16

Er war teils aus einem Reflex heraus, teils aus krankhafter Neugier in das Loft gegangen. Okay, es war ziemlich viel krankhafte Neugier im Spiel gewesen. Nachdem Custo die Adresse genannt hatte, führte ihn ein heftiges Ziehen zurück an den Ort und zu jenem Augenblick, in dem er sich verloren hatte.

Die unerwartete Begegnung mit seinem Vater, in deren Folge er dessen Gedanken hören konnte, hatte etwas in ihm ausgelöst. Sein Vater stand am Anfang, und Adams Loft am Ende.

In den Jahren, in denen die Gefahr durch die Geister sich zu einer weltweiten Bedrohung entwickelt hatte, kamen Custo und Adam hier häufig zu Lagebesprechungen zusammen. Die Wesen konnten nicht sterben; die Forschung war die einzige Möglichkeit gewesen, sie zu bekämpfen. Deshalb die sorgfältige Gründung des Segue Instituts. Die Suche nach Dr. Talia O’Brien, einer Spezialistin für Nahtoderfahrungen. Die Entdeckung ihrer persönlichen Beziehung zum Schattenmann, auch bekannt als der Tod. Der rapide Anstieg der Angriffe durch die Geister, nachdem ihre Existenz allgemein bekannt geworden war. Die Flucht aus dem Hauptsitz in West Virginia. Seine Gefangennahme und

»Hier bist du gestorben?« Mit aschfahlem Gesicht tat Annabella einen Schritt in Richtung des durchlöcherten Fahrstuhls, wich jedoch vor den Spuren der Gewalt zurück und schlang unsicher die Arme um ihren Körper.

»Mich hat ein Mistkerl erwischt, der gemeinsame Sache mit den Geistern gemacht hat.« Mistkerl. Das war ziemlich milde ausgedrückt. »Spencer«, ergänzte Custo. »Pech und schlechtes Timing. Ein schlechtes Leben.«

Sie zitterte vor Kälte. Verdammt kalt hier drin. Sterbenskalt.

Es war grausam, sie herzubringen, aber aus irgendeinem Grund wollte er, dass sie es sah. Alles andere in seinem Leben war geliehen, nur sein Tod gehörte ihm. Ganz auf sich gestellt hatte er ein einziges Mal in seinem Leben richtig gehandelt. Ein Augenblick, eine Entscheidung, kein Bedauern. Adam und Talia waren es wert gewesen.

»Zeig es mir.« Ihre Stimme klang unverhältnismäßig laut, als versuchte sie, ein starkes Gefühl zu überspielen.

Custo las nicht ihre Gedanken, spürte nicht ihrem Motiv nach. Er drang nicht unbefugt in ihren Kopf ein, aber es erforderte seine gesamte Selbstbeherrschung, es nicht zu tun. So viel Respekt war er ihr schuldig, nachdem sie den durchlöcherten Fahrstuhl betreten und ihm vertraut hatte.

Wenn er es irgendwie schaffte, würde er nicht wieder in ihre Gedanken eindringen.

»Zeig es mir«, wiederholte sie.

Custo blickte zum Flur auf der anderen Seite des großen Raumes. Hinter jener Tür war es passiert.

Das Schlafzimmer lag genauso leer wie der Rest des Lofts. Sein Grab war hohl und verlassen. Mit dem Fuß strich er über die Stelle, auf der er an einen Stuhl gefesselt gesessen hatte, aber das konnte er ihr nicht erzählen. Das war zu viel, selbst für ihn. Er ging langsam durch den Raum. Aus seiner Erinnerung tauchte ein Wald auf: die Zwielichtlande. Nach all der Zeit verströmten die Bäume immer noch eine unheilvolle Magie und atmeten Kraft. Er zwinkerte innerlich und konnte den Wald beinahe sehen.

»Hattest du Schmerzen?« Annabellas Augen glänzten feucht, doch an ihren zusammengebissenen Zähnen erkannte er, dass sie wütend war, weil er ihr das hier zumutete.

Custo unterdrückte ein unglückliches Lachen. Schmerzen? »Nein«, log er, »es ging ganz schnell.«

Er konnte ihr nicht erzählen, wie er sich eingenässt hatte.

Er schluckte, seine Kehle fühlte sich trocken an. Dann sagte er: »Ich frage mich, wieso Adam nichts aus der Bude gemacht hat.«

»Ich kann es mir vorstellen«, erwiderte sie tonlos. Sie wich einen Schritt in Richtung Flur zurück, weg vom Tod. Gereizt fügte sie hinzu: »Ich kann keine Gedanken lesen, aber falls du mit dem Gedanken spielst, heute Nacht hierzubleiben, überlege es dir noch einmal. Das ist schlimmer, als zurück in meine Wohnung zu gehen.«

Custo verfluchte sich, er war ein Esel. Er sollte sie hier wegbringen.

Sie wischte sich ein paar Tränen von den Wangen, ihr Kinn bebte. Mit kerzengeradem Rücken machte sie auf dem Absatz kehrt und schritt stolz aus dem Raum.

Noch einmal ließ er den Blick durch das Zimmer gleiten, konnte aber das Rauschen der Schattenbäume nicht hören. Der Raum lag grau und leer. Nur ein Gespenst war übrig er.

Es jagte ihm einen Angstschauder über die Haut, dass Annabella nicht bei ihm war. Das Loft hing voller Schatten. Er hatte sie so verärgert, dass sie sich womöglich zu weit von ihm entfernte.

Wieso zum Teufel hatte er sie mit seiner Vergangenheit gequält?

Er fand sie am Fahrstuhl, wo sie mit den Fingerspitzen über ein Einschussloch strich. Es war besser, dass sie dachte, er sei an einem Schuss gestorben.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Wir können jetzt gehen. Wir hätten nicht herkommen sollen.«

Sie schwieg und würdigte ihn keines Blickes. Vielleicht dachte sie, er wäre wieder in ihrem Kopf und stehle ihre Gedanken. Ein nicht ganz abwegiger Verdacht; schließlich hatte er in seinem Leben so einiges gestohlen. Seine Familie hatte kein Geld wie Adams, und doch hatte er dieselben Schulen besucht. Grundbedürfnisse mussten genauso befriedigt werden wie das eine oder andere Extra. Ein paar seltsame Aufträge hier und dort brachten nie auch nur annähernd genug ein. Von Adam wollte er keinen Cent annehmen.

Er war ein Dieb, aber er würde sie nicht wieder bestehlen. Von jetzt an gehörten ihre Gedanken ihr.

Sie drückte den Knopf des Fahrstuhls, und die Türen glitten auseinander. Angespannte Stille begleitete sie zurück auf den nächtlichen Bürgersteig. Er versuchte nicht, sie anzufassen, blieb aber dicht neben ihr und war wachsam. Alles, was sich bewegte, bedeutete eine potenzielle Gefahr.

Das Taxi war weg, aber ein schwarzer Geländewagen aus Segue erwartete sie.

Vermutlich hatte der durch einen Code gesicherte Eingang einen Einbruch bei Segue gemeldet. Gerade bei diesem Gebäude löste das eine erhöhte Alarmbereitschaft aus. Er verfluchte Adam, weil der wusste, wo er sich befand und alles so leicht machte, indem er einfach einen Wagen schickte, wenn Custo ihn benötigte.

Verdammt, er brauchte eine Nacht ohne Segue und ohne Adam, und zwar sofort.

Custo öffnete die Beifahrertür für Annabella, die einstieg, jedoch weiterhin eisern schwieg. Der Fahrer sah ihn fragend an. »Aussteigen«, befahl Custo.

»Wie bitte?«

»Aussteigen«, wiederholte Custo.

Der Fahrer gehorchte, während Custo um den Wagen herum ging. Matt Becket war ein Sicherheitsbeamter aus alten Tagen, als es noch keine Soldaten gegeben und Segue noch nicht mit der Regierung zusammengearbeitet hatte. Er hatte es wirklich nicht verdient, mitten in der Stadt zu stranden, aber das ging vielen so. »Sag Adam, dass ich dir die Nacht freigegeben habe.«

»Aber «

Custo setzte sich auf den Fahrersitz, schlug die Tür zu und sperrte den Rest der Frage aus. Der Fahrer stand immer noch auf der Straße, als Custo sich in den Verkehr einfädelte. Annabella war schlechter Stimmung, er ebenso und Matt nun vermutlich auch.

Annabella machte auf perfekte Eisprinzessin, als er in die Houston einbog und Richtung Thompson fuhr. Zu Alley Jack Bar und Club. Custo blickte auf die Uhr auf dem Armaturenbrett, 22.43 Uhr. Wenn die Geister dem Clubbesitzer Jack Stampos nicht die Seele ausgesaugt hatten, begann in siebzehn Minuten die offene Bühne, die jeden Dienstag stattfand.

Adam und Segue waren Custos Zuhause gewesen, Alley Jack seine Kirche, die er je nach Laune einmal wöchentlich besucht hatte. Das letzte Jahr, bevor Spencer ihm den Garaus gemacht hatte, war er nur noch sporadisch hergekommen, aber ohne diesen Ort erschien ihm eine Reise durch das Leben und Schaffen des Mistkerls Custo Santovari einfach nicht vollständig. Mit etwas Glück hatte Jack sogar ein Zimmer für die Nacht.

Custo musste drei Blocks vom Club entfernt parken. Obwohl Annabella ihn immer noch mit Schweigen strafte, legte er beim Gehen einen Arm um sie, falls die herumlungernden großen Schatten auf dumme Ideen kamen. Der Geruch von Ingwer und asiatischen Gewürzen aus einem nahe gelegenen Chinaimbiss erinnerte ihn daran, wie hungrig er war und dass Annabella immer noch nichts gegessen hatte.

Im Licht der Straßenlaterne wirkte ihr Profil glatt und kühl wie Marmor. Er mochte ein Mädchen, das nach all dem Mist, den es durchgemacht hatte, immer noch eine vorwurfsvolle versteinerte Miene aufsetzte. Diese Standhaftigkeit verlangte starke Nerven und Hingabe, beides hatte sie jahrelang beim Ballett trainiert. Schlecht für ihn, gut für sie.

Sie erreichten die schmalen Betonstufen zu Alley Jack. Sie waren sehr steil, zum Ein- und Ausladen der Geräte, und für hohe Absätze vermutlich ziemlich ungeeignet. Er musste sie wohl noch etwas stärker stützen. Gut für ihn, schlecht für sie.

»Da gehe ich nicht hinunter«, erklärte sie.

»Aber klar.« Custo gab ihr einen kleinen Stups. Die Straße war stark befahren und hell erleuchtet, aber er traute den unübersichtlichen Ecken an den Gebäuden nicht. Irgendwo in dieser Stadt lungerte ein Wolf herum, lag auf der Lauer und wartete.

Annabella meckerte den ganzen Weg nach unten und beschwerte sich, von einem miesen Unterschlupf zum nächsten geschleppt zu werden, nur um sich schließlich auf einer verdammten Treppe das Genick zu brechen. Als sie die Tür zum Club aufriss, übertönte ein Tenorsaxofon ihre Stimme.

»Hier ist es zu dunkel«, schrie sie und blieb im Eingang stehen.

Der Wolf versteckte sich im Schatten, sodass ihre Angst verständlich war, aber inzwischen konnte ihm auch Licht nichts mehr anhaben. Sie musste sich überwinden.

Halb schob, halb trug Custo sie in den vergleichsweise finsteren Club. Die Vibrationen der lauten Musik spürte er beinahe auf der Haut. »Wir bleiben nicht lange hier unten«, sagte er in ihr Ohr. »Hier können wir einmal allen entkommen.«

Er wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er links von sich die Bar ausmachte, an der ein paar Männer hockten. Andere saßen an kleinen Tischen, die sich in dem schiefen rechteckigen Raum dicht aneinanderdrängten. In den schmalen Lücken dazwischen standen diverse Instrumente herum. Der Raum endete an einer leicht erhöhten Bühne, auf der ein Trio spielte Schlagzeug, Kontrabass und Saxofon. Abgestandener Zigarettenrauch hing in dem Raum und hinterließ einen beißenden, bitteren Geschmack in seinem Mund. Er atmete die erbärmliche Luft ein und fühlte sich so wohl wie die ganze Zeit nicht, seit er mit dem nackten Hintern vor diesem verdammten Theater gelandet war.

Custo war seit zwei Jahren tot, aber Jack Stampos stand noch immer hinter dem Tresen. »Ich fasse es nicht!«

Custo zog Annabella mit sich zur Bar und schüttelte Jack die Hand. »Es ist lange her.«

Jack sah älter aus: An seinem Haaransatz hatten sich zwei tiefe Geheimratsecken gebildet. Die bescheidene Beleuchtung des Clubs betonte die tiefen Falten in dem Gesicht des Mannes.

»Das ist Annabella«, stellte Custo sie vor, zerrte sie neben sich, und, um sie noch mehr zu ärgern, fügte er hinzu, »meine Liebste.«

Sie gab ein wütendes, aber niedliches Grunzen von sich und sagte so laut, dass Jack es hören konnte: »Wohl kaum.«

»Es freut mich jedenfalls, Sie kennenzulernen«, antwortete Jack. Er bedachte Custo mit einem Blick, der so viel sagte wie Na, mit der wirst du es aber nicht leicht haben. Dazu brauchte Custo nicht erst seine Gedanken zu lesen.

Für heute Abend hatte er jedenfalls genug vom Gedankenlesen. Der Preis war zu hoch.

Custo beugte sich über die Bar und fragte bedeutungsvoll: »Gibt es oben eigentlich noch dieses Zimmer?«

Annabella erstarrte und rammte ihm einen ihrer spitzen Ellbogen in den Bauch.

Jack lachte. »Ja, das gibt es noch, aber das kostet.«

Das war zwar neu, aber Custo hatte nichts dagegen. Er griff nach seiner Brieftasche. »Wie viel?«

»Steck dein verdammtes Geld weg«, erwiderte Jack. Er schenkte ein Getränk ein, trat einen Schritt zurück, ging in die Knie und zog einen Gitarrenkasten unter der Bar hervor. »Wenn du spielst, bekommt ihr beide auch noch ein Abendessen.«

»Du machst wohl Witze«, sagte Annabella. »Mir ist ein Monster auf den Fersen. Außerdem bringen mich diese Absätze um. Ich will ins Bett.«

»Oh, wir gehen gleich ins Bett«, sagte Custo und nahm die Gitarre. Bei dem ›wir‹ erntete er erneut einen düsteren Blick. Doch alles war gut, was sie von dem Wolf ablenkte. »Auch noch Abendessen, ja?«

»Wenn ich mich richtig erinnere, hast du immer Hunger.«

Jack bezog sich auf die Tage, als Custo gerade die Schule beendet hatte. Adam bot ihm eine Stelle in der Firma seines Vaters an, die er aus Stolz jedoch abgelehnte. Ein weiteres Almosen hätte Custo mehr gekostet als irgendein Gehaltsscheck je hätte decken können. Es war an der Zeit gewesen, etwas aus sich zu machen, seinem Vater zu zeigen, was er so viele Jahre zuvor einfach weggeworfen hatte.

Damals lebte er ein paar Monate von der Hand in den Mund, bis Adam ihn anrief und verzweifelt um Hilfe bat. Jacob, Adams älterer Bruder, war verrückt geworden, hatte sich in einen Geist verwandelt und Adams perfekte Familie umgebracht. Der Rest war die Geschichte von Segue.

»Ich bin müde, Custo«, sagte Annabella.

Ganz bestimmt war sie das, aber sie würde leben. Und wenn der Wolf sich entschloss sie anzugreifen, eignete sich dieser Ort genauso gut wie jeder andere, um ihm klarzumachen, dass Custo Annabella nicht hergeben würde.

Sie setzten sich an einen Tisch in der Nähe der Bühne. Die hinteren Tische waren überwiegend mit Musikern besetzt, die auf Annabellas Kleid starrten oder je nach Blickwinkel dorthin, wo sich keines mehr befand. Neben der behelfsmäßigen Bühne war es jedenfalls heller, was Annabella etwas beruhigen durfte. Sie ließ sich auf einem Stuhl nieder. Vor ihr stand ein Glas Wein, noch ein Geschenk von Jack.

Custo öffnete die Schnallen an dem Gitarrenkasten, während der Kerl am Saxofon sein Stück beendete. Beim Öffnen des Deckels schwappte der angenehme Duft von Holz in die abgestandene Luft des Clubs. In dem Kasten lag eine wunderschöne Jazzgitarre mit gewölbter Decke, eine Benedetto. Sie war am Hals mit Intarsien aus Abalonen verziert und bestand ansonsten wahrscheinlich aus Walnuss und Ahorn. Er hob das glänzende Instrument auf sein Knie. Jack musste sie kürzlich für sicher nicht wenig Geld erworben haben. Es bedeutete eine Ehre, darauf spielen zu dürfen.

Jack betrat die Bühne, während der Kerl am Saxofon spärlichen Applaus entgegennahm. »Es gibt eine kleine Programmänderung. Ihr werdet ganz sicher nichts dagegen haben, wenn ihr ihn hört. Custo? Bist du bereit?«

Custo stieg auf die Bühne und zwang sich, nicht zu Annabella zu sehen, obwohl er sie spürte, sie immer spürte, weil seine Haut glühte. Jetzt brannte sie noch etwas mehr.

Der Bassist, ein alter Kerl, hielt den Hals seines Kontrabasses, die Knöchel seiner Hand waren gedehnt. Der blutjunge Schlagzeuger trug schwarze Knöpfe in den Ohrläppchen. Ein Gitarrenkabel schlängelte sich vom Verstärker zur Mitte der Bühne und war um ein Stuhlbein gewickelt. Custo hob den Stuhl und platzierte ihn vorn am Rand der Bühne. Er stellte den Verstärker aus, damit es keine unangenehmen Geräusche gab, während er das Kabel einstöpselte, schaltete den Verstärker dann wieder an und war bereit.

Er setzte sich auf den Stuhl, ließ den Blick über das Publikum gleiten und blieb bei der wütenden Annabella hängen. »Das ist für dich«, sagte er.

Als Custo das Plektrum nahm, klammerte Annabella sich an ihren Sitz. Sie spannte sich innerlich an, um die in ihr tobenden Gefühle zu sortieren und unter Kontrolle zu halten. Die schlechte Luft in diesem Loch von einem Jazzclub verursachte ihr Übelkeit. Sie wollte hier weg, hatte aber keine andere Wahl, als zu bleiben.

Sie forderten das Schicksal heraus, indem sie sie wie einen Köder in die Schatten hielten. Der Wolf konnte, würde jetzt jeden Augenblick auftauchen. Wieso griff er nicht wieder an? Sie war ungeschützt.

Ein Schluck Wein brannte in ihrer Kehle. Sie hatte genug von Custo Santovari. Genug. Wenn er sich in ihrer Nähe befand, konnte sie weder klar denken noch fühlen. Engel? Teufel? Sie wusste es selbst nicht mehr.

Natürlich hatte er ein deprimierendes Stück ausgewählt, die Melodie eine von diesen bluesartigen Klagegesängen in Moll. Sie hatte sich nie viel aus Free Jazz gemacht. Das musste anerzogen sein. Die leisen Schläge des Schlagzeugs zählten die letzten Minuten am Ende eines Lebens. Das Du-do-du-do des Basses klang wie ein Herz, kurz bevor es den letzten Schlag tat. Und dieses Stück hatte Custo ihr gewidmet. Na, vielen Dank.

Sie verschränkte die Hände unter den Schenkeln, damit sie aufhörte zu zittern.

Nicht, dass er irgendetwas für die ganze Wolfsgeschichte konnte. Aber dennoch Erst zwang er sie, zu diesem albernen Empfang zu gehen, und dann kniff er. Heuchler. Sie brauchte niemanden, der in ihrem Kopf herumfuhrwerkte und ihre intimsten Gedanken auseinandernahm. Sie konnte nicht einfach aufhören zu denken, damit er nicht mehr an sie herankam. Oh Gott, was hatte er für fürchterliche Sachen über sie erfahren. Sie war kein Engel.

Und dann hatte er sie auch noch zu diesem schrecklichen Loft geschleppt.

Wozu sollte das gut sein? Wieso zeigte er ihr die Löcher der Kugeln, die seinen Körper durchbohrt hatten? Und wieso berührten und verletzten sie diese Spuren der Gewalt so sehr? Weil sie sich innerlich aufgerieben fühlte. Sie würde jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Sie weinte um jemanden, der bereits tot war.

Um jemanden, den sie nicht haben konnte.

Er spielte eine traurige Melodie auf der Gitarre, ein Stück über Herzschmerz, gegen das sie wehrlos war.

Wie konnte er es wagen, sie so zu schikanieren? Sie durchbohrte ihn mit ihrem Blick. Wie kannst du mir das antun?

Keine Antwort. Nicht einmal ein Augenzucken, während er mit einer Hand die Saiten zupfte und mit der anderen die Bunde bediente.

Custo! Bring mich hier weg!

Seit seinem Geständnis im Loft hatte sie ihn im Geiste angeschrien. Sie hatte keine Ahnung, wieso sie in diesem Jazzclub waren. Wegen irgendeines Zimmers für die Nacht. Wenn sie nicht zurück nach Segue fahren konnten, würde sie lieber ihre Kreditkarte für ein verlässliches großes Doppelbett und ein Bad in einem Hotelzimmer opfern. Irgendetwas Normales.

Ich bin müde. Ich will gehen.

Nichts. Nur ein Aufheulen, als er eine Saite mit einem hohen Bund spielte. Die Gitarre verkörperte eine Stimme, die in dem Club um Aufmerksamkeit bat, die letzte Note sagte weinend Bitte!

Sie musste nicht zuhören. Also wandte sie den Blick ab und biss die Zähne so fest zusammen, dass ihr Kiefer schmerzte.

Das Stück verfolgte sie, aus der Melodie entwickelte sich ein Solo. Die leisen, vorwurfsvollen Töne steigerten sich zu einer wütenden Anklage voller Schmerz.

Da begriff sie, dass Custo mit seinem Vater sprach.

All die Dinge, die er nicht aussprechen konnte, drückte er mit einem Medium aus, mit dem er wie sie mit ihrem Tanz intuitiv und direkt kommunizieren konnte. Die Musik war eine Fremdsprache, aber sie war sprachbegabt und verstand.

Mit jeder Saite, die Custo zum Klingen brachte, strömte seine Geschichte aus ihm heraus, die Details drückten sich in Noten aus, die Gefühle ergaben ein Klangbild. Aggression herrschte vor, doch die Gefühlstiefe entstand durch den Schmerz. Der Refrain erstarb, und das Stück löste sich in zwei Melodien auf, die miteinander sprachen eine gleichmäßig, männlich, vorhersehbar, Adam; die andere, sein Bruder, bestand aus reiner Improvisation und endete in einer katastrophalen Explosion aus Tönen, dem Tod.

Sie wusste, was aus Custo geworden wäre, wenn der Geisterkrieg nicht dazwischengekommen wäre. Seine Musik war absolut aufrichtig und er ganz offensichtlich ein Meister dieses Instruments. Wenn er spielte, konnte sie ihn deutlich erkennen. Er gab alle Geheimnisse preis. Das war seine Wahrheit.

Annabella klopfte das Herz bis zum Hals, als sie versuchte, die Dunkelheit des Clubs daran zu hindern, sich in die Zwielichtlande zu verwandeln, denn die Melodie des Stückes hallte in ihrer Seele wider. Magie flackerte am Rand ihres Gesichtsfeldes auf, aber sie konzentrierte sich auf Custos gesenkten Kopf. Sie blieb in dem Club und atmete Rauch anstelle der berauschenden Luft des Schattenreiches ein.

Custo ließ sein Spiel langsam ausklingen und ermunterte die anderen mit einer Bewegung seines Kopfes ebenfalls zu Solopartien. Der alte Mann spielte, als würde er Custos Geschichte kennen, der Bass hörte sich an wie ein schneller Herzschlag. Das sich anschließende Schlagzeugsolo klang mit seinem Schnappen und Trommeln nach einer Flucht vor der Gefahr.

Als Custo wieder mit einfiel, spielte er höhere trällernde Töne, etwas unheimlich und durchzogen von der dominanten Melodie von Giselle. Annabella errötete, als sie begriff, dass er sie in die Geschichte wob. Mit seiner Improvisation spann er die beiden Melodien zu einer Komposition zusammen: berauschend, schmerzhaft, voller vergeblicher Hoffnung. Ein Liebeslied.

Sie kannte ihn erst seit zwei Tagen und die waren die Hölle auf Erden gewesen. Er war ein Engel, das war deutlich zu hoch für sie.

Aber was sollte sie anderes tun, als seine Liebe zu erwidern, wenn er mit seiner Seele den verrauchten Club erfüllte?