11

Custo drückte die schlafende Annabella fester an sich und verfluchte den Sonnenaufgang. Nicht, dass er ihn von Adams unterirdischer Wohnung aus hätte sehen können, aber da der digitale Wecker 6.40 Uhr anzeigte, ging er davon aus, dass der verdammte rote Ball am Horizont aufstieg. Er wollte sich nicht von der Stelle rühren. Sein Bauch schmerzte immer noch, wollte nicht heilen. Aber er hatte keine Zeit, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen was sollte der auch tun? , bevor sie sich auf den Weg zu dem Turm machten.

Stattdessen hatte er die Zeit auf die beste Art verbracht, die er sich vorstellen konnte er hielt, so lange er konnte, Annabella in den Armen.

Ihr geschmeidiger Körper passte wie ein Puzzlestück perfekt zu seinem, und ihr Hinterteil berührte erotisch seine Lenden. Sie war an den richtigen Stellen weich und rund, obwohl ihr Körper überall von festen Muskeln durchzogen war. Fast überall; die letzten zwanzig Minuten hatte er die Rippenbögen unter ihren Brüsten gestreichelt. Er traute sich nicht, höher zu gleiten, denn dann konnte er für nichts garantieren. Nur ihre Haare, die ihn die Hälfte der Nacht in der Nase gekitzelt hatten und nach Talias Fruchtshampoo rochen, hatten ihn davon abgelenkt, sich ihre weichen himbeerfarbenen Knospen vorzustellen.

Oh, Teufel. Der Turm. Denk an den Turm. Nein, das verstärkte sein Begehren nur noch mehr. Denn der Turm erinnerte ihn daran, dass er gehen würde, wahrscheinlich für immer.

Okay, dann Autos. Er dachte an sein erstes Auto, einen gestohlenen BMW 63 CSI, Baujahr 1981. Das war eine nette Tour gewesen. Er hatte ihn für eine Verabredung gebraucht und die Blondine aus seinem Einführungskurs an der Uni auf dem Beifahrersitz gevögelt.

Annabella bewegte sich, und sein Schwanz wurde fest. Die Wunde in seinem Bauch brannte.

Wer hätte gedacht, dass Sterblichkeit Himmel und Hölle in einem war?

Man müsste ihn dafür heiligsprechen, dass er letzte Nacht nicht mit Annabella geschlafen hatte. So erschöpft wie sie gewesen war, hatte er ihre Einladung zurückgewiesen. Dafür verdiente er ein Denkmal zu seinen Ehren. Bei jeder anderen Frau hätte er sie und sich befriedigt, immer wieder. Er hätte sie um den Verstand gevögelt. Wieso nicht Annabella?

Es war das Vertrauen, das er in ihren Augen las. Sie glaubte fest daran, dass sie diesen Albtraum gemeinsam bis zum Ende durchstehen würden. Wie konnte er ihr Vertrauen annehmen, wenn er wusste, dass er es am nächsten Morgen verraten musste?

Irgendjemand dort oben tat gut daran, sich Notizen zu machen.

Letzte Nacht hatte er sich damit begnügt, über ihren schmerzenden Körper zu streichen, während sie bäuchlings auf den zahlreichen Kissen im Bett lag: Mit den Daumen massierte er ihre Fußsohlen, bis sie vor Wonne seufzte. Vorsichtig lockerte er die festen Muskeln in ihren Waden. Als er ihre Schenkel massierte, schrie sie »au, au, au«, dann aber stöhnte sie dankbar und schmiegte ihren Po in seine Hände. Was ihren Körper anging, kannte die Frau keine Hemmungen, und das mit gutem Grund.

Als sie eingeschlafen war, hatte er ihr Profil betrachtet, ihre flackernden Lider beobachtet und zufrieden registriert, dass sich ihre wirren Traumgedanken alle um ihn drehten. Nicht um den Wolf.

Als die Nacht vorangeschritten und es vollkommen ruhig war, hatte er seinen Geist geöffnet und den Weißen Turm gesucht. Er hatte ihn sofort gefunden, innerhalb von Sekunden. Es handelte sich um einen leuchtenden ruhenden Pol, ein Lichthaus in dem wirren Strom der Menschheit. Er konnte ihn bislang nur übersehen haben, weil er ganz bewusst alles Engelhafte mied.

6.45 Uhr. Zeit aufzustehen. Er ergab sich in sein Schicksal. Sie würden in etwas über einer Stunde aufbrechen, bis dahin gab es viel zu tun. Schon bald musste er sich Luca ausliefern. Er wollte Adam nicht um die Chance bringen, Hilfe beim Kampf gegen die Geister zu erhalten, und würde dafür sorgen, dass Luca sich um den Wolf kümmerte. Custo hatte keine Ahnung, wie lange der Wolf brauchte, um sich zu erholen. Auf dem Treffen ruhten hohe Erwartungen.

Custo schob Annabellas Haare zur Seite und küsste die Stelle hinter ihrem Ohr. Das hatte er schon seit Stunden geplant. Er drehte den Kopf, vergrub das Gesicht in ihren Haaren und atmete tief ein. Er war ihr zu spät begegnet, inmitten von viel zu viel Gefahr, um sie wirklich kennenzulernen jedes Stück ihrer Haut, den Klang ihrer Stimme, ihr Atmen.

»Custo?«, murmelte sie. so warm berühre mich mehr

»Ich bin da«, sagte er, um ihren Gedanken zu unterbrechen und der Versuchung zu entgehen. Aber er konnte nicht anders, als mit den Fingerspitzen über ihren glatten festen Bauch zu gleiten. Er wollte sich später daran erinnern können, wenn er mit den Konsequenzen für sein Handeln konfrontiert wurde. »Wir müssen bald gehen«, stieß er hervor.

»Noch fünf Minuten.« Sie stöhnte, drehte sich mit halb geschlossenen Lidern in seinen Armen zu ihm um und schmiegte sich näher an ihn. will mehr

Mehr Zeit, um zu schlafen oder mehr ?

Sie antwortete, indem sie ein Bein um seins schlang und sein Becken dicht an ihres zog. Sie musste spüren, dass er steinhart war. Das Gefühl war quälend schön und passte perfekt. Lüsterne Gier strömte durch sein Blut und weckte flirrendes Begehren. Er legte den Kopf in den Nacken, um frische Luft einzuatmen. Aber es half nicht.

er begehrt mich doch auch wieso tut er nichts ?

Ein anständiger Mann hätte nicht die Hand unter ihr T-Shirt geschoben. Ein anständiger Mann hätte sich gar nicht erst mit ihr in ein Bett gelegt. Ein anständiger Mann hätte wie ein verdammter Priester auf dem harten Boden geschlafen.

Aber er war kein anständiger Mann. Er war ein Mistkerl.

Annabella kuschelte sich dichter an ihn und strich mit ihren Lippen über seinen Hals. Er biss die Zähne zusammen es gab einen Grund, wieso er nicht mit ihr schlafen konnte, aber er musste sich sehr anstrengen, damit er ihm einfiel. Er spürte nur eine warme, willige Frau, und das bum, bum, bum seines Herzens.

Berühr mich wieso berührt er mich nicht ?

Ach, richtig. Wegen der Geister und dem Wolf und einer Frau, die darauf vertraute, dass er für ihre Sicherheit sorgte, während er dabei war, sie zu verlassen. Er versuchte, sie von sich zu schieben, griff aber stattdessen ihre Hüften und zog sie näher an sich.

oh, bitte, ja

Als sie ihn mit ihren Zähnen reizte, verlor er die Kontrolle. Er ließ seine Hand hinaufgleiten, umfasste ihre Brust und strich mit dem Daumen über ihren festen Nippel. Sein Mund war so trocken, dass er kaum sprechen konnte. »Wir fahren in einer Stunde. Ich muss mich mit Adam treffen.«

Das war vermutlich die heldenhafteste Äußerung, die er je getan hatte. Wenn das nicht ein Paar Flügel wert war, wusste er es auch nicht.

»Nicht jetzt«, flehte sie. »Lass uns die Welt für eine Weile vergessen.«

»Ich oh, verdammt, tu das nicht Bella, bitte « Aber ihre Hand war bereits an seinen Trainingshosen. Sein Gehirn war vollkommen blutleer. Sein letzter zusammenhängender Gedanke lautete: Los. Er würde in der Hölle landen, diesmal jedenfalls ganz sicher.

Mit einer abrupten Bewegung drehte er sie auf den Rücken. Das Brennen in seiner Seite bemerkte er kaum. Im Vergleich zu dem deutlich stärkeren Ziehen in ihrem Griff war das nichtig. Ihr verdammtes T-Shirt hatte sich um ihre Brust gewickelt. Sie ließ ihn los, so dass er sich mit Küssen ihren Bauch hinaufarbeiten konnte. Er löste den Stoff von ihrem Körper, tauchte mit dem Gesicht in die Mulde zwischen ihren Brüsten und knurrte zufrieden.

Annabella lachte laut auf und griff seinen Kopf bei den Haarwurzeln. »Wenn du mich nicht gleich küsst «

Er erstickte den Rest des Satzes, indem er seinen Mund auf ihre weichen Lippen presste und von ihr kostete. Er griff ihren Schenkel und schob ihn um seine Taille. Es bedurfte nur einer zaghaften Geste, schon schlang sie ihre Beine um ihn und zog mit ihren wundervoll geformten Muskeln seine Hüften auf ihre. Er wehrte sich; noch mehr Reibung in diesem Bereich würde womöglich zu einer Enttäuschung für beide Seiten führen.

Er küsste sie sanft, aber sie stöhnte ungeduldig auf, biss in seine Unterlippe und trieb das Geschehen voran.

Custo löste sich von ihr, legte die Stirn an ihre Wange und schnappte nach Luft. Ein Ringen mit Annabella war den Fahrschein in die Hölle allemal wert, aber er wollte nichts überstürzen. Er stützte sich von den Ellenbogen auf die Hände hoch und stöhnte: »Anna, mach langsam oder du wirst es bereuen.«

Sie blickte ihn vorwurfsvoll an wie eine verzogene Göre, verstärkte den Druck ihrer Beine um ihn und hob die Hüften vom Bett. »Du hast gesagt, wir müssten uns beeilen«, schnappte sie zurück, ihr Gesicht und ihre Brüste waren gerötet. »Ich will dich, seit du mein Taxi entführt hast. Jetzt beeil dich.«

Er wollte sie, seit er sie in den Zwielichtlanden beim Tanzen gesehen hatte. Geschmeidig und vollkommen überirdisch. Jetzt war sie eine sinnliche Frau, und der Teufel in ihm begehrte sie deshalb nur noch mehr.

»Jetzt reicht’s«, erklärte sie gereizt alles muss man selbst machen

Sie ließ die Hände zurück zu seinem Hosenbund gleiten und versuchte, aus einem unglücklichen Winkel heraus zugleich Hose und Boxershorts seine Hüften hinunterzuschieben. Eine ungeduldige, fordernde Frau. Sie machte keine großen Fortschritte, irgendetwas befand sich im Weg.

Obwohl offensichtlich war, was sie wollte, drang er in ihre Gedanken ein. Sie stellte sich vor, dass sie mit durch und durch angespannten Muskeln wie ein funkelnder Bogen rittlings auf ihm saß und sich mit den Händen auf den Knien abstützte, während er in ihr war.

Okay, er war flexibel dann machten sie es eben auf ihre Art.

Er stemmte sich hoch, damit sie besser an seine Hosen herankam. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Bauch, und Custo sackte zur Seite, aber er unterdrückte seine Reaktion, bevor sie ihre Meinung änderte. Er musste sowieso auf dem Rücken liegen, also war alles in Ordnung.

»Das Hemd«, befahl sie und zerrte an dem Stoff an seiner Taille. Er achtete nicht auf den stechenden Schmerz, als er sich aufsetzte, um es über seinen Kopf zu ziehen. Nicht, als er den verführerischen, entschlossenen Glanz in ihren Augen sah. Er befreite sich von seinen restlichen Hosen.

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Es gab nur noch diesen Augenblick. Indem er sie berührte, war er wieder lebendig, ein letztes Mal. Nein, zum ersten Mal überhaupt.

Sie suchte seinen Blick und sah ihm fest in die Augen, ihr Körper bebte, als sie ihn sah, ihn wirklich sah. Das war nicht nur Sex. Das konnte nicht nur Sex sein. Nicht, wenn er seine letzte Ehre opferte, um mit ihr zusammen zu sein, bevor er den Engeln gegenübertrat.

Ihre Miene nahm einen ernsten Ausdruck an, und Custo las ihre Gedanken. Er musste wissen, was sie dachte.

zu nah viel zu nah

Offenbar verstand sie ihn in gewisser Weise. Ihre Gedanken verstummten, während zugleich die Spannung in ihrem schlanken, geschmeidigen Körpers wuchs.

Wieso kam er Annabella jetzt so nah, wenn keinerlei Hoffnung auf ein Leben mit ihr bestand? Wieso jetzt? Er kannte nur eine Antwort: Trotz der Ordnung im Himmel regierte dort nicht Vernunft, sondern Wahnsinn. So sollte es nicht sein.

Annabella atmete schwer. Ihre Augen glänzten. Langsam färbte Sorge das Blau ihrer Iris dunkler.

Custo schob die Gedanken fort, die ihr einen Blick auf seine geschundene Seele gewährt hatten. Sie durfte das nicht sehen. Nicht sie. Er war kein anständiger Mann, aber das musste sie nicht wissen, zumindest nicht in der nächsten Stunde.

Außerdem war sein Körper gierig. Wenn es keine Vernunft gab, konnten sie sich ganz Gefühl, Lust und Leidenschaft überlassen und den Rest vergessen. Er wollte gerade ihre Taille fassen und sie auf sich ziehen, um sie zu streicheln und zu reizen und ihre wundervoll fordernde Stimmung wieder zu verstärken, als sich der Ausdruck in ihren dunklen Augen in pure Lust verwandelte und seine eigenen Gedanken überrollte.

Verdammt, er mochte sie so sehr, so so sehr.

Sie streckte ein geschmeidiges Bein aus und glitt auf ihn. Sie umschloss ihn mit ihrer festen Lust, ihr wundervoller Körper glänzte vor Anstrengung und bog sich genussvoll, als sie ihn tief in sich spürte. Seine Hände fassten ihre Hüften, um den Rhythmus zu bestimmen. Er wollte langsam machen, wirklich, aber ihr Anblick über ihm und der sich steigernde triebhafte Puls brachten ihn dazu, schneller zuzustoßen. Sie zu höchster Lust zu treiben, es folgte elektrisierende weiße Ekstase.

Ein Blitzschlag von überwältigender Intensität ließ sie beide erbeben, zucken, bersten, kommen. Seine Seele hatte sich aufgelöst, aber so lange das durch Annabellas Handeln geschah, war es ihm egal.

Himmel hilf mir.

Wolf verbarg sich in den tiefen, brachliegenden Schatten der Wohnung. Sie waren im Badezimmer. Im Bett. Zusammen. Verschmolzen.

Vor lauter Sehnsucht sträubte sich sein Fell, er keuchte heftig vor bitterem Verlangen. Lustvolle Gerüche lösten menschliche Gefühle in ihm aus und ließen seinen schattenhaften Körper erschaudern. Sie durchdrangen seinen animalischen Geist, erfüllten seinen Atem mit neuen, heftigen Worten, während ihn dunkle und brutale Gedanken beherrschten.

Die Frau gehörte ihm. Sie gehörte zu ihm. Hatte er ihr nicht gerade erst gezeigt, wozu sie gemeinsam in der Lage waren? Hatte er nicht ihre schönsten Träume wahr werden lassen?

Wolf zog die Lefzen über seinen nassen Zähnen hoch, ein Knurren rollte durch seine Brust. Das Bett sollte rot durchtränkt sein. Annabella sollte vor ihm knien und ihm ihren geschmeidigen Rücken entgegenbiegen.

Aber er konnte nicht eintreten. Das Engelslicht verbannte ihn. Er war noch nicht stark genug. Nicht annähernd stark genug, um ihre sinnliche Verbindung zu stören. Die Sterblichkeit machte ihn kleiner, er brauchte länger, um in der Dunkelheit seine Gestalt zu formen, die Schatten aus Zwielichtlande waren weniger bereit, seine Wiederherstellung zu nähren. Seine Wiedergeburt verlangte Zeit, das war der Fluch menschlicher Existenz.

Nur sein Name, Wolf, verhinderte, dass der Prozess endlos dauerte. Ein Name. Wolf. Macht.

Und sie hatte sie ihm verliehen. Sie musste wissen, dass sie zu ihm gehörte. Dass sie zusammen großartige Sachen erreichen konnten und er ihre kühnsten Fantasien übertraf. Sie musste es wissen.

Und wenn nicht, würde er es ihr zeigen.

Oh, verdammt. Was hatte er getan?

Custo musste sich überhaupt nicht anstrengen, um die Gedanken zu lesen, die in ihrem Kopf herumwirbelten. Sie sagte sich fortwährend, dass sie sich entspannen sollte, ruhig bleiben, locker machen offenbar waren ihre Gefühle alles beherrschend. Er musste ihr jetzt alles erklären, ihr sagen, dass er sie verließ. Sie würde verletzt sein und ihn verfluchen, aber dem musste er sich stellen.

Custo tätschelte Annabellas Hüfte. »Du solltest lieber aufstehen und dich fertig machen. Ich sehe nach Adam.«

Sie runzelte die Stirn, ihre nackte Haut schimmerte wundervoll rosig. »Du verschweigst mir etwas.«

Dass er sie verließ, wenn sie am verwundbarsten war? Dass er ihr schreckliches Wolfproblem jemand anders überließ? Sie würde ihm niemals vergeben.

Custo schaffte es, einen Mundwinkel zu heben. Es war das Beste, was er tun konnte. Sie würde es noch früh genug herausfinden. »Großer Tag.«

Annabella verdrehte die Augen, schob sich jedoch nackt aus dem Bett, elegant und lässig. Sie wusste, dass sie gut aussah schlank, aber nicht ohne Kurven und aufgrund ihrer Kunst wohlgeformt. Bei diesen Gedanken geriet sein Blut erneut in Wallung, es juckte ihn in den Fingern, sie zu berühren. Sie stand auf, die leichte Erregung ihrer Brüste entging seiner genauen Beobachtung nicht, doch sie machte keine Anstalten, sich zu bedecken, während sie zum Badezimmer tappte und dabei ihren Hintern schwang. Mit funkelnden Augen blickte sie über ihre Schulter zu ihm zurück, um sich davon zu überzeugen, dass er sie beobachtete, drehte sich wieder um und knotete ihre Haare auf dem Hinterkopf zusammen, so dass ihr Körper voll zur Geltung kam. Custo richtete sich im Bett auf, um der Sirene zu folgen, aber ein wohlverdienter stechender Schmerz in seiner Seite erinnerte ihn an seine Pflichten.

Sie ließ die Tür offen stehen, denn sie hatte immer noch Angst, allein zu sein, und vertraute auf seinen Schutz.

Zum Teufel, er war ein echter Mistkerl. Aber er würde wieder genauso handeln.

Schwerfällig setzte sich Custo auf und griff sein Mobiltelefon.

Adam nahm nach dem ersten Klingeln ab. »Hast du den Turm gefunden?«

Er musste den Anruf erwartet haben. »Ja. Geht es Talia nicht gut?«

Adam seufzte. »Sie ist brav, aber vor ihrer Niederkunft kann sie weder Geister noch den Wolf angreifen.« Adams Botschaft war unmissverständlich: Sobald Custo gegangen war, gab es keine Möglichkeit, Annabella zu schützen, nicht ohne Talias Leben und möglicherweise das ihrer Zwillinge zu gefährden. Adam erklärte ihm indirekt, für wen er sich im Ernstfall entscheiden würde.

Custo empfand widerstreitende Gefühle: Zum einen schlicht und einfach Verständnis. Natürlich kamen für Adam Frau und Kinder zuerst. Auf der anderen Seite fühlte er sich verraten. Hatte Custo nicht sein Leben für Adam gegeben? Und das war nun der Dank dafür? Custo schob dieses irrationale Gefühl entschieden zur Seite. Adam und er rechneten nicht auf; sie hatten immer alles freiwillig füreinander getan. Und schließlich fühlte er sich hilflos und hatte das dringende Bedürfnis, etwas zu tun. Wenn Adam Annabella nicht helfen konnte, musste Custo jemand anders finden, der das übernahm.

Es blieb nur Luca übrig.

»Sei um acht Uhr startklar«, sagte Custo. »Je eher wir dafür sorgen, dass sich jemand um die Frauen kümmert, desto besser.«

»Ich bin fertig«, erwiderte Adam.

Custo blickte hinüber zu der offen stehenden Badtür. Etwas fiel klappernd auf die Fliesen, Annabella fluchte. Nur noch ein oder zwei Minuten bis zu ihrem Ende. »Hast du schon die undichte Stelle gefunden? Dir ist doch klar, dass jemand den Geistern verraten haben muss, dass du am City Center sein würdest.«

Die Bedrohung innerhalb von Segue hatte mit Adam zu tun. Das war offensichtlich. Hätten die Geister die Theaterzuschauer angegriffen, wäre wesentlich mehr Chaos entstanden, der Schaden deutlich größer gewesen. Bei einer Blockade der Ausgänge hätten sie unbehelligt fressen, morden und fliehen können, ehe Segue endlich genug Kräfte gegen sie organisiert hatte.

Stattdessen hatten die Geister sich für einen konzentrierten Angriff vor dem Theater entschieden. Warum dort?

Jemand musste ihnen gesagt haben, wo Adam sich postieren würde, um Annabella im Notfall helfen zu können. Wenn sie Adam hatten, war Talia geschwächt, vor allem, da sie die nächsten Wochen ans Bett gefesselt sein würde. Und wenn die Welt auf Talias Schrei verzichten musste, konnten die Geister ungehindert angreifen und fressen. Das Leben, wie die Menschheit es bisher gekannt hatte, wäre für immer verloren.

»Ich habe ihn noch nicht gefunden«, antwortete Adam, »aber ich habe einen starken Verdacht.«

»Erzähl.« Schließlich war Custo deshalb aus dem Himmel geflohen. Wenn er zurückgehen musste (vielleicht in ein wärmeres Klima), wäre es in gewisser Weise befriedigend zu wissen, dass der Verräter gefasst war.

»Siebenundzwanzig von fünfunddreißig Soldaten haben den Geisterangriff überlebt. Sie waren die einzigen, die alle Einzelheiten der Mission kannten. Alle haben sich zurückgemeldet, bis auf Geoff. Sein Partner ist ermordet worden, aber nicht von Geistern. Geoff hat sich während der Aufräumarbeiten kurz in den Server von Segue eingeloggt, weshalb es unwahrscheinlich ist, dass die Geister ihn als kleinen Mitternachtsimbiss verschlungen haben. Und es ist logisch, dass er jetzt davonläuft, nachdem sich der Kreis der Verdächtigen von einigen Tausend auf siebenundzwanzig reduziert hat.«

Das hörte sich zu simpel an. Es gefiel Custo nicht.

»Aber um ganz sicher zu sein«, fuhr Adam fort, »habe ich das restliche Team von gestern Nacht gebeten, sich für die Dauer der Untersuchung freiwillig in der New Yorker Filiale in Sicherheitsverwahrung zu begeben. Ich will alle verhören.«

Das klang schon besser. Adam war sorgfältig, vor allem wenn Talia betroffen war.

Wenn genügend Zeit gewesen wäre, hätte Custo die Verhöre gern selbst durchgeführt. Mit ein paar gezielten Fragen wäre der Mann ziemlich schnell entlarvt, selbst wenn er log. Gedankenlesen war deutlich effektiver als jeder Lügendetektortest.

Es drohten zu viele Gefahren von zu vielen unterschiedlichen Seiten. »Ich brauche eine Waffe, Adam. Ich will nicht unbewaffnet sein.«

»Ich habe deine Glock hier.«

Annabella trat aus dem Badezimmer, ließ jedoch aus Angst vor der Dunkelheit das Licht an. Ihre zur Seite gekämmten Haare fielen in weichen dunkelbraunen Wellen bis auf ihre Schultern herab und umrahmten ihr Gesicht. Soweit er das erkennen konnte, war sie kaum geschminkt, nur auf die Lippen hatte sie etwas Farbe aufgetragen.

»Gut«, sagte Custo. »Wir sind gleich oben.«

Annabellas Blick glitt von Adams aschfahlem, ernstem Gesicht zu Custos. Niemand sprach ein Wort, die Anspannung vergiftete die Atmosphäre. Die Verbindung, die sie noch heute Morgen mit Custo geteilt hatte, war auf seltsame Art gekappt und das Verhältnis distanziert, obwohl allein der Anblick seines Profils erneut heftiges Verlangen in ihr auslöste. Custo zu begehren, lenkte sie auf wundervolle Art von der Verlockung des Schattenlandes ab. Natürlich nur, wenn Custo mit ihr sprach oder auf irgendeine andere Art signalisierte, dass sie zusammenhielten. Sie waren doch ein Team, oder etwa nicht?

Aber das konnte sie schlecht fragen, wenn Adam wie das fünfte Rad am Wagen wirkte und Custo sie ignorierte, solange sie auf dem Rücksitz saß. Sie musste warten, bis sie wieder allein waren.

Die Stimmung verstärkte ihr Gefühl, dass heute über allem ein Schatten lag, die dunkelsten Stellen erschienen ihr undurchdringlich schwarz. Ein alarmierendes Kribbeln signalisierte ihr, dass sie verfolgt wurden. Annabellas Nervosität steigerte sich nach einigen Adrenalinschüben zu Paranoia. Sie versuchte, die Angst anzunehmen und so unter Kontrolle zu bringen, dass sie klar denken konnte. Die Angst führte zusammen mit den Schmerzen der letzten Nacht dazu, dass ihre Muskeln und Gelenke sich bitter beklagten, aber das Ballett hatte sie gelehrt, gute von schlechten Schmerzen zu unterscheiden. Schlechter Schmerz bedeutete, verletzt zu sein. Guter Schmerz trieb einen zu Höchstleistungen an. Dies waren gute Schmerzen, erdende Schmerzen; sie durfte sich nicht noch einmal auf Wolf einlassen.

Sie wusste, dass sie anderen begegnen würden, die Custo glichen. Sie nahm an, dass sie sie bitten wollten, ihnen bei ihrem nächsten Versuch zu helfen. Die Vorstellungssaison begann in ein paar Tagen, und diesmal wollte sie es richtig machen. Sie würden um Hilfe bitten, einen Plan schmieden und den Wolf loswerden.

Der Tag erforderte Eigeninitiative und Handeln. Custo und Adam sahen allerdings aus, als führen sie zu einer Beerdigung.

»Will mich keiner von euch einweihen?«, fragte sie leichthin, um der drückenden Stimmung etwas entgegenzusetzen.

Nach der schrecklichen Vorstellung gestern Abend und nachdem sie beinahe auf Wolf hereingefallen war und freiwillig mit ihm gegangen wäre, konnte sie keine Geheimnisse ertragen.

Custo blickte über seine Schulter zu ihr nach hinten. »Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.«

Machogehabe machte sie immer wütend. Sie reagierte etwas zickig. »Ich muss wissen, was vor sich geht.«

Aber Custo wandte sich abrupt zu Adam um. »Nein, da drüben. Ich spüre ihn weniger als einen Block von uns entfernt.«

Er ignorierte sie. Noch nicht einmal vor einer Stunde war er in ihr gewesen und jetzt weigerte er sich, ihr zu antworten.

Adam drosselte die Geschwindigkeit bis auf Schritttempo und blickte zu Custo. »Bist du bereit?«

Adam ignorierte sie genauso.

»Ich will, dass sich jemand darum kümmert«, erwiderte Custo.

Dickköpfe. »Irgendjemand muss mich jetzt informieren oder « oder sie wusste nicht, was sie dann tun würde, aber es würde äußerst unangenehm für alle werden.

»Du weißt es bereits, Annabella«, sagte Custo besänftigend. Dieser unpersönliche Ton gefiel ihr nicht. Das war nicht der Mann, der gerade Bett und Körper mit ihr geteilt hatte. Er fuhr fort: »Man hat mich aufgefordert, mich mit einigen anderen von meiner Art zu treffen. Ich erhoffe mir von ihnen ein paar Informationen zum Umgang mit dem Wolf.« Zu Adam gewandt sagte er plötzlich: »Verdammt! Hier!«

»Ich sehe nichts«, entgegnete Adam, hielt jedoch in der zweiten Reihe.

Annabella spähte aus dem Fenster, obwohl sie nicht wusste, wonach sie suchte. Keine große Kirche zu sehen, lediglich eine Straße in Manhattan, in der morgendliches Geschäftstreiben herrschte. Der bewölkte Himmel sah ebenso eisig aus, wie sich die Luft anfühlte. Unregelmäßige Gebäude säumten den Bürgersteig, einige breit und eckig mit kleinen Geschäften darin Café, Feinkostgeschäft, Reinigung , während andere in den Himmel hinaufragten, wo sie beinahe die tief hängenden Wolken berührten. Die Straße wirkte abweisend, der Himmel bedrohlich und die Kombination aus beidem wölfisch.

Sie zog die Jacke dichter um sich. »Steckt ihr in Schwierigkeiten?«

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wurde ihr ungutes Gefühl Gewissheit.

Er steckte in Schwierigkeiten und das war ihre Schuld.

Wegen der Vorstellung. Wenn er für die Katastrophe von gestern Abend bestraft werden sollte, war sie froh, jetzt hier zu sein. Custo hatte sein Bestes getan. Sie hatte versagt. Sie war so in dem Augenblick gefangen gewesen, dass sie nicht begriffen hatte, was vor sich ging. So war Wolf entkommen. Wenn irgendjemand sich für das Desaster verantworten musste, dann sie.

Custo stieg aus dem Wagen, ohne zu antworten. Oder sie überhaupt anzusehen. Das musste es sein; sie hatte ihn in Schwierigkeiten gebracht. Gut, dann musste sie es wieder in Ordnung bringen.

Zusammen mit Adam, der den Wagen einfach auf der Straße stehen gelassen hatte, trat sie auf dem Bürgersteig zu ihm. Was immer sie vorhatten, es musste wirklich wichtig sein, wenn sie nicht einmal die Zeit hatten, anständig zu parken. Ein Taxi hupte wütend, weil es nicht vorbeikam.

Custo und Adam schienen jedoch ganz damit beschäftigt zu sein, eine Adresse zu suchen. Annabella blickte fortwährend über ihre Schulter, mal zu einem Schatten an einer Gasse, oder in die schwarzen Augen eines Fußgängers, mal zu einem plötzlich aufheulenden Müllwagen. Obwohl helllichter Tag war, fing sie erneut an zu zittern.

Wenn es so etwas wie weibliche Intuition gab, und die gruseligen Ereignisse der letzten Zeit sprachen dafür, wurden sie beobachtet. Es musste Wolf sein. Er verfolgte sie. Schlich hinter ihr her.

»Hier entlang«, sagte Custo, das Gesicht mit grimmiger Ehrfurcht zum Himmel gerichtet, was sie extrem irritierte; ihr Magen krampfte sich zusammen.

Er führte sie zu einer schmutzigen Gasse, zu dunkel, um sie sich darin sicher zu fühlen. Irgendjemand Lust auf Wolf?

»Custo?«, fragte Adam.

Custo holte tief Luft. »Siehst du es nicht?«

»Was?«, fragte diesmal Annabella.

»Ich sehe einen Turm«, erklärte er, »einen schmalen Obelisken, der wie ein Dolch in den Himmel ragt. Die Fassade ist aus einer Art weißem Marmor, das anscheinend das Tageslicht absorbiert. Es gibt keine Fenster, lediglich ganz oben befinden sich zwei dunkle Schlitze wie bei einer mittelalterlichen Burg.«

Custo blickte zu ihnen herüber.

Sie zuckte mit den Schultern. Nein, sie sah nichts. Und die Leute fingen an, sie anzustarren.

»Nun, ihr kommt beide mit mir«, erklärte er.

Custo packte ihren einen Arm, Adam nahm den anderen. Mit der freien Hand schien Custo die Klinke einer imaginären Tür herunterzudrücken. Gemeinsam mit ihm trat sie vom Bürgersteig in eine strahlend helle Halle. Der Wechsel kam plötzlich und abrupt. Sie taumelte und griff nach den Händen der Männer, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, aber die Schwerkraft schien aus sehr ungewöhnlichen Winkeln an ihr zu ziehen. Vereinzelt hörte sie noch die Geräusche der Stadt den Verkehr, das gelegentliche Bob Bob von Musik und Gesprächsfetzen , aber sie klangen verzerrt. Die Halle erstrahlte so hell, dass sie nur mit Anstrengung etwas erkennen konnte. Sie versuchte, in dem strahlenden Nebel Tiefe und Begrenzungen auszumachen.

»Sie können hier nicht herein«, erklärte eine männliche Stimme. Im einen Augenblick gehörte die Stimme noch zu einem farbigen Fleck in der Ferne, im nächsten stand der Besitzer direkt vor ihnen. Ein großer, etwas schlaksiger Mann mit dunklen Haaren und schwarzen Augen, gekleidet in Jeans und ein weißes T-Shirt. Mit seinem durchtrainierten Oberkörper konnte er es sich erlauben, etwas engere Kleidung zu tragen.

»Verstößt du gegen alle Regeln, Custo?«, fragte der Mann mit einem wissenden Lächeln.

Als Custo nichts erwiderte, wandte der Mann seine Aufmerksamkeit ihr zu. Er wirkte lediglich höflich interessiert, durchbohrte sie jedoch mit seinem Blick. Dann streckte er ihr die Hand entgegen, und Annabella ergriff sie aus reiner Gewohnheit.

»Ich bin Luca«, stellte er sich vor. »Custos Urgroßonkel. Man sollte doch annehmen, dass er mehr auf einen älteren Verwandten hört.«

Sie konnte keine große Ähnlichkeit zwischen den beiden erkennen. Ihre Haarfarbe, ihr Körperbau und ihre Haltung waren grundverschieden. Und Luca versuchte charmant zu sein, eine Eigenschaft, die sie Custo erst noch beibringen musste.

»Ich bin doch jetzt hier, oder nicht?«, unterbrach Custo. Das war ein typisches Beispiel.

Luca ging weiter zu Adam, der seine ausgestreckte Hand ergriff und sie herzlich schüttelte. »Adam Thorne.«

Luca neigte den Kopf, trat zurück und wandte sich an alle, wobei er entschuldigend die Hände hob. »Es tut mir leid. Annabella und Adam, der Zutritt zum Turm ist euch leider nicht gestattet.«

Er will uns einfach vor die Tür setzen? In Erwartung einer Reaktion blickte Annabella zu Custo. Als er nichts sagte, blickte sie wieder zu Luca.

»Ich verstehe den Punkt«, erwiderte Luca.

Welchen Punkt? Hatte jemand etwas gesagt? Die Nebelschleier wirkten sich offenbar auf ihr Gehirn aus.

Auch Adams versteinerte Miene schien verwirrt, weshalb sie sich nicht ganz so albern vorkam.

Luca zuckte mit den Schultern in Custos Richtung. »Nun, jetzt sind sie schon so weit gekommen; ich wüsste nicht, wieso sie nicht hier warten sollten, während wir reden. Hier kann ihnen nichts passieren. Der Jäger kann das Licht hier nicht ertragen. Und die unsterblichen Toten, die ihr als Geister bezeichnet, wissen nicht, dass wir existieren.«

Diese Umgebung bereitete Annabella Kopfschmerzen.

»Eigentlich wollte ich gern mit Ihnen über die Geister sprechen«, warf Adam ein. »Es ist der Auftrag meiner Organisation, des Segue Instituts«, er holte eine Visitenkarte hervor und hielt sie Luca entgegen »sie zu vernichten.«

Luca schob Adams Karte zur Seite. »Ich weiß, wer Sie sind. Die Geister dieser Zeit gehen mich nichts an.«

Adam schnaubte, dann fasste er sich. »Wie ist das möglich?« Er trat einen Schritt vor, damit er Lucas ganze Aufmerksamkeit für sich hatte. »Sie beuten ungestraft Menschen aus. Niemand ist mehr sicher, bis meine Frau, die Tochter von «

»Ich weiß, wer Ihre Frau ist. Ich wünsche ihr alles Gute für eine erfolgreiche Niederkunft. Aber der Turm arbeitet zur Zeit nicht an der Auslöschung der Geister.« Zu Custo gewandt sagte er: »Wenn du mir folgen willst «

Adam ließ sich nicht abschrecken. »Sind Sie überhaupt berechtigt, das zu entscheiden? Ich möchte den Verantwortlichen sprechen.«

Luca lächelte, irgendwie bedauernd. »Sie müssen mit mir vorliebnehmen.«

»Sie kennen sich nicht zufällig mit Schattenwölfen aus, oder?«, fragte Annabella, obwohl sie nicht wirklich mit einer Antwort rechnete, nachdem Luca bereits den gesamten Geisterkrieg abgelehnt hatte.

Lächelnd wandte sich Luca zu ihr um. »Ich weiß, dass einer in der Stadt ist.«

Die Stunde der Wahrheit. »Ja äh «, hob sie an, »gestern Abend hätten wir ihn beinahe gehabt, aber dann ist er uns entkommen. Es ist überhaupt nicht Custos Schuld. Ich war zu sehr mit mir beschäftigt und habe einen Fehler gemacht.« Luca sagte nichts, während sie stammelnd zum Punkt kam. »Ich will nicht, dass Custo dafür verantwortlich gemacht wird.«

Luca hob eine Braue. »Ich glaube, er hat Sie während der Vorstellung eine ganze Zeit lang mit dem Wolf allein gelassen.«

Annabella blickte zu Custo. Ja, da war dieser eine Moment gewesen. Sie hatte während der Aufführung nach ihm gesucht, aus Angst, weil Wolf plötzlich aufgetaucht war. Sie hatte es hinterher vergessen und war bislang zu feige gewesen, sich noch einmal mit ihrer Verführbarkeit auseinanderzusetzen. Deshalb hatte sie nicht mehr daran gedacht. Aber, ja, Custo war nicht da gewesen, als sie ihn brauchten.

Dafür gab es gewiss gute Gründe. Er würde sie nicht einfach im Stich lassen.

»Ich übernehme die volle Verantwortung«, erklärte Custo und sah sie zum ersten Mal an, seit sie aus dem Bett gekrochen waren. Er drehte sich wieder zu Luca um. »Und ich gehe nirgendwo mit dir hin, bis du mir versicherst, dass Annabella vor dem Schattenwolf beschützt wird, und dass Adam die Unterstützung erhält, die er im Kampf gegen die Geister braucht.«

Luca deutete in den hellen Nebel. »Gehen wir irgendwohin, wo wir reden können.«

»Nein.« Custo ließ das Wort wie einen Anker fallen.

»Custo«, entgegnete Luca, »du bist keiner von ihnen. Das weißt du. Dass du heute hergekommen bist, ist richtig, obwohl es sicher schwer für dich war.«

Jetzt verstand Annabella überhaupt nichts mehr. Würde Custo sie verlassen? Sie beugte sich zu Adam. »Verstehst du irgendetwas?«

Adam blickte zu ihr herab. »Nicht wirklich.«

»Ich kann meine Freunde nicht verlassen, solange sie von Monstern verfolgt werden«, sagte Custo.

Sie verlassen? Das ergab keinen Sinn. Custo konnte kaum hier bleiben. Wenn er ging, wäre das ein harter Verlust für Adam, aber für sie wäre es, als werfe er sie

Ihre Brust schnürte sich zu, sie bekam kaum noch Luft. Custo ging?

»Folge mir wenigstens, und höre dir ein paar Sachen an, damit du dich nicht umbringst. Dann kannst du immer noch entscheiden«, schlug Luca vor.

Annabellas Kehle war wie ausgetrocknet. Das wurde ja immer schlimmer. »Umbringen?«

»Kommst du?«, fragte Luca. »Jemand muss diese Kugel aus deinem Bauch holen, bevor du innerlich verblutest.«

Custo runzelte heftig die Stirn.

Kugel? Töten? Verlassen?

Custo wandte sich an Adam und schloss sie mit seinem durchdringenden Blick ein. »Wartet ihr hier? Ich komme so bald wie möglich zurück und werde euch alles erklären.«

Bevor sie nicht ein paar Antworten erhalten hatte, würde sie sich nicht vom Fleck rühren.

Custo griff sie kurz am Arm und küsste sie leidenschaftlich. Er löste sich von ihr und sah sie streng an. »Tu, was Adam dir sagt.«

War das ein Abschied?

»Ich verstehe nicht«, antwortete sie. Nichts ergab einen Sinn.

»Wir warten«, sagte Adam bedeutungsvoll zu Custo.

Custo ließ sie los. Plötzlich lösten er und Luca sich in ferne Farbflecken auf, bis das Licht sie ganz verschluckte.

Der Druck in Annabellas Brust wurde so stark, dass sie sich vornüberkrümmte.

»Tief einatmen.« Adam legte eine Hand auf ihren Rücken. Sie rang nach Luft. Als ihr Gleichgewichtssinn wiederkehrte, richtete sie sich auf.

»Ich sehe kein Bad«, sagte sie und versuchte die Tränen in ihren Augen zu überspielen, indem sie einen Witz machte.

»Ich glaube, wir müssen einhalten.« Adam hielt immer noch die abgewiesene Visitenkarte in der Hand. Vor Wut biss er die Zähne zusammen.

»Custo regelt das alles«, sagte sie, obwohl sie sich bei nichts mehr sicher war.

Sie hatte angenommen, er stecke ihretwegen in Schwierigkeiten, aber er hatte sie mitten in der Vorstellung alleingelassen. Ihn traf genauso viel Schuld wie sie. Abgesehen davon, dass er ein Engel war und wissen sollte, was er tat.

Er hatte auch gewusst, dass er wahrscheinlich gehen musste, und es nicht für nötig gehalten, es ihr zu sagen. Stattdessen hatte er sie in dem Glauben gelassen, sie würden den Wolf zusammen verbannen, obwohl er schon wusste, dass er Luca bitten wollte, sich darum zu kümmern.

Er hatte mit ihr geschlafen oh, nein, sie durfte nicht darüber nachdenken. Es kam ihr zu demütigend vor.

Außerdem war es ihre eigene Schuld, dass sie mit ihm geschlafen hatte. Hatte sie tatsächlich geglaubt, er begehre sie, würde da sein, um sie zu schützen? Die Tatsache, dass er wie ein Mann aussah und sich so benahm, hatte sie vergessen lassen, dass er keiner war. Sie hatte sich von Angst und Träumen einlullen lassen.

Nachdem sie mit so vielen Enthüllungen konfrontiert worden war, musste sie sich hier und jetzt der Wahrheit stellen: Sie hatte ihn erst vor zwei Tagen kennengelernt. Er war praktisch ein Fremder und anders als sie vom normalen Lauf des Lebens abgeschnitten. Kein Mann, ein Engel. Die Demütigung hatte sie sich selbst zuzuschreiben.

Aber es war in Ordnung. Der Gedanke linderte ihren Schmerz.

Misserfolge waren wichtig; das hatte sie zur selben Zeit herausgefunden, zu der sie ihre ersten Spitzenschuhe erhalten hatte. Fehler waren der Schlüssel zum Erfolg. So hatte sie gelernt, ihr Gleichgewicht zu korrigieren und ihre Mitte zu finden, damit sie denselben Fehler das nächste Mal nicht noch einmal machte.

Die intensive Helligkeit des Turms mochte ihren Blick getrübt haben, aber jetzt sah sie ganz klar. Sie konnte oben und unten auseinanderhalten. Einen normalen Menschen von einem Engel unterscheiden und Vertrauen von Verrat.

Sie würde nicht noch einmal auf Custo hereinfallen.