17
Custo griff den Hals der Gitarre und stand auf, um den vereinzelten Applaus entgegenzunehmen. Nicht, dass er ihn brauchte. Gott, das Spielen hatte sich so gut angefühlt. Er hatte seine unerträgliche Unruhe mit einem Mittel bewältigt, das genau so befriedigend war wie eine Prügelei auf der Straße, nur ohne gebrochene Nase oder blutige Knöchel.
Seit dem Angriff bei Abigail hatte es ihn in den Fingern gejuckt, jemanden umzubringen. Die Reise in die Vergangenheit hatte auch nichts genutzt. Kaputtes Leben, kaputte Welt. Jetzt, wo dieses Gefühl verebbte, konnte er nachdenken. Er konnte sein. Die finstere, wütende Seite in ihm hatte sich endlich beruhigt. Es war befreiend.
Während seines Spiels hatte sich in der Dunkelheit des Clubs nichts getan. Keine auffällige Bewegung. Kein Wolf. Alles friedlich. Der Wolf hatte so viele Gelegenheiten zum Angriff gehabt, aber keine genutzt. Das Warten in Segue, seine »ambulante« Operation, der Empfang, das Loft, jetzt Jacks Laden. Er wusste nicht, womit sie diese Pause verdient hatten.
Vielleicht war es überhaupt keine Pause.
Custo hatte Annabella beim Spielen aus dem Augenwinkel beobachtet. Er war bereit gewesen, Jacks 20000-Dollar-Gitarre fallen zu lassen, falls sie vor Angst gezuckt hätte. Jetzt traute er sich, sie direkt anzusehen.
In ihrem dunkelblauen Kleid sah Annabella wie eine Königin aus, immer aufrecht, nie in sich versunken oder entspannt. Sie wirkte nicht mehr ganz so wütend. In ihren Augen schimmerten Tränen, bei einer Frau kein gutes Zeichen. Aber sie wirkte weder traurig noch ängstlich. Das gefiel ihm nicht.
Er war froh über seine Entscheidung, ihre Gedanken nicht mehr zu lesen. Im Augenblick beunruhigte ihn die Vorstellung, was er dort vorfinden würde. Er hatte gewollt, dass sie ihn spielen hörte, aber jetzt fühlte er sich bloßgestellt, unwohl in seiner Haut.
Er unterdrückte das Gefühl. Es war nicht schwer, sie wieder zu verärgern. Das konnte er wirklich gut.
Der Bassspieler und der Schlagzeuger nickten Custo anerkennend zu, der ihnen für ihre Begleitung dankte. Sie erwiderten mehrfach und aufrichtig jederzeit.
Dann war Jack da. »Du hast in den letzten zwei Jahren zwar nicht für mich gespielt, aber immerhin hast du gespielt.«
Custo hatte seit Jahren keine Gitarre mehr angerührt. Doch seine Finger hatten die komplizierten Griffe des Stückes in der Zeit nie vergessen, und die Musik hatte ihm gehorcht. Wahrscheinlich verdankte er die Beweglichkeit seiner Finger seinem neuen Dasein, aber er haderte immer noch mit dem Titel. Engel.
Jack hielt einen Schlüssel hoch und tauschte ihn gegen die Gitarre. »Dasselbe Zimmer. Ich schicke euch Abendessen. Irgendwelche Vorlieben?«
Eine einfache Frage schien eine gute Möglichkeit zu sein, Annabellas Stimmung zu ergründen. »Was möchtest du zum Abendessen haben?«
Sie zuckte mit den Schultern. Ihre Augen, in denen eben noch Tränen geschimmert hatte, wirkten selbstzufrieden. »Das ist mir egal.«
Ebenfalls kein gutes Zeichen. Sie wirkte nicht gerade gelassen. Nicht im Geringsten. Sie war die schwierigste Frau, die er kannte. Wieso wirkte sie auf einmal so zufrieden?
»Das Übliche also«, sagte Jack. »Zweimal.«
Ein Saxofonspieler drängte neben ihn auf die Bühne. »Mann, das war verdammt gut. Ich mag gar nicht nach dir auftreten. Ich sollte wohl mächtig aufs Tempo drücken oder gehen.«
Custo dankte ihm und räumte die Bühne. Er griff Annabellas Hand und führte sie durch den Club. Mit der anderen Hand hob sie ihren Rock an, damit er nicht über Jacks schmutzigen Clubboden schleifte. Sie hatte immer noch nichts gesagt und immer noch dieses fröhliche Funkeln in den Augen. Was stimmte sie derart glücklich?
Die Welt befand sich im Krieg. Ihr war ein Wolf auf den Fersen, ihr Leben in Gefahr. Und sie tippelte durch einen Club, in den er sie gezwungen hatte.
Wer war schon glücklich, nachdem er einen Blues gehört hatte? Sie müsste eigentlich unglücklich sein.
Über eine versteckte Treppe stiegen sie in die obere Etage. Der Schlüssel gehörte zu der Wohnung direkt über dem Club. Jacks Behausung befand sich noch ein Stockwerk darüber. Bis zwei Uhr morgens, wenn der Club schloss, mussten sie zu den vibrierenden Bässen der Musik schlafen. Für Custo kein Problem, und Annabella musste damit klarkommen.
Er schloss die Wohnung auf und ließ sie zuerst eintreten.
»Hübsch«, sagte sie anerkennend. »Wieso ist der Club so eine Spelunke?«
Custo sah sich um. Bunt zusammengewürfelte Ledermöbel waren vor einem Gaskamin zu einer kleinen Sitzgruppe arrangiert. Durch eine weitere Tür sah man das Schlafzimmer. Farbenfrohe Kunst, meist impressionistische Bilder von Jazzclubs und Künstlern schmückten die Wände. Die Rückwand des Raumes bestand aus einer Backsteinmauer mit Schwarz-Weiß-Fotografien, die Jack zusammen mit Musiklegenden zeigten. Nichts von alledem passte wirklich zusammen. Das Ganze hatte keinen Stil. Jack kaufte, was ihm gefiel. Und üblicherweise war sein Geschmack teuer.
Custo warf seine Smokingjacke über die Rücklehne des Sofas und befreite sich von dem verdammten Kummerbund um seine Taille. »Der Club ist noch genauso, wie er war, als Jack ihn gekauft hat. Er ist etwas abergläubisch und will es sich mit dem Glück nicht verscherzen – das ist ihm nämlich sehr treu, seit er den Laden übernommen hat. Spelunke hin oder her, es ist überhaupt nicht schwierig, Leute anzulocken, die Musik hören wollen.«
»Er mag dich«, stellte sie fest und musterte eine der Fotografien. Während sie sich nach vorne beugte, schimmerte ihre Haut in dem tief ausgeschnittenen blauen Kleid. Ihr Rückgrat beschrieb eine hübsche Kurve bis zu ihrem Po.
»Wieso auch nicht?« Custo löste seine Fliege und ließ sie um seinen Hals hängen, damit er sie nicht verlor.
Annabella lachte. Vor nicht einmal zwanzig Minuten war sie noch vollkommen entnervt gewesen, jetzt wirkte sie, als könne ihr nichts etwas anhaben. Custo verstand sie nicht. Der Wolf stellte immer noch ein Problem dar. Er konnte sich jetzt hier in der Wohnung befinden. Was war los mit ihr?
Bass und Schlagzeug des nächsten Musikstücks ließen den Boden unter ihnen pulsieren.
Sie drehte sich wieder zu ihm herum. Das Kleid schmiegte sich um ihre Taille und Hüften. »Was hast du gespielt?«
»Ein Bürgerrechtsstück, es heißt Alabama.« Die Gitarre hatte sich absolut richtig angefühlt, das Stück genauso geklungen, wie er es sich vorgestellt hatte. Er hasste sich dafür, aber er musste sie einfach fragen. »Hat es dir gefallen?«
Annabella sah ihn gefühlvoll an. »Ich liebe es.«
Bei dem Ausdruck in ihren Augen wich er einen Schritt zurück. Er tat so, als hätte er ihn nicht gesehen und fände ihre Wortwahl schrecklich.
Sie hob eine Braue. »Custo?«
Er schüttelte den Kopf. »Sieh mich nicht so an.«
»Wie?« Sie verzog die Lippen zu einem Lächeln, sie wusste ganz genau, was er meinte.
»Na, so.« Er öffnete den obersten Knopf seines Hemdes, damit er besser Luft bekam, konnte aber dennoch nicht richtig durchatmen.
»Wie du meinst.« Der glückliche Ausdruck verschwand nicht aus ihrem Gesicht. Sie löste die hochgesteckten Haare und die dichten Locken fielen auf ihre Schultern herab. Wieder diese selbstzufriedene Miene.
Er wollte sie aus ihrem Gesicht küssen. Das wissende Lächeln fortwischen.
Sie wusste Bescheid.
Die Musik hatte ihre Veränderung bewirkt. Er war zu weit gegangen, hatte zu viel von sich preisgegeben. Aber so war das mit der Musik; sie forderte alles. Man durfte nichts zurückhalten. Wenn er jetzt leugnete, was er gespielt hatte, versuchte er etwas ungeschehen zu machen, das bereits geschehen war. Ein sinnloser, vergeblicher Versuch. Und eine Lüge.
Er durfte sie nicht wieder anlügen und würde es auch nicht tun.
Na, dann. Nun wusste sie es. Er liebte sie. Er liebte sie, seit er sie zum ersten Mal in den Zwielichtlanden hatte tanzen sehen.
Nicht sein Stolz hatte ihn davon abgehalten, es ihr zu sagen, auch nicht diese alberne Machonummer, die man aus dem Fernsehen oder aus Filmen kannte. Für solch einen Quatsch fehlte ihm sowohl die Zeit als auch die Geduld.
Sie musste ihn verstehen.
Er sagte: »Ich ruiniere alles.«
Ihr Lächeln erstarb und machte einem abwesenden Ausdruck von Traurigkeit Platz.
Sie verstand. Egal, was er empfand, er war nicht gut für sie. Er konnte gut spielen und noch besser kämpfen, aber damit hatte es sich. Er war ein gefährlicher Opportunist und ein Dieb. Vor Kurzem hatte er alles genommen, was er von ihr bekommen konnte und würde es heute Nacht wieder tun.
Er senkte den Blick, um Adams Manschettenknöpfe zu öffnen. Alles geliehen, nichts gehörte ihm. Nichts. Er warf sie auf einen Beistelltisch, krempelte die Ärmel hoch und zwang sich, den Blick wieder zu heben.
Sie sah ihm direkt in die Augen.
»Du musst mir sagen, was du denkst«, sagte er. Sie war schlau; sie musste gemerkt haben, dass er sich nicht mehr in ihrem Kopf herumtrieb.
Sie durchbohrte ihn mit einem gefährlich entschiedenen Blick. »Nun gut. Du ruinierst alles? Dann ruinierst du eben mich.«
Seine Bitterkeit wich Lust und Überraschung. Wenn das keine Einladung war …
»Du hast heute Abend zu mir gesagt, ›wer weiß, was morgen ist‹«, sagte sie.
Er hasste es, zitiert zu werden.
»Aus irgendeinem Grund hat uns der Wolf heute Abend in Ruhe gelassen. Ich weiß nicht, wieso. Vielleicht hast du ihn schwer verletzt, oder vielleicht denkt er sich etwas so Schreckliches aus, dass wir es uns überhaupt nicht ausmalen können.«
Custo ahnte, worauf sie hinauswollte. Er hätte Abstand wahren, die Hände von ihr lassen sollen. In ihrer Zukunft würde es kein Haus mit weißem Lattenzaun geben. Nie.
»Ich glaube, wir sollten mit dem ganzen Quatsch aufhören und uns ein für allemal die Wahrheit sagen«, fuhr sie fort. »Auf die Art muss keiner von uns Gedanken lesen.«
Kein Haus am Stadtrand. Kein Glücklich-bis-in-alle-Ewigkeit. Aber einige Angebote waren einfach zu verlockend, um sie abzulehnen. Er zog das Hemd aus der Hose und öffnete die Knöpfe.
»Nun«, antwortete sie etwas unsicher. »Ich glaube, du solltest anfangen.«
Kleiner Feigling. Custo unterdrückte ein Lächeln. Sie wollte die Wahrheit erfahren – und würde sie bekommen.
»Ich hasse dein Kleid.« Bitte.
Sie errötete, ihre Hände glitten zu ihrer flachen kleinen Taille. »Nun, ich …«
Custo löste den letzten Knopf und trat zu ihr. Ihr angenehm blumiger Duft erfüllte ihn. Er trat hinter sie und strich mit dem Knöchel über die nackte Haut ihres Rückens. »Es stört mich schon den ganzen Abend. Wir sollten es wirklich ausziehen.«
Er führte die Hände zu ihren Schultern und schob die Träger zur Seite. Der blaue Stoff glitt an ihrem Körper herunter und legte sich um ihre Füße. »Viel besser.«
Sie drehte den Kopf zur Seite. »Ich habe drei Monate auf dieses Kleid gespart.«
»So ist es viel besser, vertrau mir.« Er strich über ihre Taille zu ihrem flachen Bauch und zog sie rücklings an seine Brust, so dass ihre Haut die seine berührte. Kurz vor ihren Brüsten stoppte er. Bis vor einer Sekunde war er sicher gewesen, dass sie keinen BH trug. Er drehte sie zu sich herum, um die Sache näher zu untersuchen.
Tatsache. Ihre Brüste waren von einer Art hautfarbenem BH verdeckt. Er besaß keine Träger und hielt wie durch Zauberhand. Er hasste auch ihn.
»Es ist ein selbstklebendes Modell«, erklärte sie mit einem schüchternen Lächeln. Sie trat aus ihrem Kleid, beugte sich herab, um es aufzuheben und legte es auf einen Ohrensessel. Er ließ sie gewähren und beobachtete, wie sie sich auf ihren hohen Absätzen, die endlos langen Beine in halterlosen Strümpfen und mit einem winzig kleinen Stringtanga bekleidet, bewegte.
Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder ihrem BH zu. »Willst du mir erzählen, dass du einen Aufkleber als BH hast?«
Innovativ. Genial. Irgendjemand musste damit Millionen verdienen.
Jetzt lachte Annabella. »Einen selbsthaftenden, ja. Damit man ihn unter meinem Kleid nicht sieht. Man kann ihn auch nicht einfach abnehmen.«
Sie pellte vorsichtig das Silikon von ihrer Haut.
»Nein, nein«, sagte er. »Lass mich das machen. Ich dachte, ich hätte schon jede Form weiblicher Unterwäsche bewältigt, aber das habe ich offenbar verpasst. Du stellst mich immer wieder vor neue Herausforderungen, Bella.«
Sie ließ die Hände sinken, damit er Platz hatte, und stemmte sie in ihre wundervollen Hüften, um ihm zu demonstrieren, dass er sie zur Verzweiflung trieb, sie aber überaus geduldig mit ihm war.
»Sag mir, ob es wehtut, und ich heile dich mit meinen Küssen.« Er zog ganz sanft an dem BH und küsste die Stelle. Die Haut darunter war warm, feucht und rosig. Salzig. Ihre Finger glitten durch seine Haare und hielten ihn dicht bei sich.
Ihre Berührung trieb einen Stromstoß durch seine Adern, der im Takt mit der Musik pulsierte. Lust sammelte sich deutlich pochend in seinen Lenden. Die Aufgabe erforderte Feingefühl. Das war ihm nicht zu eigen. Noch nie gewesen. Er wollte, dass das Ding verschwand, wollte sie unter sich. Wollte in ihr sein. Damit sie ganz sicher wusste, dass er ihr gehörte und sie ihm und dass das für immer so blieb, egal was morgen oder übermorgen oder überübermorgen geschah.
Die erste Brust war frei, und er sog heftig an ihrem Nippel. Sie bog sich ihm entgegen und riss an seinem Hemd, während er mit der anderen Seite des BHs kurzen Prozess machte. Er musste sie überall berühren, überall küssen. Er wollte sie erforschen, sich jede Wimper und jede Sommersprosse einprägen. Sie wirklich kennenlernen. Es ging nicht nur um Sex – das hatten sie bereits gehabt –, er wollte sie erobern, wollte, dass jede Faser ihres Körpers auf seinen reagierte, sie ihn mit jedem Nerv begehrte. Nur ihn. Keinen Wolf.
Er bedauerte, als sie ihre sexy Schuhe von den Füßen kickte, zog seine aber ebenfalls aus. Er strich mit den Lippen über ihre Schulter und schob mit dem Daumen den Tanga von ihren Hüften. Sie wackelte ein bisschen mit ihrem vollkommen Hintern, und das winzige Stück Stoff fiel auf den Boden.
»Bett«, sagte sie. Oder besser, forderte sie.
Er war zu erregt, wünschte, dass sie sich hinkniete und er sie zum ersten Mal gleich hier nehmen konnte, mit Strümpfen und allem. Verdammt, er liebte Strümpfe. Sie entschädigten ihn für den verrückten Klebe-BH.
Sie zwickte ihn heftig in die Brust. »Ins Bett. Sofort.«
Zicke. Je eher er in sie eindrang, desto besser. Er umfasste ihre Taille, hob sie hoch und stieß mit dem Fuß die Schlafzimmertür auf. Dabei rammte er Annabella versehentlich gegen den Türpfosten. Ihre Schuld, schließlich hatte sie das Zimmer wechseln wollen. Aber er würde auch das mit seinen Küssen heilen.
Er setzte sie vor dem Bett auf den Füßen ab und machte sich an dem Verschluss seiner Hose zu schaffen. Als sie auf den Boden herabfiel, krabbelte Annabella über die Matratze auf das Kopfkissen zu.
Er griff ihren Knöchel und zog sie zu sich zurück. Das Bett war für den Moment ihr einziger Luxus. Wenn sie Glück hatte, bekam sie später ein Kopfkissen.
Sobald Custo ihren Knöchel losließ, rollte Annabella sich auf den Rücken. Bevor er sich auf sie legte und sie das Spiel der Muskeln unter seiner glatten Haut sowie seine unvorstellbare Wärme spürte, erhaschte sie noch einen Blick auf seine grünen Augen, seinen vollen Mund und seinen unglaublichen Körper. Sie erwartete, dass er irgendetwas mit ihr anstellte – ihr war alles recht –, aber er zögerte, hielt sie mit seinem Gewicht auf dem Bett fest und strich eine Haarsträhne von ihrem Mund.
»Du machst mich wahnsinnig«, sagte er. Das Vibrieren seiner Brust fühlte sich wundervoll auf ihrem Körper an. Sie reagierte mit einem heftigen, unkontrollierten Ziehen in ihrer Mitte.
»Das gebe ich zurück«, antwortete sie und hob den Kopf, um an seiner Lippe zu knabbern. Sie wand sich leicht unter ihm, um ihm ihre Ungeduld zu zeigen.
Er ignorierte ihr Drängen und presste seine weichen Lippen fest auf ihren Mund. Dann küsste er sie so leidenschaftlich, dass sie zu atmen vergaß. Ihr Herz schlug heftig. Es gab nur noch Custo, seinen Körper und den seltsam ansteigenden Rhythmus des Basses aus dem Club unter ihnen. Seine Musik gefiel ihr immer besser.
Als er sich zu ihrem Hals beugte, sich mit seinem Mund ihrer empfindlichen Haut widmete und sie dabei mit seinen Bartstoppeln kratzte, schnappte sie nach Luft. Sie griff seine Schultern und blickte hoch, ohne etwas zu sehen.
Er senkte sich zu ihren Brüsten, von denen sie mittlerweile wusste, wie sehr er sie mochte. Er konnte nicht aufhören, sie zu berühren. Er knabberte und saugte an ihnen und das nachfolgende Ziehen in ihrem Körper fühlte sich himmlisch an. Sie rang nach Luft, als er die Fingerspitzen lustvoll über ihren gesamten Körper gleiten ließ, über ihre Brüste, die Taille, den Po und die Schenkel, und überall eine heiße Spur auf ihrer Haut hinterließ. Sie blinzelte schnell, um klar im Kopf zu werden, aber sein Streicheln und Liebkosen verhinderte jeden zusammenhängenden Gedanken.
Sie durfte sich jetzt nicht verlieren; noch hatte er die Wahrheit nicht laut ausgesprochen.
Weit entfernt jaulte ein Saxofon. Sie klammerte sich an den Klang, während Custo mit dem Mund über ihren Bauch nach unten strich. Er stieg vom Bett herab, ließ die Hände über ihre Innenschenkel gleiten und schob sie mit den Daumen auseinander.
Was dieser Mann alles mit seinen Händen anstellen konnte.
»Was ist das für ein Stück?«, fragte sie, als sich ihr Blick trübte, sie unter seinem warmen Atem zerfloss und er zugleich heiße Blitze durch ihre Mitte trieb.
Custo zögerte, dann küsste er sie, wo sie es ersehnte. »Fußspuren.«
Das Saxofon begleitete seine Berührung mit einem ansteigenden Triller, gleichzeitig wuchs der Druck in ihrem Körper. Als die Melodie abfiel, krallte sie sich an die Laken und wünschte, sie würde wieder ansteigen. »Es gefällt mir.«
Custo passte sich dem Rhythmus der Musik an, die erneut anstieg. Sein Kuss war nass und heiß und fest. Zum Verrücktwerden. Als die Band dem Höhepunkt entgegenstrebte, kam sie und drückte sich zu den letzten Klängen zuckend an ihn.
Als Custo sich von ihr löste und ihre Schläfe küsste, waren alle Muskeln und Gelenke in Annabellas Körper selig und entspannt.
»Hoch«, knurrte er und trieb sie aus ihrer trägen Lust.
Nicht, dass sie sich darüber beklagte. Sie wollte ihn auf sich spüren, in sich, wollte, dass er sich langsam und tief in ihr bewegte.
Er schob sie in Richtung Kopfende, drehte sie wie ein erfahrener Tanzpartner mit dem Rücken zu sich und setzte sie auf den Knien ab. Er griff ihre Hände, stützte sie gegen die Wand und hielt sie dort fest. In ihr Ohr raunte er: »Dehn dich für mich.« Seine Stimme klang dunkel vor Lust und erregte sie aufs Neue. Mit klopfendem Herzen schob sie die Hüften zurück und spürte ihn hinter sich.
»Weiter«, befahl er, packte ihre Hüften und zwang sie, ihr geschmeidiges Rückgrat noch weiter durchzubiegen. Ihr Magen flirrte in freudiger Erwartung.
Sie genoss die Dehnung, und er drang in sie ein, wobei er sie erneut mit seinen geschickten Fingern verwöhnte. Sie griff mit den Händen das Kopfende und verfiel mit ihm gemeinsam in den wahnsinnigen, berauschenden Rhythmus des Clubs. Die Musik, formlos, wild und endlos, wurde nur von Rhythmus und Stimme zusammengehalten, das Saxofon heulte wie der Wind. Custo schlang die Arme um sie, zog sie rücklings auf seinen Schoß, ihre Hüfte an seiner. Sie fühlte sich beschützt und beherrscht, stand an der Schwelle zu etwas Neuem und Beängstigendem, aber sie war nicht allein. Er spannte die Muskeln an, stöhnte und trieb ein Erdbeben unergründlicher Seligkeit durch ihren Körper.
Er hielt sie, als sie gegen ihn sank. Sie rang nach Luft und lehnte den Kopf zurück an seine starke sichere Schulter. Seine Kraft erwies sich als praktisch, als er erfahren ihre Position löste, sie zu sich herumdrehte, sich auf dem Bett ausstreckte und sie an seine Brust zog, sodass ihre Herzen nebeneinander schlugen und ihr erhitzter Körper neben seinem lag.
»Sagst du es mir jetzt oder nicht?«, fragte sie und knabberte aufmunternd an seinem Ohrläppchen.
Er grinste. »Was? Damit du mich noch mehr nerven kannst, und ich dir den Hintern versohlen muss?«
»Der gefällt dir doch.«
Er lehnte seine Stirn an ihre. »Ja, das muss ich zugeben.«
»Und?«
»Du und ich, das kann nicht gut gehen«, flüsterte er mit heiserer Stimme.
»Ja, ja. Das hatten wir schon.« Rasch küsste sie ihn auf die Lippen.
Er richtete sich etwas auf, so dass sich ihre Blicke begegneten. »Ich liebe dich, Frau.«
Sie lachte. »Frau? Wie charmant.«
»Meine Frau«, korrigierte er todernst.
»Na, dann gehörst du mir, denn ich liebe dich auch,« sagte sie und forderte ihn heraus, ihr zu widersprechen.
Er seufzte schwer und fasste einen Entschluss; sie spürte eine deutliche Veränderung in ihm, dann sagte er: »Mit Leib und Seele.«
Wolf blickte auf die alte Frau, die auf dem Bett schlief. Ein widerlich künstlicher Blumenduft lag auf ihrer Haut, fast stärker als der saure Geruch des Schweißes, der ihre Stirn bedeckte. Ihre Lider flackerten. Unruhig kämpfte sie mit einem Albtraum.
Ja. Jetzt. Er knurrte tief, um sie zu wecken.
Als sie schlagartig erwachte, bleckte er die Zähne. Los.
Sie musste ihn erst sehen und dann vor Angst zusammenbrechen, sonst schnappte die Falle nicht zu.
Keuchend stützte sich die Frau auf die Ellbogen und blinzelte sich den Schlaf aus den Augen.
Wolf spürte ihren Blick auf sich, fletschte noch stärker die Zähne, senkte den Kopf und setzte mit seinem kräftigen Rumpf zum Sprung an.
Die Frau schrie laut auf und brach zusammen. Perfekt.
Dem aufmerksamen Jack hatte sie es zu verdanken, dass kurz darauf das chinesische Essen geliefert wurde, acht hübsche weiße Kartons reihten sich vor der Wohnungstür aneinander und dufteten himmlisch, wobei es im Himmel gar nicht so gut roch. Auf Jack war immer Verlass. Chinesisches Essen und eine Flasche guter Wein.
Custo holte das Essen herein, das sie halbnackt im Bett zu sich nahmen. Er hatte seine Unterhose gefunden, und sie trug Adams Smokinghemd, hatte aber nur einen Knopf geschlossen und die Ärmel bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt. Annabella saß im Bett wie eine Ballerina, die ihre Muskeln dehnte, ein Bein hatte sie lang zur Seite ausgestreckt, während das andere quer vor ihrem Körper lag und ihm den Blick versperrte. Er wollte sie noch einmal ganz sehen, aber darum würde er sich später kümmern.
»Ich habe eine Frage«, sagte er.
»Schieß los«, erwiderte sie und stocherte mit den Stäbchen in ihrem Reis mit Huhn. Es roch intensiv nach Soja und Ingwer. Ihre Lippen glänzten von dem Essen und sie veranstaltete interessante Sachen mit ihrer Zunge.
»Deine Füße.« Er hob einen ihrer Füße hoch und untersuchte die Zehen. Sie sahen seltsam aus, knorrig und voller Schwielen. Mit gespielter Ernsthaftigkeit fügte er hinzu. »Ehrlich gesagt machen sie mir Sorgen.«
Sie kicherte und versetzte ihm einen Tritt. »Sie sollen so sein, ansonsten könnte ich es keine zehn Minuten auf Spitzen aushalten. Ich habe ziemlich hart an meinen hässlichen Füßen gearbeitet und dulde nicht, dass du auch nur ein Wort gegen sie sagst.«
»In diesem Fall«, sagte er. »liebe ich sie auch.« Gitarrenspieler hatten dicke Schwielen an den Fingern, so dass er das in gewisser Weise nachvollziehen konnte.
Es war wundervoll, so friedlich mit ihr zusammen zu sein. Glücklich und nackt und über belangslose Dinge zu lachen.
Annabella blühte auf, ihre Augen strahlten. Sie verdrängte, was vielleicht schon am nächsten Tag geschehen konnte, und er ließ sie. Sie aßen auf und machten das Bett zu ihrer Welt, zu einer weißen Insel der Glückseligkeit, weit weg von allem. Annabella, Sex, chinesisches Essen. Es war vollkommen. Er wünschte, diese gestohlenen Stunden würden ewig dauern, aber der Club hatte vor einiger Zeit geschlossen und wieder einmal graute ein unangenehmer Morgen heran.
Sie mussten sich um Segue kümmern, um Talia und Adam und die Babys.
Annabella lag auf den Kissen, hatte einen Arm unter den Kopf geschoben und sah ihn aus schläfrigen Augen an, obwohl keiner von ihnen wirklich schlafen wollte. »Vorhin war ich zu wütend, um zu fragen, aber was sollten die ganzen Soldaten in unserem Zimmer?«
Adams Zimmer. »Ich habe sie verhört und versucht, die Wahrheit über unsere missglückte Aktion herauszufinden. Einer von ihnen ist für den Angriff der Geister verantwortlich.«
»Hast du deinen Spinnensinn eingesetzt?« Sie rollte auf die Seite, wodurch Hüfte und Taille einen hübschen Schwung bekamen, überaus verlockend, und das wusste sie. Das Hemd verzog sich, und er konnte die rosigen Knospen ihrer Brüste sehen, was sie dem Leuchten in ihren Augen nach zu urteilen ebenfalls wusste.
Custo rutschte näher zu ihr und öffnete das Hemd. »Ja. Irgendjemand in Segue hat es auf Adam abgesehen. Einer der Soldaten muss den Geistern gesteckt haben, welche Position Adam vor dem Theater einnehmen würde. Man hätte ihn beinahe umgebracht.«
»Während meiner Vorstellung?« Sie wirkte schockiert und setzte sich auf.
»Es ist nicht deine Schuld, dass ihn ein Informant verraten hat, Annabella«, sagte Custo und zupfte an dem Hemd, damit sie sich wieder hinlegte. »Die Geister hätten Adam überall angegriffen.«
Sie widersetzte sich seinem Ziehen. »Hast du den Verräter gefunden?«
»Nein. Soweit ich es beurteilen kann, hat sich keiner von ihnen regelwidrig verhalten.« Custo setzte sich ebenfalls auf. Bevor Annabella nicht die ganze Geschichte kannte, war offenbar nichts zu machen. Er bedauerte, das Thema überhaupt aufgebracht zu haben. »Ich bin darauf gekommen, dass es einer von ihnen sein muss. Niemand außerhalb des Teams wusste von unseren Plänen für den Abend.«
»Bis auf Talia«, gab Annabella zu bedenken. Zwischen ihren Brauen bildete sich eine tiefe Furche.
»Okay, abgesehen von Talia.« Aber sie zählte nicht. Talia würde Adam niemals verraten.
Custo schob seine Hand unter das Smokinghemd, um herauszufinden, ob Annabellas Nippel fest wurden. Ein paar Striche mit seinem Daumen sollten genügen.
»Und ihr Arzt?« insistierte Annabella. »Hast du ihn befragt?«
»Ihr Arzt ist eine Frau, Dr. Powell.« Gillian gehörte beinahe seit Gründungstagen zu Segue. Sie hatte selbst erlebt, wozu Jacob fähig war und war dabei gewesen, als die Geister Segue in Horden angegriffen hatten. Wäre Talia nicht gewesen, hätte Gillian den Tag nicht überlebt. Sie wusste besser als jeder andere, wie wichtig Talia und Adam für den Krieg gegen die Geister waren.
»Okay, hast du sie nun befragt?«, insistierte Annabella gereizt.
»Sie war nicht in die Einzelheiten des Sicherheitskonzeptes für den Abend eingeweiht.« Konnten sie sich jetzt nicht mit schöneren Dingen beschäftigen? Und dann mit noch viel schöneren?
»Hat Adam die Pläne mit Talia besprochen? Womöglich in Gegenwart von Dr. Powell?«
»Eigentlich nicht.« Aber Custo konnte sich vorstellen, wie Adam an Talias Bett saß und ihr die neuesten Geschehnisse aus Segue berichtete, dem sie beide ihr Leben gewidmet hatten. Vielleicht hatte er ihr von der Vorstellung erzählt. Vielleicht war ihm herausgerutscht, welche Position er bei der nächtlichen Sicherheitsüberwachung einnehmen würde.
»Hat er oder hat er nicht?«, drängte Annabella.
»Das wäre ein dummer Fehler.« Adam ließ stets große Vorsicht walten. Was den Umgang mit Informationen anging, war er geradezu pedantisch, alles war codiert und noch einmal codiert und obendrein noch gesichert. Wenn er offen vor der Ärztin gesprochen hatte, wäre das alles umsonst gewesen, egal für wie vertrauenswürdig er sie hielt.
Annabella lächelte reumütig. »Die Menschen machen ständig dumme Fehler.«
»Du meinst, Dr. Powell wäre die Informantin, die Verräterin innerhalb von Segue?« Custos Nerven schlugen Alarm. Er hatte in der direkten Umgebung nach einem Leck gesucht. Auf die Ärztin wäre er nie und nimmer gekommen. Adam machte keine Fehler; wenn es um Talia ging, war er absolut gewissenhaft. Vielleicht dachte er, dass Talia über Gillians Absichten Bescheid wissen müsste, schließlich konnte sie die Gefühle anderer Menschen wahrnehmen. Aber mit den Chirurgenhandschuhen war das nicht möglich. Ausgerechnet Adam machte …
»Ich glaube, man sollte sie zumindest verhören.« Annabella seufzte schwer und wirkte verloren.
Auch Custo wäre gern noch geblieben, glücklich und zufrieden, fernab von der Welt. Aber der Gedanke an Talia, hilflos dem Wohl der Ärztin ausgeliefert, trieb ihn dazu, seine Hose und sein Mobiltelefon zu suchen. Er musste Adam anrufen. Sofort.
Annabella stand auf und begann im Hintergrund, ihre Sachen aufzusammeln. Sie fluchte über ihren BH. Er wünschte, er hätte sie früher gefragt. Aus einer anderen Perspektive war manches ganz einfach.
Die Verräterin wusste Interna über Segue, weil Adam sie ihr selbst verraten hatte.
Custo drückte die Kurzwahl. Es war deutlich nach vier Uhr morgens, aber er wusste, dass Adam sofort abnehmen würde.
»Hier«, meldete sich Adam leise. Vermutlich hielt er sich bei Talia auf, und sie schlief.
»Was ist mit Dr. Powell?«, fragte Custo ohne Umschweife.
Es folgte eine lange Pause am anderen Ende. Zu lang. Dann: »Oh, Mist.«