15
Als Annabella den Empfang betrat, wurde sie erneut mit Applaus begrüßt. Sie lächelte und bedankte sich, neigte diesmal jedoch nur leicht den Kopf. Sie hatte genug vom Verbeugen. Es wurde deutlich überschätzt.
Der Empfang fand in einem extravaganten Penthouse eines Ballettförderers an der Upper East Side statt. Ein Champagnerempfang zum Auftakt der Saison. Die Gastgeber stellten einen Reichtum zur Schau, von dem Annabellas Familie nicht zu träumen gewagt hätte. Im Eingangsbereich, der um ein Vielfaches größer war als Annabellas Wohnung, hing ein riesiger bunter Kronleuchter mit mundgeblasenen Tautropfen.
Auch dies war der Übergang in eine andere Welt.
Custos Hand ruhte warm auf dem unteren Teil ihres Rückens, als sei er ihr Begleiter. Aber sie würde einen Teufel tun und sich bestimmt nicht an ihn lehnen, nur, um sich wieder eine Bemerkung über ihre fehlende Courage anzuhören. Ein albtraumhafter Schatten war heute über sie hinweggeglitten; der Mann hätte sich etwas sensibler zeigen können.
Annabellas Zutrauen, Segue oder Custo seien in der Lage, sie von dem Wolf zu befreien, schwand rapide. Noch schlimmer wäre es, wenn er sie in Besitz nahm, so wie er es mit Abigail getan hatte. Unvorstellbar viel schlimmer.
Oder besser? Auf eine verwirrende Weise sehnte sie sich nach dem, was Wolf – verdammt der Wolf – ihr anbot. Sie sehnte sich so sehr danach, dass sie sich kaum traute, es sich selbst einzugestehen, ganz zu schweigen Custo.
Sie ließ den Blick über die Gesellschaft gleiten. Irgendwo in diesen atemberaubend schönen Räumlichkeiten lauerte der Wolf und arbeitete daran, ihr Leben so zu ruinieren, dass sie es nicht mehr wollte. Sollte sie sich aus Angst vor dem Wolf (und vor sich selbst) unter der Decke verkriechen oder ihr Leben in die Hand nehmen?
Verdammt, Custo hatte recht. Sie hatte zu hart daran gearbeitet, es hierher zu schaffen, diesen Begrüßungsapplaus zu erhalten.
Okay, zurück auf Anfang.
Kopf hoch, ermahnte sie sich. Das zählte zu den häufigsten Anweisungen in einer Ballettklasse, zumindest bei den kleinen, ganz jungen Tänzern. Schultern zurück, lautete eine andere. Bauch einziehen.
Eine Stunde, hatte Custo versprochen. So lange konnte sie etwas Haltung zeigen. Ach, sie schaffte auch locker zwei. Haltung war schließlich ihre Spezialität.
Eine illustre Gruppe hielt sie mit Glückwünschen und überschwänglichen Komplimenten auf. »Zauberhaft!«, »Überirdisch!«, »Fantastisch!« Die Ausrufe kamen der Wahrheit so nahe, dass sie sich nicht richtig darüber freuen konnte. Aber Schauspielern gehörte ebenfalls zu ihrem Beruf, also lächelte sie und errötete und dankte den Gönnern des Balletts für ihre freundlichen Worte.
Sie küsste Jasper auf beide Wangen, der sie umarmte und ein Foto von ihr und Venroy schoss, der wiederum enttäuscht war, dass sie heute Morgen nicht am Training teilgenommen hatte.
Unnötigerweise lenkte sie Custo durch die Gruppen und in ein Besprechungszimmer an der Seite. Ein riesiger, wundervoller Tisch stellte das einzige Möbelstück im Raum dar.
»Trink etwas.« Custo schob ihr ein Glas Wein in die Hand. »Dieser Empfang findet zu deinen Ehren statt. Du darfst ihn genießen.«
Annabella runzelte die Stirn, als ihr das fruchtige Aroma in die Nase stieg. Auf leeren Magen war das vielleicht keine so gute Idee. »Ich genieße es.«
»Anna!«, schrie eine vertraute weibliche Stimme über den Partylärm hinweg.
Annabella blickte über ihre Schulter. Katrina winkte sie heran. Sie stand mit ein paar Mädchen, die von den Partygästen kaum gewürdigt wurden, an der Seite.
Annabella löste sich von Custo, der jedoch ihre Hand griff, als ihn eine aufdringliche alte Schachtel mit unmöglichen Brüsten anflirtete.
»He«, sagte Annabella und zwang sich zu lächeln, »seid ihr schon beschwipst?«
»Du warst heute Morgen nicht beim Training. Alle haben dich vermisst.« Katrinas Augen strahlten, ihre Wagen waren gerötet. Ja, ein bisschen beschwipst.
Annabella öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Katrina fuhr fort, »Oh mein Gott! Erzähl. Ist da etwas zwischen dir und Jasper? Wir dachten, er wäre schwul!«
Die anderen Ballettmädchen zischten sie an, damit sie etwas leiser sprach, aber Katrina redete mit unverminderter Lautstärke weiter. »Und dann prügelt der sich deinetwegen mit diesem scharfen Kerl – wer war das eigentlich? – kaum, dass der Vorhang gefallen ist. Venroy ist soooo wütend, aber jemand hat gehört, wie er am Telefon ein Loblied auf dich gesungen hat. Ganz so wütend kann er also nicht sein, wenn du weißt, was ich meine. Was ist los?«
Schadensbegrenzung. Annabella gab sich besonders gelassen, um Katrina etwas zu beruhigen. »Soweit ich weiß, ist Jasper immer noch schwul. Er hatte nur etwas genommen, was ihn durcheinandergebracht hat. Irgendwelche komischen Kräuter, glaube ich. Jetzt ist er wieder okay.«
»Und der?« Katrina grinste dümmlich in Custos Rücken. Ein paar Mädchen kicherten in ihre Gläser.
»Ein Freund.«
»Ein guter Freund«, korrigierte Katrina.
Annabella zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was er ist.«
»Hör zu, wenn du ihn nicht willst …«
Custo nutzte die Gelegenheit, sich zu ihr umzudrehen und ihr ins Ohr zu flüstern: »Wenn du hier fertig bist, solltest du ein bisschen mit den Gönnern plaudern, ansonsten sind wir die ganze Nacht hier, Freundin.«
»Ich bin fertig«, erwiderte Annabella, aber nicht weil er das gesagt hatte. Sie liebte Tratsch; sie war nur nicht gern diejenige, über die man tratschte. Wenn sie ihnen von dem Wolf erzählte, würden sie die Männer im weißen Kittel holen und sie einsperren lassen.
Aber das war ihr in Segue ja schon passiert.
Sie und Custo betraten eine Art Empfangsraum hinter der Halle. Immer noch kein Wolf, aber jede Menge düsterer Schatten. In dem Raum standen nur wenige Möbel, damit genug Platz für die Gäste blieb. Es gab lediglich einen Abstelltisch an der Rückwand und ein paar gepflegte Polstersessel. An den Wänden hingen Familienporträts, deren Gesichter von Lichtspots angestrahlt wurden.
»Bravo!«, rief eine Frau, als sie eintraten. Ein kleiner Kreis öffnete sich, um Annabella und Custo in sich aufzunehmen.
»Haben Sie vielen Dank, aber das Lob gebührt wirklich dem gesamten Ensemble.« Annabella verstummte, als Custo seinen Arm um ihre Taille legte und sie dicht an sich zog. Sie spürte, dass sein Herz hämmerte.
Oh, nein. Irgendetwas stimmte nicht. Schon wieder. Wo war er? Wo war der Wolf?
Ihr Puls ging schneller. Auf der Suche nach der Gefahr blickte sie über ihre Schulter zu Custo, aber der starrte einen Mann an, kein Monster.
Der Mann war älter, aber noch nicht alt. Groß und breitschultrig. Vielleicht in den Fünfzigern, Lachfalten gruben sich in die Haut um seine Augen. Seine dunklen Haare waren grau meliert, und er besaß dieselben ausgefallenen grünen Augen wie … Die Welt war klein.
»Ich dachte, du wärst tot«, sagte der Mann.
»Das bin ich«, antwortete Custo seinem Vater verdammt kühl. Wenn sie je so mit ihrer Mutter gesprochen hätte, hätte sie etwas erleben können.
»Ich war auf deiner Beerdigung«, setzte der Mann nach.
Die Gespräche und Glückwünsche in dem erlesenen Kreis verstummten.
»Das wäre nicht nötig gewesen.«
»War das ein Trick?«, fragte der Mann. »Steckst du wieder in Schwierigkeiten?«
Custo schien Ärger förmlich anzuziehen. Er war eigen, schwierig und manchmal ziemlich gemein. Die Vermutung des Mannes, dass Custo seinen Tod vielleicht nur inszeniert hatte, schien deshalb überzeugender als die Wahrheit.
Der Mann starrte Custo eine Weile an, tausend beunruhigende Gedanken sprachen aus seinen Augen, aber selbst ihr dämmerte augenblicklich, dass sie dieses Gespräch lieber an einem intimeren Ort fortsetzen sollten.
Als der Blick des Mannes zu ihr herabglitt, drückte Custo seinen Arm noch fester um ihre Taille. »Ich bin Evan Rotherford.«
Custo zog sie zurück, so dass sie die ausgestreckte Hand des Mannes nicht erreichen konnte. Annabella beugte sich jedoch nach vorn. Auf eine höfliche, altmodische Art berührte er ihre Fingerspitzen.
»Das war eine beeindruckende Vorstellung gestern Abend. Sie haben mich verzaubert«, sagte Mr. Rotherford. Er sprach mit der flachen Betonung eines Mannes aus Neu-England und klang nach Geld. »Ich bin immer ein großer Ballettliebhaber gewesen, aber ich war noch nie so gerührt.« Er blickte zu Custo. »Die Bewunderung für das Ballett muss in die …«
»Wir sind hier fertig«, verkündete Custo. Er zerrte sie mit sich fort und beendete das Gespräch zwischen seinem Vater und ihr.
Custo schleppte sie zum Ausgang des Raumes in Form eines Torbogens. Annabella passte sich seinem Schritt an und versuchte ihren gemeinsamen Abgang so natürlich wie möglich wirken zu lassen, was sich allerdings etwas schwierig gestaltete, da ihre Füße kaum den Boden berührten. Hatte sie dafür ein Leben lang Tanzunterricht gehabt? Sie bahnte sich einen Weg durch die Halle in den gegenüberliegenden Raum, der ähnlich geschnitten war. Hier standen jedoch ein paar Sofas, auf denen kleine alte Damen starke Getränke aus kleinen Gläsern genossen.
Annabella versuchte sich noch einmal umzudrehen, aber Custo drückte sie derart fest an sich, dass er ihr beinahe die Rippen brach.
Custos Vater hatte einen netten Eindruck auf sie gemacht. Er hatte von der verfluchten Vorstellung geschwärmt, was für seinen Geschmack sprach. Was immer zwischen ihm und seinem Sohn vorgefallen war, so schlimm konnte es nicht gewesen sein. Er war wirklich schockiert von Custos Auftauchen gewesen, nicht aber von Custos rüdem Verhalten. Offenbar war er schon daran gewöhnt. Mussten Engel nicht versöhnlich sein?
»Ich will nicht darüber reden«, sagte Custo und erstickte von vornherein jede Diskussion.
»Aber du bist sein Sohn.«
»Ich bin sein Bastard«, zischte Custo. »Das Wort hat er mir beigebracht. Als ich vier war. Als er meine Mutter entlassen und uns aus dem Haus geworfen hat.«
Annabella ignorierte Custos festen Griff und drehte den Kopf in dem Bemühen, noch einen Blick auf den Mann zu erhaschen. Sie musste ihn falsch eingeschätzt haben. Jemand, der so gut und so charmant aussah, konnte doch nicht so grausam sein.
Evan folgte ihnen quer durch die Halle.
»Drehe deine Runden, damit wir hier wegkönnen«, sagte Custo.
Sie konnte wohl kaum mit irgendjemandem sprechen, solange er sie derart an sich presste. Und außerdem schienen die alten Damen mehr an Custo als an ihr interessiert zu sein.
»Hör mich an«, bat Evan, als er sie eingeholt hatte. »Das ist alles, um was ich dich bitte.«
Custo achtete nicht auf ihn und knurrte in ihr Ohr: »Mit wem musst du noch sprechen?«
»Ich sollte wahrscheinlich noch einmal mit Herrn Venroy reden …« Annabellas Antwort verhallte. Sie glaubte nicht, dass Custo ihr noch zuhörte. Oder nach dem großen bösen Wolf Ausschau hielt. Custo starrte mit harter Miene auf eine leere Wand.
»Ich muss mir das nicht anhören«, sagte Custo. Er zerrte sie weiter und ließ seinen Vater mit offenem Mund und entschuldigender Geste stehen.
Was immer Evan in der Vergangenheit getan hatte, es tat ihm offensichtlich sehr leid.
Custo akzeptierte das nicht. Er pflügte durch die Menge zur Tür und zog sie hinter sich her.
Custo hatte gesagt, dass sie für eine Stunde auf den Empfang gehen müsse. Sie hatte sich geschworen, es auf zwei zu bringen. Und jetzt verließen sie die Veranstaltung kaum zwanzig Minuten, nachdem sie gekommen waren, weil Custo von dort floh. Die Ironie war überwältigend, aber angesichts des gegenwärtigen Dramas traute sie sich nicht, das laut auszusprechen. Aber später. Ganz bestimmt.
Als Custo im Fahrstuhl den Fahrer nicht anrufen konnte, weil er kein Netz bekam, biss Annabella sich auf die Lippen. In der Lobby erreichte er schließlich jemand, fluchte und schleifte sie mit sich aus dem Gebäude an den Straßenrand, um ein Taxi anzuhalten. »Es ist mir egal, dass du gedacht hast, wir würden länger bleiben«, zischte er in sein Telefon. »Ich hätte dich jetzt hier gebraucht. Du darfst deinen Posten keinen Moment verlassen.«
Zahlreiche Taxen fuhren die Straße herunter, aber keins hielt auf Custos Winken hin.
Hinter ihnen öffnete sich die Tür des Gebäudes. Custos Vater kam heraus. Hartnäckigkeit lag offenbar in der Familie.
»Ich hatte unrecht«, erklärte Evan. »Auch damals wusste ich, dass ich unrecht hatte.« Aus seinen Worten sprach die Last von Jahrzehnten, einen so großen Schmerz hinterließ nur ein großer Verlust.
Custo wandte das Gesicht ab und hielt weiterhin den Arm nach oben. »Das ist mir egal. Lass mich in Ruhe.«
»Nein. Ich habe dich viel zu lange in Ruhe gelassen, und du bist gestorben.« Das letzte Wort riss ein Loch in ihr Herz. »Oder zumindest dachte ich das. Wenn ich dich jetzt gehen lasse, werde ich dich nie mehr wiedersehen. Das weiß ich.«
»Diese Entscheidung hast du bereits vor langer Zeit getroffen.«
Endlich erbarmte sich ein Taxi. Custo riss die Tür auf, bevor der Wagen überhaupt richtig gehalten hatte.
Er stieß sie heftig in den Sitz, obwohl sie durchaus wusste, dass sie schnell einsteigen sollte. Es roch schwach nach Urin und Zigarettenrauch. Sie rutschte durch, um Custo Platz zu machen, und lehnte sich zu ihm herüber, als er nicht gleich einstieg.
»Lass sie ja in Ruhe«, sagte Custo.
»Unsere Familie hat das Ballett seit seiner Gründung gefördert. Ich werde jetzt nicht damit aufhören. Damit musst du dich abfinden. Mit mir.«
»Lass mich los«, knurrte Custo auf eine Art, die sie zusammenzucken ließ. Er riss sich los, landete abrupt im Taxi und schlug die Tür zu.
Durch das Fenster war nur Evans dunkler Anzug zu sehen.
»Fahren Sie!«, schrie Custo dem Fahrer zu, der erst warten musste, bis er eine Lücke im fließenden Verkehr fand.
Annabella war froh, dass Evan sich zurückhielt. In den zwei Tagen, die sie Custo kannte, hatte sie ihn geschlagen, verzweifelt und wütend erlebt, aber nicht … aufgelöst. Beinahe verrückt. Wie war es möglich, dass dieser starke Mann sich allen möglichen Monstern stellte, aber nicht dem eigenen Vater?
Der Wagen scherte unter Hupen aus und fädelte sich in den Strom ein, der sich auf die Ampel zubewegte.
»Wohin?«, fragte der Fahrer.
Custo antwortete nicht, sondern starrte abwesend auf den Türgriff. Seine Schultern und seine Brust hoben und senkten sich, während er tief und unregelmäßig atmete. Seine Haut, die normalerweise einen hellen Goldton hatte, war gerötet.
Annabella schob sich vor. »Mhh …« Sie hatte keine Ahnung, wo Segue lag, und ihre Wohnung kam eindeutig nicht infrage. Dorthin wollte sie nie mehr zurückkehren. Der Wolf würde sie irgendwann überall finden, wieso also nicht …
»Zu einem Hotel«, sagte sie. Das verschaffte Custo etwas Raum, um durchzuatmen und sich zu fassen.
»Welches?«, fragte der Taxifahrer finster.
Auf ihrer Kreditkarte befanden sich noch 300 Dollar. Auf ihrem Bankkonto die Hälfte davon. »Etwas Günstiges, aber in der Nähe.«
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Custo sich nach vorn beugte. »Vergessen Sie das. 13. Straße Ost und Broadway.«
»Wohin fahren wir?«, wagte Annabella zu fragen und setzte sich zurück.
»Nirgendwohin«, antwortete Custo. »Tut mir leid mit dem Empfang.« Seine Stimme klang milde, aber er mied ihren Blick.
»Ich wollte sowieso nicht hingehen.« Es war nicht der richtige Moment, um wegen der Länge ihres Aufenthalts zu sticheln. Sie musste ihn zurück in die Gegenwart holen, damit er auf den Kampf mit einem Wesen aus den Schatten vorbereitet war. Wenn der Wolf auf einen schwachen Moment wartete, dann hatte er ihn jetzt gefunden. Annabella blickte sich nervös um.
Custo schüttelte den Kopf. »Du hättest dort sein sollen.«
»Nun, ich gebe mich gern rätselhaft. Ich glaube nicht, dass mein Ruf dadurch leidet; die anderen Tänzerinnen halten mich sowieso für eine Diva.«
Ironisch blickte er sie von der Seite an. »Diva?«
»Ich gehe sehr in meinem Beruf auf. Vielleicht zu sehr.«
»Das habe ich gemerkt«, sagte er. »Etwas mehr Ausgleich könnte nicht schaden.«
Für den Augenblick ließ Annabella zu, dass er das Thema wechselte. »Dann funktioniert es nicht.«
»Das kann ich mir vorstellen«, entgegnete er, dann schwieg er wieder.
Sie kaute auf ihrer Lippe und fragte sich, wie sie ihm helfen konnte. Die vorüberhuschenden Straßenlaternen entwickelten ein stroboskopartiges Licht und blendeten sie. »Ich will mich ja nicht einmischen, aber …« Sie holte tief Luft. »Ich habe den Eindruck, dass du ein paar Familiengeschichten regeln solltest.«
Custo wirkte gequält. »Lass das. Ich bekomme ihn nicht aus meinem Kopf. Mehr kann ich nicht aushalten.«
Annabella dachte nach. Nein, es war zu wichtig. Das wusste sie aus eigener Erfahrung. »Es ist nur … Er ist dein Vater. Meiner hat uns vor sehr langer Zeit verlassen, aber ich würde alles darum geben, mich mit ihm auf einen Kaffee zu treffen. Ich träume davon, seit ich klein war.«
Abwehrend schüttelte er den Kopf. »Während meiner Jugend habe ich ziemlich viel Zeit damit vergeudet, mir eine glückliche Zukunft mit meinem Vater auszumalen. Ein Leben, wie Adam es mit seiner Familie hatte.«
»Sieht aus, als bekämst du noch eine Chance.«
»Ich will sie nicht.« Seine Stimme klang rau. »Und ich will auch nicht, dass er sich in dein Leben einmischt.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kenne ihn überhaupt nicht.«
Custo beugte sich zu ihr. »Er wird alles über dich herausfinden. Er wird dem Ensemble mehr Geld geben und seinen gesamten Einfluss geltend machen, um an deinem Leben teilzuhaben. Er wird versuchen, mit dir zu sprechen, um an mich heranzukommen.« Custo schluckte heftig. »Versprich mir, dass du nichts mit ihm zu tun haben wirst.«
»Wieso sollte ich?« Obwohl sie dem Ensemble schlecht sagen konnte, sie sollten das Geld zurückgeben.
»Versprich mir, dass du auflegst, wenn er dich morgen anruft.«
Custo versuchte, sie vor dem Schattenwolf zu retten. Ihre Einstellung war klar. »Gut. Wenn er versucht, mit mir in Kontakt zu treten, lege ich auf.«
Es war zu schade um die Beziehung zu seinem Vater. Nicht jeder hatte das Glück, eine Chance zur Versöhnung zu erhalten – und er warf sie einfach weg. Sie würde alles geben, wenn sie nur fünf Minuten bekam, um ihr Verhältnis zu ihrem Vater zu verstehen. Nur verdammte fünf Minuten, aber …
»Das wird er«, behauptete Custo. »Er konnte an nichts anderes denken, als er dich gesehen hat.«
»Ich bin ziemlich sicher, dass er an dich gedacht hat.«
Custo presste die Handballen auf die Augen. »Nein. Er denkt darüber nach, wie er über dich an mich herankommt. Endlich kann er seine Verbindungen nutzen. Ich bekomme ihn nicht aus meinem Kopf. Mein ganzes Leben ist er nicht da, und jetzt gräbt er sich in meinen Kopf. Er hat bereits eine Liste von Leuten erstellt, die er morgen früh anrufen wird. Er will gleich mit deinem Direktor, Herrn Venroy, sprechen.«
Ein Schauder überlief Annabellas Körper. Custo sagte dauernd solche Sachen. Sie hatte bislang nicht wirklich darüber nachgedacht, aber jetzt … »Was meinst du damit? Er geht nicht aus deinem Kopf?«
»Ich meine, dass ich meinen alten Herrn in meinem Kopf höre.« Er packte seinen Schädel. Die Muskeln an seinem Kiefer traten hervor, er biss die Zähne zusammen.
Annabella sah kurz zu dem Taxifahrer und bemerkte, dass er den Blick vom Rückspiegel wieder auf die Straße richtete. Ja, pass bloß auf, wo du hinfährst.
Sie rückte näher an Custo heran. »Du meinst, du kannst hören, was er denkt? Du kannst Gedanken lesen?«
»Einige besser als andere.«
Annabella war ziemlich sicher, dass sie zu »einigen« gehörte. Er hatte zu viel gesagt und getan, um ein bloßer Beobachter zu sein. Verdammt – sie hatte ihn praktisch gebeten, sie zu berühren, seit sie sich das erste Mal begegnet waren. Hatte sich vorgestellt, dass er sie überall anfasste. Kein Wunder, dass sie das Vorspiel quasi ausgelassen und gleich zur Sache gekommen waren. Einfaches Flirten war so gut wie unmöglich gewesen, nachdem sie nur an das eine denken konnte …
Ihr Blick zuckte zu seinem Gesicht, ihr wurde abwechselnd heiß und kalt vor Scham.
»Du musst dich für nichts schämen«, sagte er mit rauer, angespannter Stimme. »Ich habe dich genauso begehrt. Das habe ich dir heute Morgen gezeigt.«
Wusste er von der krankhaften Anziehung, die sie für den Wolf empfand? Von der Schattenmagie?
Custo blickte aus dem Fenster.
Das Brennen in ihrem Gesicht verstärkte sich. Das war nicht okay für sie.
Sie rutschte zurück an die Tür und brachte so viel Abstand zwischen sich und ihn wie nur möglich. Wegen dieser ganzen Geschichte mit seinem Vater wollte sie nicht kühl sein, aber das war einfach nicht in Ordnung.
Mit dem Rest dieses Wahnsinns kam sie zurecht, zwar nicht gut, aber … Sie hatte einige gruselige Sachen gesehen und gehört und war weder schreiend davongelaufen, noch musste sie mit Medikamenten ruhiggestellt werden. Natürlich hatte sie von der Sache mit den Geistern gewusst. Sie tauchten ständig in den Nachrichten und im Internet auf. Sie hatte noch nie einen gesehen, doch durch die Spätnachrichten war sie in gewisser Weise darauf vorbereitet gewesen, dass es noch andere gruselige Wesen gab.
Aber trotzdem … Die Menschen hatten das Recht, selbst zu entscheiden, welche Gedanken sie mitteilen wollten.
Er hätte es ihr sagen müssen.
»Annabella, bitte …«
Sie schwieg. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wusste noch nicht einmal, ob das überhaupt nötig war, wenn er die Antworten ohnehin in ihrem Kopf lesen konnte.
»Ich kann nichts für das, was ich bin«, sagte er.
Ich auch nicht. Ich bin wütend.
Das Taxi hielt an, und der Fahrer nannte Custo den Preis.
Annabella öffnete die Wagentür, stieg aus und ließ Custo bezahlen. Sie holte tief Luft; es roch schwach nach Staub und Beton. Die imposanten Gebäude mit den altmodischen Verzierungen an den Fassaden waren gepflegt, die Straße halbwegs sauber. Rechts von ihr überragte ein silbergrauer Büroblock die restliche Nachbarschaft und zeigte vergleichsweise wenig Charakter.
Custo stieg aus, zahlte und trat auf dem Bürgersteig zu ihr. Er blickte am höchsten Gebäude nach oben. »Komm mit.«
Würde er sie aufhalten, wenn sie einfach in die andere Richtung lief?
Er ging zum Eingang und tippte eine Nummer in die Tastatur ein. Ein winziges Licht sprang von Rot auf Grün. Er zog die Tür auf, hinter der ein dunkles Rechteck wartete, und blickte zu ihr herüber. »Wenn du dann so weit wärst.«
Seinen Sarkasmus konnte er sich sparen. Was hatte sie schon für eine Wahl? Entweder blieb sie bei dem leidenden, in die Gedanken einbrechenden Engel, oder sie wurde von einem besessenen Wolf gefressen.
Ihre Absätze klapperten über den Bürgersteig auf die Tür zu und hallten von den angrenzenden Gebäuden wider. Sie trat nicht gleich ein. Was war das für ein Haus? Sie öffnete die Tür, beugte sich nach innen und sah sich um. Noch mehr Dunkelheit. »Ich kann nichts sehen.«
Custo griff um sie herum. Plötzlich umfing sie der sinnliche Moschusgeruch seines Körpers. Ein Licht ging an. »Die Bewegungsmelder waren ausgeschaltet.«
Der Eingang war neutral weiß, bis auf ein kleines Schild, auf dem NEBENGEBÄUDE stand. Kein Empfangstresen. Wer hier hereinkam, musste wissen, wo er hinwollte. Es gab zwei Möglichkeiten: eine schlichte Tür oder einen Aufzug mit, ach du liebe Güte, Einschusslöchern.
Das Gebäude musste ebenfalls zu Segue gehören.
Custo schloss die Außentür hinter sich und ging auf die Tastatur neben dem Fahrstuhl zu, in die er einen weiteren Code eingab. Ein sattes Klicken, und die Türen öffneten sich mit einem Zischen.
Noch mehr Schusslöcher. Dort ging sie nicht hinein. »Ich glaube, ich nehme die Treppe.«
Custo stieg ein. »Dreißig Treppen?«
Ein Muskel in Annabellas Nacken, der seit der Vorstellung gestern Abend muckte, entschloss sich genau in diesem Augenblick zu zwicken. Ihre Füße würden bei jedem Schritt protestieren, selbst wenn sie die hohen Schuhe auszog.
»Wir bleiben nicht hier. Ich muss nur schnell dort oben vorbei«, erklärte er. Seine raue Stimme trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. »Wenn ich könnte, würde ich dich hier unten lassen.«
Aber sie durfte nicht allein bleiben. Nur Custo konnte den Wolf in Schach halten, und der fuhr nach oben.
»Okay.« Sie hielt die Luft an und trat in den metallenen Kasten. Ihr blieb keine Wahl.
Während der Fahrstuhl nach oben fuhr, rutschte ihr Magen in die Kniekehlen. Als sie oben ankamen und die Türen sich zu einem riesigen Raum hin öffneten, brannten ihre Lungen. Sie taumelte nach draußen und atmete kalte abgestandene Luft ein.
Custo legte eine Hand auf ihre Schulter und stützte sie. »Vielleicht war das keine gute Idee. Ich habe nicht daran gedacht. Wir können wieder gehen.«
So schnell würde sie nicht erneut in diesen Aufzug steigen. »Nein. Mach nur, was du zu erledigen hast.«
Nachdem sie sich umgesehen hatte, wusste sie immer noch nicht, wieso sie hergekommen waren. Der Raum war leer, gruselig. Es gab keine Fenster. Der Holzfußboden mochte einmal schön gewesen sein. Zu ihrer Linken schien sich eine makellose Küche zu befinden. Eine von diesen modernen Loftwohnungen. Groß, elegant und Millionen wert. Es fehlten nur das natürliche Licht und der Ausblick.
»Wo sind wir?«, fragte sie.
»In Adams Loft. Sieht aus, als wäre er eine Weile nicht hier gewesen.« Custo blickte sich um. »Vor ein paar Jahren war es ziemlich hübsch. Offenbar hat er die Fenster abdecken lassen.«
Es gab also welche. Ohne Fenster war es hier zu ruhig, beängstigend. Es gab deutlich zu viele Schatten. Hoffentlich war es das wert. »Wieso sind wir hier?«
Custo trat in die Mitte des Raumes. Er räusperte sich und sagte mit erstickter Stimme. »Keine Ahnung. Ich wollte sehen …«
Annabella spürte seine wachsende Anspannung durch den Raum.
Custo lockerte die Schultern. »Nachdem ich ihn gesehen hatte …«
Annabella konnte seine Gedanken nicht lesen. Er musste schon sprechen, damit sie verstand, wovon er zum Teufel redete.
Mit gehetztem Ausdruck drehte er sich zu ihr um. »Ich musste an den Ort zurückkehren, an dem ich gestorben bin.«
Wolf rannte durch die dunkle Nacht. Wenn er sich streckte, verschmolz sein Körper mit den schattigen Flächen, bei jedem Absprung tauchte er wieder auf. Die Luft war kalt, aber verheißungsvoll. Er knurrte und trieb den Wind vor sich her zu seinem Opfer.
Wie menschlich, dass er der Frau seines Begehrens keine Falle stellte, sondern das genaue Gegenteil tat.
Etwas fing seine Aufmerksamkeit. Da!
Er schlich heran, blieb stehen und spähte durch die Dunkelheit zu seinem schwachen, ahnungslosen Opfer. In dem Gebäude brannte Licht, aber das konnte ihm nichts anhaben.
Er hob die Schnauze zum Himmel und jaulte.