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Custo unterdrückte ein Lächeln, als Annabella mehrfach »Wo seid ihr langen Dinger« vor sich hersummte, während sie ihr winziges Badezimmer auseinandernahm.
Lange Dinger? In Ordnung … aber er hielt sich zurück und sagte nicht, dass er für jeden noch so ungewöhnlichen sexuellen Fetisch von ihr offen wäre, und musterte stattdessen mit großem Interesse ihre Wohnung. Er wollte alles über sie erfahren.
In der kleinen Wohnung stand überall bunter Krimskrams. Hinter ihm befand sich die Küchenzeile mit einem aufgeräumten Spülbecken und einem kleinen Kühlschrank unterhalb der Arbeitsplatte. Auf der anderen Seite der Spüle drängten sich eine Kaffeemaschine und eine Herdplatte aneinander. An einer Wand stand ein ausgeklappter Futon, das Laken hatte sich um eine bunte Patchworkdecke gewickelt, die noch die Schlafstellung ihres Körpers erahnen ließ. Überall lagen knallrote, grüne und blaue Kissen herum, manche mit kitschigen Troddeln, und in einer Ecke stand ein kleines altes TV-DVD-Kombigerät. Überall war Kleidung verstreut, die meiste stapelte sich jedoch auf einem der beiden Stühle. Es roch süß und weiblich, ohne dass ein Duft besonders hervorstach.
Auf jeder freien Fläche standen gerahmte Fotos, deren Scheiben in dem hereinfallenden Sonnenschein glitzerten. Eine Fotografie zeigte Annabella mit einer Frau mittleren Alters und einem jungen Mann in einem Talar. Die drei sahen sich ähnlich und die Art, wie sie sich gegenseitig an den Schultern hielten und versuchten, mit den Gesichtern einen Platz auf dem Foto zu ergattern, verriet Custo, dass es sich um ihre Familie handelte.
Zum ersten Mal seit Jahren spürte er einen Anflug von Eifersucht. So hatte er empfunden, wenn die anderen Jungen in der Schule von den Ferien mit ihren Familien berichtet hatten und er anschließend voll Bitterkeit gewesen war. Nicht, dass er Annabella um ihre Familie beneidete, weil er keine hatte. Nein, er wollte mit auf dem Foto sein, wollte sie eines Tages in den Armen halten und mit ihr vor einer Kamera posieren.
Halt. Dennoch spürte er die kalte heftige Sehnsucht in sich. Es würde keine Fotos geben. Ihre Beziehung konnte sich unmöglich so entwickeln. Bereits vor langer Zeit hatte er gelernt, dass Träumereien die Realität nur noch unerträglicher machten.
»Ja!«, schrie Annabella. Er drehte sich um, als sie mit einem kleinen Päckchen in der Hand herumwedelte; es handelte sich um spinnenartige falsche Wimpern. Als ob ihre Wimpern das nötig hätten. »Jetzt bringe ich nur noch schnell den Müll an das Ende des Flurs, dann können wir los.«
»Das übernehme ich«, sagte er. Solange er da war, musste sie nicht den Müll hinaustragen.
»Nein, nein, das mache ich schon selbst. Aber kannst du … ähm … von der Tür aus aufpassen?«
Natürlich tat er das; bis sie außer Gefahr war, würde er sie nicht mehr aus den Augen lassen. Er hätte sie den Flur hinunter begleitet, aber das Funkgerät in seinem Ohr piepte. Also ließ er sie allein mit der Plastiktüte den Gang hinunterlaufen, um sie nicht mit den Sicherheitsvorkehrungen für die Abendvorstellung zu behelligen.
Der Plan war einfach, aber überzeugend: Annabella sollte tanzen und den Weg für die Rückkehr des Wolfes ins Jenseits freimachen, ganz so wie er es wollte. Agenten aus Segue würden im Publikum sitzen, sich hinter der Bühne befinden und das Gebäude umstellen. Außerdem gab es einen Notrettungsplan für Annabella, falls irgendetwas schiefgehen sollte. Die Angestellten des City Centers waren über die als Bühnenarbeiter verkleideten Sicherheitsbeamten informiert und zeigten sich kooperativ. Custo würde neben der Bühne stehen und bereit sein, dem Wolf einen zusätzlichen Stoß zu geben, sollte Annabella wieder sein Interesse auf sich ziehen.
»Custo hier«, meldete er sich.
»Wir sind vor Ort«, erklärte Jens. »Der Bühnenbereich ist gesichert. Siebzehn Agenten haben Karten für die Vorstellung heute Abend.«
Custo stand im Eingang der Wohnung, während Annabella den Flur hinunterlief. Als sie um die Ecke bog, beugte er sich hinaus. Er hörte das metallische Scheppern des Müllereimerdeckels, dann kam sie zurück. Sie hob einen Finger, formte mit den Lippen lautlos die Worte »eine Minute« und klopfte an die Nachbartür.
Er nickte ihr zu und sprach weiter mit Jens. »Ich will, dass der Ablauf hinter der Bühne so wenig wie möglich beeinträchtigt wird.«
Jens Sprechgerät knackte. »Wo wirst du sein?«
Custo dachte, dass das klar wäre, aber um Missverständnisse zu vermeiden, wiederholte er es noch einmal. »Bei Annabella.«
Annabella blieb vor der Tür ihres Nachbarn Peter stehen und gab Custo ein Zeichen, dass sie noch eine Minute Zeit brauchte. Ja, richtig. Sie brauchte deutlich mehr als eine Minute; die Art, wie Custo sie ansah, weckte ihre Lust und verursachte einen Kurzschluss in ihrem Gehirn. Da er die ganze Zeit in ihrer Nähe bleiben musste, um sie zu beschützen und den Wolf in den Schatten zu drängen, kam sie nicht zum Luftholen. Ihre Abhängigkeit von ihm beunruhigte sie genauso wie die Tatsache, dass sie sich derart zu ihm hingezogen fühlte.
Sie musste sich auf Giselle konzentrieren. Dem Rest der Welt, inklusive Custo dem Engel, konnte sie nicht trauen. Das alles war zu anders, zu fremd, zu gruselig, um es zu begreifen. Sie musste sich auf das Vertraute konzentrieren.
Aber, Himmel hilf, wenn die Vorstellung nicht wäre, könnte sie leicht etwas sehr Dummes tun. Vorhin wäre es fast passiert. Er hatte so gut ausgesehen und so gut gerochen und dann hatte er sich auch noch so gut angefühlt, besser als alles, was sie sich jemals mit und ohne die Hilfe von Filmen oder erotischer Literatur vorgestellt hatte.
Ihr Verstand hing an einem seidenen Faden. Nur das Tanzen konnte sie retten.
Aber erst musste sie sich um Peter kümmern.
Sie klopfte an seine Tür. Schuldbewusst kaute sie an einem Fingernagel, eine Angewohnheit, die sie sich nur mit großen Schwierigkeiten abgewöhnt hatte. Es war eine Qual, mit ihm zu reden, aber wenn sie ein paar Tage nicht zu Hause auftauchte, ohne Peter Bescheid zu sagen, würde er sich Sorgen machen. Sie informierte ihn immer. Beim Einzug war er so nett zu ihr gewesen. Sie hatte sich damals so wenig in der Stadt ausgekannt, dass sie beinahe den Mietvertrag gekündigt hätte, um mit einem Haufen anderer Tänzer zusammenzuziehen, obwohl sie wirklich lieber allein wohnen wollte.
Peter öffnete sofort und schien begeistert.
»Annabella.« Seine Stimme klang dunkler als sonst, beinahe rau. Er streckte eine Hand aus und wollte sie berühren, besann sich jedoch eines Besseren und griff stattdessen nach seinem Schenkel. Er zitterte.
»He, Peter, ich wollte dir nur sagen, dass ich wahrscheinlich ein paar Tage nicht zu Hause bin. Ich bin …« Annabella hörte, wie Custo telefonierte und irgendetwas von Bühnensicherheit redete. Sie blickte in seine Richtung.
Peter streckte den Kopf aus der Tür, um ebenfalls hinüberzusehen, zuckte aber zusammen und wich abrupt zurück. Ja, mit Custo konnte er nur schwer mithalten, vor allem, wenn er sie mit diesem besitzergreifenden Blick ansah.
Die Begeisterung in Peters Gesicht wich Enttäuschung. »Das verstehe ich nicht«, sagte er beinahe knurrend. »Wir gehören zusammen. Du bist zu mir gekommen.«
Annabella errötete, als er ihr sein Interesse gestand. Das hatte er noch nie gesagt. Allerdings hatte sie vermutet, dass er gern einmal mit ihr ausgehen würde.
Was war heute mit diesen unmöglichen Männern los? Annabella hatte ihm nie Hoffnungen gemacht. Sie wusste nicht, wann seine Gefühle über die Grenze reiner Freundschaft hinausgewachsen waren. Vielleicht hatte er immer schon mehr gewollt. Er war attraktiv – groß, dunkle Haut, ausdrucksstarke schwarze Augen, allerdings mit Ende dreißig etwas zu alt für sie. Vielleicht hatte es in den letzten Monaten einen Moment gegeben, in dem romantische Gefühle aufgekommen waren. Aber nach Venroys Angebot der Giselle hatte ihre gesamte Aufmerksamkeit nur noch dem Studio gegolten.
»Es tut mir so leid. Aber das ist ein Missverständnis.« Zu allem Überfluss stand der attraktive, finster blickende Custo im Eingang nebenan, während sie versuchte, Peter behutsam eine Abfuhr zu erteilen. Sie wollte ihn nicht noch mehr verletzen, indem sie ihn kränkte.
»Ich kann mich um dich kümmern«, erklärte Peter. »Ich kann dir geben, was du brauchst.«
Sie hatte ihm eine Standardabfuhr erteilen wollen, von wegen Freunde bleiben und so weiter, aber seine letzte Bemerkung klang so verzweifelt, dass sie ihre Worte für sich behielt. Die Unterhaltung verlief jetzt nicht mehr nur unangenehm, sondern beunruhigend. Es war Zeit zu gehen.
»Du hast schon genug für mich getan«, sagte Annabella. »Ich muss gehen. Bin schon spät dran. Ich wollte nur nicht, dass du dir Sorgen machst, wenn ich ein paar Tage verschwinde. Nach der Vorstellung fahre ich wahrscheinlich zu meiner Mutter.« Eine Lüge, aber das ging Peter nichts an.
»Nach der Vorstellung?«
»Ja.« Das musste er doch wissen; sie sprach seit geraumer Zeit von nichts anderem mehr. »Heute ist der große Abend. Mein Traum geht in Erfüllung. Ich tanze die Giselle am klassischen Ballettheater.« Sie trat zurück, um die Unterhaltung zu beenden. Sie musste jetzt wirklich gehen.
»Tanzen ist dein Traum?« Er beugte sich vor, um ihr zu folgen, wich jedoch mit einem Zischen zurück.
»Du kennst mich doch.« Sie zuckte mit den Schultern und trat noch einen Schritt zurück. Und noch einen. »Tanzen, tanzen, tanzen.«
»Ich werde da sein«, sagte er.
Oh, nein. Sie konnte wirklich nicht noch mehr Stress gebrauchen. Wenn der arme Peter versuchte, sie zu sehen oder zu ihr zu kommen, würde Custo vermutlich mit ihm den Boden aufwischen.
»Ich fürchte, die Vorstellung ist ausverkauft«, erwiderte sie und drehte sich zu ihrer Wohnung um.
»Es ist dein Traum«, wiederholte Peter in ihrem Rücken. »Ich werde da sein.«
Custo sprang am Eingang des City Centers an der 56. Straße aus einem Geländewagen und griff nach Annabella, die ebenfalls ausstieg. Er nahm ihren Werkzeugkasten, den sie zum Schminkkasten umfunktioniert hatte. Sie trug Jeans und eine smaragdgrüne Cabanjacke, um den Hals hatte sie einen grauen Wollschal geschlungen, über ihrer Schulter hing eine schwere Tasche. Die Haare hatte sie zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgekämmt, der ihre durchscheinende Haut und ihre schönen Augen betonte und sie wie einen Teenager aussehen ließ. Durch die Aufregung waren ihre Wangen leicht gerötet. Die Luft um sie herum knisterte vor Energie.
»Ich bin spät dran«, sagte sie, grinste jedoch.
Sie war Stunden zu früh. Wenn sie sich Sorgen um die Zeit machte, schien sie ziemlich nervös zu sein. »Du musst nur tanzen, das ist alles«, erklärte Custo. »Ich stehe direkt neben der Bühne und lasse dich keine Sekunde aus den Augen. Alles wird gut.«
»Es muss perfekt sein«, korrigierte sie und schritt auf die Tür zu.
Hinter ihr warf Custo die Wagentür zu und schlug mit der flachen Hand auf das Dach, um dem Fahrer zu signalisieren, dass er losfahren konnte. Andere Fahrzeuge aus Segue parkten auf der Straße, aber offenbar hatte Adam bislang nicht von der Regierungserlaubnis Gebrauch gemacht, den Block zu sperren. Wenn alles nach Plan lief, war das nicht nötig.
Custo folgte Annabella, aber ein prickelndes Gefühl veranlasste ihn, sich umzudrehen.
Luca. Custo hatte den Engel zum letzten Mal gesehen, als er sich noch einmal zum Himmelstor umgesehen hatte, kurz bevor er in das Wasser getaucht und in die Zwielichtlande geflohen war. Jetzt stand Luca auf der anderen Straßenseite. Er war gekommen, um ihn zurückzuholen oder schlimmer.
Durch den fließenden Verkehr auf der 56. Straße begegnete Custo Lucas Blick und hielt ihm stand. Für einen Augenblick versank die Welt um ihn herum; es existierten nur noch Custos wild schlagendes Herz und Annabella, die mit den Gedanken ganz bei ihrem Tanz war.
Eine Nacht, flehte Custo. Er ballte die Hände zu Fäusten, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Er konnte Annabella jetzt nicht verlassen.
Obwohl Luca genau wie Custo in der Lage war, Gedanken zu lesen, blieb seine Miene unverändert hart.
Eine Nacht. Das ist alles, worum ich dich bitte. Ich muss ihr helfen.
Luca runzelte die Stirn. Du hast nichts begriffen.
Die Gedanken von Engeln waren so viel einfacher zu entschlüsseln als die von Sterblichen – sie waren klar, aufgeräumt und entschieden.
Eine Nacht, wiederholte Custo. Er wartete die Antwort gar nicht erst ab – für ihn stand ohnehin fest, dass er blieb. Als er sich von Luca abwandte und sich seinem Blick entzog, war es, als bekäme das Universum einen Riss, als würde Custo sich daraus lösen und kopfüber in seine eigene Dunkelheit stürzen.
Na, dann. Custo verdoppelte das Tempo, um Annabella einzuholen, die gerade eine der Messingtüren des Gebäudes öffnete. Er spürte Lucas Blick in seinem Rücken, seine Verdammung rollte über die Straße. Okay, Luca durfte ihn für immer bestrafen, aber später. Erst am Ende dieses Abends. Bis der Wolf zurück im Schattenreich war, wich er nicht von Annabellas Seite. Diese Vorstellung musste ein Erfolg werden.
Und danach? Annabella musste lernen, die Magie genauso gut zu beherrschen wie ihren Tanz. Talia konnte es ihr nach der Geburt der Babys beibringen. Aber er wollte sie so nicht zurücklassen, sondern ihr selbst helfen.
Annabella eilte durch die Eingangshalle. »Wo ist die Aufwärmklasse?«, fragte sie eine gequält aussehende Frau, die einen Berg weißer Tutus trug.
»Im Studio im fünften Stock. Sie fangen gerade an.« In der Bluse der Frau steckte eine Nadel, an ihrer Brust hingen diverse Fäden. Offensichtlich hatte sie etwas mit den Kostümen zu tun.
»Danke«, entgegnete Annabella, eilte zum Fahrstuhl und drückte den Pfeil nach oben.
»Klasse? Du hast keine Zeit für eine Klasse«, sagte Custo vollkommen perplex. Er wollte ihr berichten, dass das Team die Ausgänge des Gebäudes überprüft hatte, sie mit den Mitarbeitern bekannt machen, die sie um Hilfe bitten konnte, und ihr sagen, dass alles gut werden würde und sie ihm nur vertrauen müsse.
Aber das interessierte sie nicht. Der Fahrstuhl hielt mit einem Pling. »Oh, nein, nein, nein.« Sie schüttelte den Kopf, während sie ihren Mantel aufknöpfte. Die Klasse ist unverzichtbar. »Ich muss mich aufwärmen, mich vorbereiten.«
»Aber Anna …«
Sie drückte ihm ihren Mantel in die Arme. »Wenn ich nicht an der Klasse teilnehme, kann ich heute Abend nicht gut tanzen. Und wir beide wissen, dass ich gut tanzen muss.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Also, finde dich damit ab.«
Sie fuhren im Fahrstuhl zu einer privaten Garderobe, die zum Schutz der anderen Tänzer abseits lag und von Segue gesichert wurde. Annabella ließ ihre Tasche auf einen Stuhl fallen und begann sich auszuziehen. »Dreh dich um«, befahl sie, aber erst, nachdem er bereits einen Blick auf ihren verführerischen BH aus purpurroter Spitze erhascht hatte, während sie sich aus einem engen, kornblumenblauen Pullover schälte.
Er drehte sich um, beobachtete sie jedoch weiter im Garderobenspiegel, gierig wie ein Mann bei seinem letzten Mahl: ein blasser, schlanker, nackter Körper. Himbeerfarbene Nippel verschwanden schnell unter einer hautfarbenen Beleidigung weiblicher Unterwäsche. Sein Blick glitt über ihre langen, schmalen Flanken, die in ihrem Po gipfelten, als sie sich nach vorn beugte, und zwei wundervolle glatte Ebenen bis zu ihren Knien bildeten. Als sie in ihrer Tasche gefunden hatte, was sie suchte, und sich aufrichtete, spannte sie leicht die Wadenmuskulatur an. Eine Schönheit.
»Custo!«, rügte Annabella, doch sie grinste schief, während ihr die Röte ins Gesicht schoss. Heute Morgen wirkt er nicht verrückt, dachte sie.
Nein, er war nicht verrückt. Er war verrückt nach ihr, aber er wartete auf eine andere Gelegenheit.
Es kam einem Verbrechen gleich, diesen Körper unter einem schäbigen Trikot, schwarzen Strumpfhosen und einem ausgewaschenen Sweatshirt zu verstecken. Sie griff sich ein Paar neue glänzende Spitzenschuhe aus Satin und medizinisches Klebeband und machte sich auf den Weg durch die Halle zum Studio. Die Tänzer trainierten an Ballettstangen an den Wänden sowie an frei stehenden Barren in der Mitte des Raumes. Eine Frau klatschte einen ganz und gar gleichmäßigen Rhythmus, damit die Tänzer das Tempo hielten.
Während Annabella ihre Position einnahm und ebenfalls tief in die Hocke ging, was die Frau als Plié bezeichnete, berührte Custo das Funkgerät in seinem Ohr.
»Hier ist Jens.«
»Ich bin im fünften Stock. Sie nimmt an einer Art Tanzunterricht teil. Ist Adam schon da?«, schob er hinterher.
»Nein.«
Custo hoffte, dass Talia nicht in den Wehen lag. Die Babys brauchten noch etwas Zeit, bevor sie es auf dieser Welt aushalten konnten.
»Sind alle anderen da?«
»Alle bis auf Tommy«, erklärte Jens.
Custo fluchte. »Such ihn. Sofort.«
»Sch!«
Custo wandte seine Aufmerksamkeit den Tänzern zu, die ihn anstarrten. Annabella schaffte es, während einer sehr interessanten Dehnung kopfüber die Augen zu verdrehen. Er wird noch rausgeworfen, dachte sie.
»Ende«, murmelte er Jens zu.
Der Unterricht wurde fortgesetzt.
Die nächsten fünfundfünfzig Minuten waren eine Offenbarung. Alle Zerbrechlichkeit, die er bei Annabella vermutet haben mochte, verschwand, als er sah, mit welcher Präzision sie ihren Körper ›aufwärmte‹. Die Lehrerin, eine Mittänzerin, führte die Gruppe durch eine Reihe harter Übungen, die es mit jedem Kampftraining aufnehmen konnten, das er je durchgestanden hatte. Dass sie nicht angespannt wirkten, täuschte über die Schwierigkeit der Schritte hinweg, denn sie verdrehten die Füße in überaus unnatürlichen Winkeln. Die Gelenkigkeit war nichts anderes als Gymnastik, aber die Verbindungen zwischen den einzelnen Bewegungen schienen von überirdischer Geschmeidigkeit, wodurch sich bloßes Training von Kunst unterschied.
Annabella mochte keine Ahnung von Selbstverteidigung haben, aber sie war alles andere als schwach, sondern biegsamer Stahl. Ihr schlanker Körper war durch und durch trainiert und geschmeidig, er strotzte vor Kraft. Ihre Gestalt war bis in die letzte Faser gespannt und wirkte dennoch weich und verletzlich.
»Annabella!«, rief ein hübscher, ziemlich muskulöser Junge und stolzierte selbstbewusst heran. »Wollen wir ein paar Sachen durchgehen?« Seine Genitalien zeichneten sich unter seiner Strumpfhose ab, aber er schien die Wirkung zu genießen, ja, seht nur alle her, was bei Custo dazu führte, dass er ihm am liebsten sein arrogantes Lächeln aus dem Gesicht geprügelt hätte.
Außer Atem ging Annabella zu ihm hinüber und wischte sich mit dem Handgelenk über die Stirn. »Ja, klar, Jasper. Lass uns erst die Hebefiguren probieren.«
Der hübsche Junge besaß die Nerven, seine Hand auf die Innenseite ihres Schenkels zu legen, direkt neben das Paradies, und sie über seinen Kopf zu heben. Annabella schwebte in der Luft, während Custo ein Knurren unterdrückte. Das war zu hoch, zu intim, zu … absolut der falsche Mann, um sie dort zu berühren.
Custo erforschte Jaspers Gedanken, aber sie waren ganz auf die Bewegung konzentriert.
Plötzlich veränderte Jasper die Haltung, ließ Annabella beinahe fallen und führte sie mit einer schwungvollen Drehung an seinen Körper. Annabella umarmte ihn so sehnsuchtsvoll, dass es Custo den Hals zuschnürte. Er hätte am liebsten weggesehen, folgte den Bewegungen aber wie gebannt, ballte die Hände zu Fäusten und war bereit, die beiden auseinanderzureißen.
Jasper blickte zu ihm herüber, um sich Custos Reaktion zu vergewissern. Er nahm eine überhebliche Haltung ein und fragte mit seinem Körper sowie in seinen Gedanken Na, wie gefällt dir das?
»Lass ihn in Ruhe, Jasper«, murmelte Annabella. Aber Custo bemerkte ihren eigenen forschenden Blick, ihre Augen strahlten vor Neugier.
Sobald Custo sie für sich allein hatte, würde er ihr seine Version dieser Bewegungen zeigen. Vielleicht nicht ganz so graziös, aber eindeutig befriedigender.
»Machen wir die Sissone-Kreuzungen.« Annabella zog ihr schäbiges Sweatshirt aus und warf es an die Seite des Raumes. Unter den Brüsten hatten sich auf dem Trikot Schweißränder gebildet und betonten ihre Kurven, während winzige, feuchte Perlen ihre Brust hinunterliefen und sich in ihrem Dekolleté sammelten.
Custo schluckte gegen seinen trockenen Hals an.
Annabella und der hübsche Junge gingen in eine Ecke. Jasper zählte: »Zwei, drei, und«, und sie sprang, wobei seine Hände hoch auf ihrer Taille lagen. Die folgende Bewegung widersetzte sich der Schwerkraft, war die perfekte Vereinigung von Kraft und Anmut, Männlichkeit und Weiblichkeit. Sie bewegten sich intuitiv, als würden sich ihre Körper genau kennen, den Rhythmus ihres Atems und ihres Blutes. Annabella musste noch nicht einmal hinsehen, denn dieser hübsche Mistkerl war da und hielt sie. Die Hände überall auf ihrem Körper.
Als sie ihre Übung beendeten, bebte Custo leise.
An Annabellas Mundstellung erkannte er, dass sie mit sich zufrieden war. Sie war in Gedanken vollauf damit beschäftigt, was heute Abend zwischen ihnen passieren könnte, sollte die Vorstellung wie geplant verlaufen. Custo war mit allem einverstanden.
»Was nun?«, fragte Custo. Es juckte ihn in den Fingern, sie zu berühren. Er hatte so viel zu tun, aber am liebsten hätte er sich mit Annabella im Studio eingeschlossen.
»Jetzt mache ich mich fertig«, erwiderte Annabella und warf das Sweatshirt über ihre Schulter. Sie tänzelte aus dem Raum und schwang dabei leicht die Hüften. Er wollte sie zu sich umdrehen, ihren Hintern packen, sie auf seine Weise nach oben heben und seine eigene Technik demonstrieren. Sie stolzierte zu ihrer Garderobe. Custo folgte ihr und wartete auf den richtigen Augenblick.
Kaum war die Garderobentür geschlossen, stieß er sie gegen die Wand. Er presste seinen Körper gegen ihren, sie hielt die Luft an, und ihr Herz schlug wild neben seinem. Sie war heiß, verschwitzt und roch nach Moschus. Aus funkelnden Augen sah sie ihn an und wartete, was er als Nächstes tun würde. Er befand sich so dicht an ihrem Mund, dass er ihren Atem an seinem Kinn spürte. Sie biss sich auf die Unterlippe, wollte geküsst werden.
Sie hatte sich eine Stunde lang produziert und jede Minute genossen. Offenbar wollte sie noch ein bisschen länger in ihrem Hoch schwelgen.
Er küsste sie nicht. Das war zu leicht, zu absehbar, und sie hatten nicht genug Zeit, das zu vollenden, was der Kuss auslösen würde. Das musste ihr klar sein. Sie wollte ihn nur reizen, necken, ihn quälen und zugleich testen, ob sie darauf vertrauen konnte, dass er sich zurückzog. Das konnte sie, aber es sprach nichts dagegen, dass sie ihn nicht genauso heftig begehrte wie er sie.
Custo drehte sie zur Wand und hielt sie zwischen seinen Armen gefangen. Er presste sie fest an sich, und ihr Körper fing an zu zittern, aber er ging nicht so weit, den dünnen Träger ihres Trikots von der Schulter zu streifen.
Er senkte den Mund zu ihrem leicht feuchten Hals, zu dem Punkt, an dem sie vorhin außer sich geraten war, und sprach dicht an ihrer Haut. »Ich weiß nicht, womit der Wolf dich geängstigt hat. Du wirkst nicht annähernd so ängstlich wie vor ein paar Stunden.«
Sie bewegte die Hüften in dem schwachen Versuch, sich von ihm zu lösen. Schwach für sie; denn er wusste, wie stark sie war. Wenn sie wirklich ausbrechen wollte, hätte er sie losgelassen.
»Aber ich will deine Fragen beantworten«, sagte er.
»Ich habe nichts gefragt.«
Custo drückte sich fester an sie, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ja, ich will dich. Und ja, es macht mich verrückt, dabei zuzusehen, wie dich ein anderer Mann berührt und hält.«
»Er ist schwul.«
»Das ist mir egal. Ich will dieses Privileg für mich haben.« Custo stieß harsch die Luft aus und bemerkte, wie sich eine Gänsehaut auf ihrem Körper bildete. Er zog sie noch dichter in seine Arme, um sie zu »wärmen«. »Aber ich werde dich nicht drängen. Ich bin nicht der Wolf.«
Sie war jetzt vollkommen ruhig, atmete kaum.
»Also überleg dir gut, was du willst, wenn du mich auf diese Art ansiehst und mit den Hüften wackelst. Ich gehe auf dein Angebot ein, ohne mich um die Folgen zu scheren.«
Custo drang in ihre Gedanken ein und war überrascht, als er auf eine ganz klare Gedankenfolge stieß. Sie hatte Angst, dass er sie losließ. Angst, dass ihre Knie nachgaben. Angst, dass sie keine Gelegenheit bekamen zu beenden, was sie angefangen hatten.
Das brachte ihn etwas durcheinander, aber er zwang sich, sich auf andere dringende Angelegenheiten zu konzentrieren.
»Wir müssen über heute Abend sprechen, den Sicherheitsplan durchgehen.«
Annabella schwieg einen Augenblick, bevor sie antwortete. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Nein. Ich will nicht über all das nachdenken.« Ihre Stimme klang heiser, und sie räusperte sich mit einem leichten Husten. »Ich kann nicht, verstehst du?«
Nachdem er erlebt hatte, wie perfekt und anmutig diese Klasse arbeitete, verstand er sie tatsächlich. Sie musste sich ganz auf ihren Auftritt konzentrieren. Alles andere war seine Sache.
Sie verlagerte das Gewicht auf ihre Füße, und er ließ sie los. Er wollte, dass sie sich sicher fühlte, ihr zeigen, dass er alles unter Kontrolle hatte, ihr sagen, dass sie sich auf ihn verlassen konnte, aber sie war jetzt mit den Gedanken woanders. Musste es sein.
Er versuchte, ihren Gedankensprüngen zu folgen. Da er sie langsam besser kennenlernte, wurde es einfacher für ihn. Als sie den Ablauf der Geschichte durchging, konnte er beinahe spüren, wie der Schleier zwischen der Erde und den Zwielichtlanden bebte.
Als sie sich schließlich an ihren Frisiertisch setzte, wirkte sie hochkonzentriert. Er verbrachte die nächste halbe Stunde damit, sich mit dem Team abzusprechen – immer noch keine Nachricht von Adam –, während Annabella ihre mädchenhaften Züge in die überirdische Erscheinung eines Gespenstes verwandelte. Sie schminkte ihr Gesicht weiß. Die Augen umrandete sie schwarz und befestigte die künstlichen Wimpern an dem bereits dichten, dunklen Saum. Sie tönte ihre Wangen, stand auf, hielt das Trikot von den Brüsten weg und reichte ihm den Schwamm, den sie in weiße Schminke getaucht hatte.
»Reibst du mich bitte damit ein?«, fragte sie sein Spiegelbild.
Er wusste nicht, was sie meinte, aber er würde alles für sie tun. Also nahm er den Schwamm.
»Die Schultern, den Nacken bis in den Haaransatz und meinen Rücken«, erklärte sie. In ihren Worten schwang eine Einladung mit. Zwischen den ganzen komplexen Gedanken zur Choreografie in ihrem Kopf hatte sie offenbar etwas beschlossen.
Custo trat nah an sie heran, ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Er durfte sich nicht seinen Sehnsüchten hingeben, also widmete er sich seiner Aufgabe und strich mit dem Schwamm über ihre Haut. Sie spielte das Gespenst einer Braut, die kurz vor der Hochzeit gestorben war, also vertrieb er die Farbe von ihrer Haut. Er löschte den Puls des Lebens von ihrem Rücken und ihren Armen, verteilte das Weiß auf ihren Schultern, bis zu der Mulde unter ihrem anmutigen Hals und dem Tal zwischen ihren Brüsten.
Er hatte den Kopf geneigt, sodass sich sein Mund dicht an ihrem Ohr befand, und die Arme um ihre Taille gelegt. Mit dünner Stimme sagte sie: »Mein Kostüm hängt auf dem Bügel.«
Er spürte, wie ihr Herz hämmerte – genau wie seins – und zwang sich, einen Schritt zurückzutreten.
Sie nahm das bauschige weiße Kleid vom Bügel. Den Rücken ihm zugewandt, das Gesicht in eine Ecke der Garderobe gerichtet, ließ sie die Aufwärmkleidung fallen und zog das Kostüm an. Sie strich das Leibchen an ihrem Körper glatt und kam wieder zu ihm.
»Würdest du?«, fragte sie.
Sämtliche Haken und Ösen auf der Rückseite standen noch offen, sie waren zu klein für seine Hände. Er gab sich alle Mühe mit seinen ungeschickten Fingern. Als er wieder den Blick hob, hatte sich Annabella in eine überirdische Braut verwandelt.
Jemand klopfte an die Tür, rief »Noch fünf Minuten« und ging den Flur hinunter.
»Jetzt ist es wohl so weit«, sagte sie.
»Mach dir keine Sorgen«, antwortete Custo. »Tanze einfach.«
Sie holte tief Luft, atmete aus und erschauderte. »Gehen wir.«
Von seinem Platz am Rand der Bühne aus hörte Custo das Rumoren des Publikums und vereinzelte schräge Töne aus dem Orchester. Die Agenten von Segue saßen bereits auf ihren Plätzen, andere liefen umher, bis der Vorhang aufging.
Jens befand sich auf der anderen Seite der Bühne. Er hatte die Uniform von Segue gegen eine schwarze Kombination getauscht, mit der er als Bühnenarbeiter durchging. Nur die Jacke wirkte etwas ungewöhnlich, aber daran konnte man nichts ändern. Er musste seine Waffe irgendwo verstecken. Alle befanden sich auf ihrem Platz. Alle waren bereit.
Plötzlich verstummte das Orchester. Augenblicklich gingen die Gespräche im Publikum in ein Murmeln über, bis ein allgemeines Zischen ertönte. Die Musik setzte ein, und jedes Instrument spann einen unheimlichen Faden der Geschichte.
Die anderen Tänzerinnen, verstorbene Bräute, tanzten den ersten Part. Dann leerte sich die Bühne. Plötzlich war Custo von schwer atmenden Tänzerinnen umgeben, die die Vorstellung vom Rand aus verfolgten.
Ein neuer Satz begann; traurige, romantische Töne erklangen. Annabella erschien auf der Bühne, ein mädchenhaftes Gespenst, eine Wili. Mit ihrem Erscheinen veränderte sich das Licht auf der Bühne, die Farben wurden intensiver, voller Zauber.
Annabella. Sie war auf der Welt, um zu tanzen. Daran bestand kein Zweifel.
Sie mischte sich mit den übrigen Wilis und ging mit ihnen auf der anderen Seite von der Bühne ab, während der arrogante, hübsche Jasper die Bühne betrat.
Schwul, beruhigte sich Custo. Aber es gefiel ihm dennoch nicht, dass irgendjemand Annabella berührte.
Custo spähte hinüber und versuchte, einen Blick auf sie zu erhaschen, sah aber nur den Zipfel eines weißen Tutus – das konnte Annabella, aber genauso gut irgendeine andere Frau sein. Er versuchte, ihre Gedanken zu lesen und sich davon zu überzeugen, dass es ihr gut ging: ein Schuhband saß zu stramm. Ihr Hals war trocken. Einzelne Gedankenfetzen tauchten aus der Kakofonie von mentalem Geschnatter auf, das von den Tausenden von Menschen im Publikum stammte. Das half ihm nicht weiter.
Er berührte den Knopf in seinem Ohr. »Jens, wie geht es Annabella?«
»Es geht ihr gut«, erwiderte Jens. »Sie steht hier neben mir auf ihren Spitzenschuhen, um über die …«
Custos Kopfhörer knackte. »Oh, Mist«, fuhr Tommys Stimme keuchend dazwischen, im Hintergrund waren Schreie zu hören, Autohupen und ein Zusammenprall. »Geister.«
Custos Herz setzte aus. »Kannst du das noch einmal sagen?«
»Eine Gruppe! Das ist eine Falle!« Ein Geist schrie, hoch und schmerzhaft schrill in Custos Kopfhörer. »Er kann sie nicht lange aufhalten.«
Annabella trat zu Jasper auf die Bühne, wo er an ihrem Grab trauerte.
»Wer? Wer kann sie nicht lange aufhalten?« Aber Custo kannte die Antwort bereits.
Auf der Bühne spiegelte das Paar die Bewegungen des anderen – Jasper, stark und weltlich, Annabella leicht und überirdisch, beide vollkommen ahnungslos, welcher Albtraum sich vor dem Theater abspielte.
»Adam. Er ist allein da draußen.«