adam ist nur vorsichtig.«
»Auf den Boden«, rief eine heisere Männerstimme.
Custo nickte, als würde er diesen Schritt für angemessen halten. »Hinunter«, sagte er. »Sie tun Ihnen nichts.«
»Aber ich dachte …« Sie wusste nicht, was sie gedacht hatte. Vielleicht, dass sie hier die Nacht verbringen würden. Vielleicht, dass er eine schnelle Lösung für ihr Problem hatte, wie Jaspers Vorschlag mit dem Vögeln. Vielleicht, dass sie sicher war und gut ausgeruht in ihre Vorstellung ging. Wenn sie sich nicht bald hinlegte, würde sie ohnehin umfallen.
»Auf den Boden. Sofort!«
Custo drückte sie mit sich auf die Knie nieder. »Keine schnellen Bewegungen. Nur auf den Boden legen. Alles wird gut.«
Kaum hatte ihre Wange den kalten Linoleumboden berührt, tauchten zahlreiche schwarze Springerstiefel in ihrem Blickfeld auf. Einer landete auf Custos Nacken, während ihm jemand den Lauf einer Waffe an den Kopf hielt. Andere Stiefel drückten auf seine Arme, seinen Rücken und die Beine.
»Nein, nein, nein«, schrie Annabella, während ihr Körper vor Angst und Wut zitterte. Das alles war ein Fehler. Es war ein Fehler gewesen, das Taxi zu teilen. Ein Fehler, einem fremden Mann zu vertrauen. Ein Fehler, der sie vielleicht ihre Giselle kostete. »Er hat Sie angerufen! Er hat Sie angerufen!«
Custo besaß die Nerven, mit dem Stiefel in seinem Gesicht noch darüber zu lächeln, aber er schwieg und blieb ruhig liegen.
Jemand packte Annabella grob unter den Achseln und riss sie hoch. Krachend fiel die Taschenlampe auf den Boden. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie ein Soldat den Inhalt ihrer Tasche auskippte und ihre Sachen durchsuchte. Man drängte sie an eine Wand und bog ihr die Hände auf den Rücken. Welcher Idiot auch immer sie so festhielt, dachte wahrscheinlich, dass ihr dieser Griff wehtat, aber er täuschte sich. Sie tanzte, seit sie vier war; sie war vollkommen biegsam. Wenn sie wollte, hätte sie sich befreien können, aber sie wartete auf ein Zeichen von Custo.
Ließ es geschehen.
Eine Hand tastete ihren Körper ab und griff zwischen ihre Brüste, als seien sie groß genug, etwas dazwischen zu verstecken. Dann fasste der Idiot zwischen ihre Schenkel. Das war überaus demütigend. Er fand ihr Mobiltelefon – man musste kein Genie sein, um in ihrer Tasche nachzusehen. Dann wurde sie plötzlich zurückgerissen und aus der Tür gestoßen. »Wenn er zuckt«, rief ihr Entführer, »erschießt ihn.«
»Er hat mir geholfen«, sagte Annabella, als sie endlich einen Blick auf den berüchtigten Adam erhaschte. Dunkle Haare, kantiges Gesicht, zusammengebissene Zähne. Wenn er nicht ein solches Arschloch gewesen wäre, hätte er vielleicht gut ausgesehen.
»Das bezweifle ich.« Adam führte sie zu einem schwarzen Geländewagen, der im Leerlauf vor dem Gebäude wartete.
Die Straße war dunkel. Als sie kurz zu den Schatten sah, bewegten sich diese. Wenn sie schon nicht Custo haben konnte, wollte sie zumindest ihre Taschenlampe, aber sie bezweifelte, dass Adam zurücklaufen und sie ihr holen würde. Von innen wurde die Beifahrertür des Geländewagens geöffnet.
»Nein, Sie begreifen nicht«, sagte sie, »er ist ein bisschen verrückt, aber ich schwöre, dass er nichts Falsches getan hat.« Sie versuchte, sich aus Adams brutalem Griff zu befreien, während er sie in das Fahrzeug drängte.
»Nein, Sie begreifen nicht, Misses Ames.«
Woher kannte er ihren Namen?
»Dieser Mann kann nicht Custo Santovari sein.« Adams Augen wirkten hart, sein Mund war von den starken Gefühlen grausam verzerrt. »Der Custo, den ich kenne, ist vor über zwei Jahren gestorben.«