9

Als Giselle aus ihrem frisch ausgehobenen Grab aufstand, blickte sie mit gebrochenem Herzen auf den erdigen Waldboden. Sie hatte die Hände über der Brust gefaltet, um die Scherben ihrer Liebe in sich zu bewahren. Prinz Albrecht würde eine andere heiraten, eine Dame vom Hof, kein Bauernmädchen, das nichts von der Welt wusste. Sein Verrat brachte sie um, aber sie konnte nicht anders, sie liebte ihn immer noch.

Doch sie war nicht länger ein Bauernmädchen.

Sie war eine Wili, ein Gespenst, und würde für immer tanzen.

Giselle schloss sich der Gruppe der anderen Wilis an, die in der mitternächtlichen Stille des Waldes gefangen waren, und tanzte auf Zehenspitzen an der langen Reihe von Tänzerinnen vorbei zu Myrtha, der Königin der Wilis.

Alles wirkte ruhig und friedlich, so, wie es sein sollte. Annabellas Körper fühlte sich kräftig an, sie war gut vorbereitet, obwohl etwas an ihren Nerven zerrte. Das Gefühl war mehr als die Nervosität bei einer Premiere, als Lampenfieber, es war Angst.

Auf der einen Seite befand sich die Waldkulisse, auf der anderen lag der dunkle Theatersaal, in dem das Publikum Giselles tragischer Liebesgeschichte folgte. Annabella hob den Blick und sah hinter die Vorhänge an den Seiten der Bühne: Neben den künstlichen Bäumen stand ein strahlender Engel, seine hellgrünen Augen auf sie gerichtet. Er bedeutete Hoffnung und Schutz zugleich. Wenn er zusah, fiel ihr das Tanzen leichter.

Custos Nähe gab ihr Sicherheit.

Giselle richtete sich aus einem tiefen Knicks auf und begann mit der Serie von Arabesquen, die ihre Ankunft im Jenseits ankündigte. Mit klopfendem Herzen wirbelte sie durch die Luft, entspann ihre Magie und griff nach einer Welt jenseits ihrer eigenen.

»Wo bist du, Tommy?« Custo betonte jedes Wort und ließ Annabella dabei nicht aus den Augen. Sie bewegte sich zwischen den anderen Tänzerinnen in der Mitte der Bühne. Bislang gab es keinen Hinweis auf den Wolf. Noch nicht.

Custo trat an den Rand des Vorhangs. Sollte er sie jetzt packen? Die Vorstellung abbrechen? Den Auftrag beenden? Würden sie eine zweite Chance bekommen? Verdammt.

»Wieso sitzt du nicht auf deinem Platz?« Custo suchte mit seinem Geist nach Tommy und entdeckte ihn bei den hinteren Ausgängen im Erdgeschoss. Custo drang in seine Gedanken ein: Der Agent hatte beschlossen, direkt nach der Abmeldung in den Kampf einzugreifen. Aber auf wessen Seite wollte Tommy kämpfen?

Mit Tommy als Bezugspunkt drängte Custo vorsichtig hinaus in das Gedankenwirrwarr auf der Straße. Nach Adam zu suchen, kam dem Versuch gleich, einen bekannten Stern an einem fremden Nachthimmel zu finden. Er entdeckte nichts Vertrautes, dann

Da. Adam war wild entschlossen zu überleben.

Tommy surrte in Custos Ohr und antwortete. »Ich habe einen Geist entdeckt und bin ihm gefolgt, anstatt meinen Sitz im Publikum einzunehmen. Willst du, dass ich die anderen von ihren Posten abziehe?«

Damit Annabella schutzlos und angreifbar zurückblieb?

»Zieh nur die Agenten in den hinteren Reihen ab, die Posten um die Bühne herum sollen bleiben. Halte mich über die Situation mit den Geistern auf dem Laufenden.«

Custo hörte besorgt zu, wie Tommy die Soldaten einzeln mit Namen ansprach und sie diskret zur Rückseite des Gebäudes dirigierte.

»Beeilt euch«, fügte Custo hinzu. Dort draußen war Adam. Talia und die Babys brauchten ihn. Wenn Adam starb okay, dann gab es einen Engel mehr , aber das bedeutete die Hölle für den Geisterkrieg auf der Erde. Adam und Talia waren die einzige Hoffnung der Sterblichen.

Von seinem Standpunkt aus konnte Custo nur einen Teil des Zuschauerraumes überblicken. Das Publikum war hingerissen und vollkommen auf die Bühne konzentriert, aber vereinzelt standen ein paar Personen auf und verließen die Reihen. Er vermutete, dass andere in den hinteren Reihen dasselbe taten. Das musste reichen.

Jasper fing Annabella bei der ersten ihrer Hebefiguren auf, die Custo vorhin im Studio gesehen hatte. Die, bei der er Annabella an den Hüften hoch in die Luft hob. Die Figur wirkte mühelos, aber in Anbetracht der ganzen Situation mit Wolf und Geistern bevorzugte es Custo, wenn sie mit beiden Beinen auf dem Boden stand.

Die Geister waren im Plan nicht vorgesehen. Vermutlich handelte es sich nicht um einen offiziell geplanten Angriff. Sie mussten von jemandem aus Segue einen Hinweis bekommen haben. Von dem Verräter. Wie hatte Adam nur so lange überlebt, wenn jemand seine gesamten Bemühungen sabotierte?

Heftige Wut stieg in Custo auf. Er ballte die Hände zu Fäusten das letzte Mal, als jemand Adam verraten hatte, hatten diejenigen keine Zeit mehr gehabt, ihr Handeln zu bereuen. Das würde diesmal nicht anders sein.

Als er ein Rascheln hinter sich vernahm, fuhr Custo herum, sah aber nur weiße Gespensterballerinas, die auf ihren nächsten Auftritt warteten.

Trotz aller Anspannung sah er noch einmal genauer hin. Er konnte nichts Ungewöhnliches feststellen, bis auf

In den schwarzen Schatten entdeckte er die Gestalt eines Mannes. Ebenfalls in Schwarz gekleidet, hatte er die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf gezogen und beugte sich nach vorn, sodass er schwer zu erkennen war. Sein Körper schien in guter Verfassung und recht muskulös zu sein.

Das war kein Bühnenhelfer. Und kein Agent aus Segue.

Wer war das? Custo lenkte seinen Geist in Richtung des Mannes. Nichts.

Er versuchte es noch einmal, das Gefühl akuter Gefahr jagte ihm einen kalten Schauder über den Rücken. Sein Geist stieß lediglich auf leere Schatten, was nur zwei Möglichkeiten zuließ: Entweder war das der Wolf oder ein Geist.

Custo zog sich zurück. Er spannte die Bauchmuskeln an, verlagerte das Gewicht auf die Ballen und machte sich bereit zu kämpfen. Die Tänzerinnen drängten sich um ihn und nahmen seinen Platz ein, als er sich in den offenen Bereich des Seitenflügels bewegte.

Jetzt war er für den Mann deutlich zu erkennen, aber der zuckte noch nicht einmal. Die Ruhe um ihn herum wirkte unheimlich, unnatürlich, wie ein Vakuum.

Wenn die Bewohner der Zwielichtlande auf die Gegenwart von Engeln so empfindlich reagierten wie Talia, dann handelte es sich bei dem Mann nicht um den Wolf, ansonsten müsste er zusammenfahren. Wahrscheinlich war er ein Geist und gehörte zu dem Trupp, der das Gebäude angriff. Er lag auf der Lauer und wartete auf einen vereinbarten Moment, um anzugreifen.

»Ich habe einen hinter der Bühne entdeckt«, sagte Custo und warnte das Team von Segue. »Haltet nach weiteren Ausschau.«

Geister waren unglaublich stark und konnten nicht sterben, Eigenschaften, die Tausende von Menschen veranlasst hatten, ihr Menschsein für die ewige Jugend aufzugeben.

»Alles klar«, erwiderten nacheinander die restlichen Teammitglieder, die sich im Theater aufhielten.

Bis auf diesen einen Geist fand der Kampf draußen statt. Zufall? Das war Custo egal. Er würde dem Monster eine Kugel in den Kopf jagen, es hinausschleppen und in eine Zelle verfrachten, wo es warten konnte, bis Talia entbunden hatte und ihn in den Tod schreien würde.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Custo die Tür, die zum äußeren Korridor führte. Er griff nach seiner Waffe, aber nicht um zu schießen der Widerhall würde die Vorstellung stören , sondern zur Verstärkung seiner Faust. Er würde den Geist hinausdrängen und in der Halle auf ihn schießen. Mehrfach.

Die Tänzerinnen, eine schweigende Gruppe in Weiß, stellten sich wieder in einer Reihe auf und strömten sodann auf die Bühne.

Custo näherte sich seinem Ziel und bemerkte, wie sich die Brust des Geistes kaum merklich hob, als er unnötigerweise atmete. Seltsam. Wieso rührte sich das Monster nicht? Wieso zerriss es nicht die Luft mit seinem Schrei?

Dann hob der Mann den Kopf, worauf die Kapuze herabglitt und ein Gesicht preisgab.

Custo stockte augenblicklich das Blut in den Adern. Das war nicht der Wolf. Das war kein Geist.

Diese wütenden schwarzen Augen gehörten dem Tod!

»Oh, Gott«, sagte Custo.

»Wie ironisch, dass du jetzt nach ihm rufst«, erwiderte der Schattenmann mit einem finsteren Lächeln. Er stieß sich von der Wand ab. Winzige schwarze Flecken übersäten sein Gesicht, Verbrennungen, die in Staub auf den Boden herabrieselten, während sich darunter rasch neue Haut bildete.

Engel waren schädlich für Bewohner der Zwielichtlande, doch hier handelte es sich um ihren Meister, der bereits unzählige Male vor den Himmelspforten gestanden hatte.

Als der Schattenmann auf Custo zukam, taumelte dieser zurück, blickte kurz zu dem Schattenwald hinüber, der um Annabella wucherte, und sah, wie ihr Talent in der Nacht erblühte.

Custo hob die Hände, um den Tod zu beschwichtigen. »Es war bereits ein Engel da, um mich zu holen. Ich habe zugesagt mitzukommen, wenn das hier vorbei ist. Nur eine Nacht, um mehr bitte ich ja gar nicht.«

»Die Arbeit der Engel interessiert mich nicht. Wieso auch? Die gehen mich nichts an.« Der Schattenmann sprach leise und bedrohlich. »Ich habe es nur auf dich abgesehen. Du hast mich hereingelegt.«

Custo stemmte die Füße fest in den Boden und sammelte alle Kraft, um ihn fernzuhalten. »Ich musste den Himmel verlassen und auf die Erde zurück. Es hängen Leben von mir ab. Bitte, ich muss bleiben.«

Der Schattenmann trat näher. »Was denkst du, wie viele Seelen mich schon angefleht haben? Ich habe Menschen mit Schmerz und Qualen abgewiesen, die du dir nicht im Entferntesten vorstellen kannst. Verschone mich mit deiner Leidensgeschichte; ich habe deutlich schlimmere als deine gehört und mich dennoch nicht erweichen lassen.«

»Jemand aus dem Schattenreich, jemand von deiner Spezies bedroht diese Tänzerin. Sie ist verletzlich, unschuldig. Aber sieh nur, wozu sie fähig ist!«

Custo blickte hinüber zu der Frau, die keine zehn Schritte von ihm entfernt ihren Zauber entspann. Annabellas Gabe ließ sie erstrahlen.

Der Schattenmann verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen. Er sah nicht zur Bühne. »Meine Kathleen hat fantastische Ansichten vom Schattenreich gemalt, und dennoch durfte sie wie alle anderen nur hindurchreisen. Du willst deiner Frau helfen, aber du hast es geschafft, mich von meiner fernzuhalten.«

»Ich habe nie behauptet, dass Kathleen im Himmel ist«, widersprach Custo.

»Über die Einzelheiten des Betrugs können wir unterwegs diskutieren. Ich bin sicher, dass du in dieser Hinsicht geschickter bist als die meisten anderen aus dem Engelsklan.«

»Ich gehe nirgendwohin«, sagte Custo laut genug, damit der Bühnenhelfer neben dem Vorhang ihn anzischte. »Sie braucht mich. Ich verlasse sie nicht.«

»Das glaube ich aber schon.« Der Schattenmann legte eine Hand auf Custos Schulter. Dort, wo er ihn berührte, schoss eine kalte Welle durch seinen Körper, Fäden aus Schatten breiteten sich in ihm aus und mischten sich mit seinem Blut. Die dunklen Schattenranken verkrampften seine Nerven und ließen sein Mark gerinnen.

»Komm«, sagte der Tod.

Custo widersetzte sich dem Zwang, so gut er konnte, mit seinen Gliedern, seinem Herzen und seinem Geist. Dennoch bewegte er sich vorwärts.

»Du musst wissen«, fügte der Tod mit einem gemeinen Gesichtsausdruck hinzu, »dass ich keine Macht über dich hätte, wenn deine Seele nicht bereits dunkel und schattig wäre. In dem eigenartigen, geordneten Chaos des Universums hast du dich dazu entschieden.«

Dunkel, schattig, sogar verdorben, ja. Aber er hatte sich nicht dazu entschieden. Custo versuchte, sich gegen den Griff des Schattenmanns zu wehren, tat aber dennoch einen weiteren Schritt nach vorn, dann noch einen. Custo streckte gegen seinen Willen die Hand aus, um die Tür zu öffnen. Obwohl er sich bemühte, noch einen Blick auf Annabella zu erwischen, trugen seine Beine ihn fort von ihr.

Custo konnte atmen, aber nicht sprechen. Was hast du mit mir vor?, fragte er im Geist. Seine Haut spannte unter dem dichter werdenden Netz aus Schatten; er konnte beinahe spüren, wie er immer dunkler wurde, während sie ihm die Lebenskraft entzogen. Er glaubte nicht, dass der Tod ihn ein zweites Mal am Himmel absetzen würde, abgesehen davon, dass er dort ohnehin nie hingehört hatte.

Als die schwere Tür hinter ihnen zufiel, verstummte augenblicklich die Melodie, lediglich das Jammern der Saiteninstrumente und das Brummen des Basses waren gedämpft zu hören.

»Wir haben schon einmal einen Handel gemacht«, sagte der Schattenmann. In perfektem Gleichschritt gingen sie durch die rückwärtigen Gänge des Centers. »Jetzt benutze ich dich für einen anderen.«

Custo wollte antworten, konnte aber noch nicht einmal stöhnen. Die Schatten würgten ihn. Jetzt musste Jens bemerkt haben, dass er weg war. Entweder würde er den Schutz für Annabella ersetzen, oder vielleicht die Vorstellung wegen des Angriffs durch die Geister abbrechen.

Custos Hände krampften sich zusammen, er musste reflexartig versucht haben, sich festzuhalten. Selbst sein hämmernder Herzschlag wurde von den Schatten erstickt. Wo bringst du mich hin?

»Wenn meine Kathleen nicht im Himmel ist, muss sie woanders sein.« Die Stimme des Todes verlor ihren sarkastischen Ton und klang nun verbittert. »Sie gehört nicht dorthin. Ich habe die Gesetze der Zwielichtlande gebrochen. Ich habe meine Macht missbraucht, um die Grenze zu überschreiten. Welcher Gerechtigkeit wird Genüge getan, indem man sie dorthin schickt?«

Custo blieb nichts anderes übrig als stillschweigend zuzuhören. Mit Gerechtigkeit kannte er sich ohnehin nicht aus.

»Es gibt keine Gerechtigkeit«, schloss der Schattenmann. »Deshalb will ich einen weiteren Handel machen, diesmal mit der Hölle. Ein einfacher Tausch, wie der, den wir am Himmelstor ausgemacht haben. Dich gegen meine Kathleen.«

Die Schatten hielten Custo davon ab, unwillentlich zu erschaudern. Sie erreichten den Hinterausgang, der auf die Straße hinausführte. Von innen konnte Custo einen Geisterschrei hören, Schüsse, Kreischen, dazwischen Sirenen.

Der Schattenmann schlug mit der Hand gegen die Tür und trat hinaus in den Tumult. Als Custo ihm wie angeleint folgte, wehte ihm der üble Gestank von Geistern in die Nase. Über der chaotischen Szenerie schwebten weiße Wolken, die die Lichter der Stadt reflektierten. Verlassene Autos versperrten die Straße. Auf dem Gelände lagen Leichen, sowohl von Menschen als auch von Geistern. Eine Gruppe von Geistern missbrauchte zwei Mitarbeiter aus Segue als menschliche Schutzschilder, während einige andere Geister wie Spinnen an den Mauern der Gebäude hingen und bereit waren zuzuschlagen.

Adam stand mit blutverschmiertem Gesicht auf der anderen Straßenseite und schwang sein Gewehr herum, um in jenem Moment auf den Schattenmann und Custo zu zielen, in dem sie heraustraten. Die Geister riefen verzagt im Chor und erschauderten vor dem Tod.

In der Vergangenheit hatte der Schattenmann seine Sense geschwungen und die Geister damit getötet. Seine Aufgabe bestand darin, die Welt der Sterblichen vom Tod freizuhalten und niemand war so tot wie die unsterblichen Geister. Allein ihr Geruch war Beweis genug. Custo hatte miterlebt, wie die Tochter des Schattenmanns, die Todesfee, ihren Vater mit ihrem Schrei herbeigerufen hatte und er auf dem Gelände des Segue Instituts in West Virginia aufgetaucht war. Damals hatte der Schattenmann wie ein rachsüchtiger Vater gemordet, aber jetzt schien ihm so ziemlich alles egal zu sein.

Als der Tod die Betonstufen herabstieg, blieb Custo nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Adam ließ die Waffe etwas sinken. »Custo?«

Custo konnte nicht antworten. Adam wusste, was er für Annabella tun musste. Adam wusste immer, was zu tun war.

»Custo!« wiederholte Adam lauter. Als er wieder keine Antwort erhielt, richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Schattenmann. Custo las in Adams Gesicht, dass er begriff.

»Halt, Schattenmann!« Adam blickte streng zu den Geistern neben sich, die sich vor dem Tod gruselten.

Der Schattenmann blieb stehen und sah Adam gequält an. »Jeden Augenblick, den ich hier vergeude, muss Kathleen länger in der Hölle leiden.«

»Ich brauche Custo. Er muss mir beim Kämpfen helfen«, sagte Adam.

»Ich brauche ihn, um ihn gegen Kathleen einzutauschen«, erwiderte der Tod eisig.

Adams Blick zuckte zu Custo, doch der wusste, dass Adam in seinem schattenumwobenen Gesicht nichts erkennen konnte.

»Das tut mir leid für sie. Für dich«, erklärte Adam und sah wieder zurück zum Tod. »Aber ich kann nicht gleichzeitig diesen Krieg führen und Talia beschützen.«

Custo bemerkte, wie sich ein dürrer weiblicher Geist an der Ecke eines Gebäudes langsam neben Adam auf den Bürgersteig herabließ, ohne dass er ihn sehen konnte.

»Meine Tochter kann sich selbst schützen«, entgegnete der Schattenmann und zerrte Custo mit sich.

»Sie kann überhaupt nichts«, schrie Adam ihm hinterher. »Sie ist schwanger. Jedes Mal, wenn sie die Schatten berührt, jedes Mal, wenn sie ihre Stimme einsetzt, riskiert sie ihr Leben und das Leben unserer Zwillinge. Bis sie niederkommt, sind wir belagert.«

Wieder blieb der Schattenmann stehen; die Schatten der Straße pulsierten um ihn.

»Was würde Kathleen wollen?«, fragte Adam.

Der Tod senkte den Kopf.

»Hat sie nicht ihr Leben gegeben, um Talia in die Welt zu setzen?«

»Neunundzwanzig Jahre Leiden in der Hölle«, stieß der Schattenmann hervor.

»Das war ihr Tauschgeschäft«, sagte Adam. »Neunundzwanzig Jahre für ihre Tochter und zwei Enkelkinder. Das war ein guter Handel. Der beste

Adams Augen bekamen einen seltsamen Glanz. »Ich brauche Custo, um Kathleens Erbe zu sichern. Hilf uns, diesen Krieg zu beenden. Dann finden wir viel schneller einen Weg, Kathleen zu befreien.«

»Du kannst mir nicht helfen, sie zu befreien, Sterblicher«, zischte der Schattenmann. Dann legte er den Kopf in den Nacken und brüllte zum Himmel. Seine Wut ließ die Luft so heftig erbeben, dass die Energiewellen die Fenster der umliegenden Gebäude sprengten.

Custo spürte, wie sich in ihm etwas zusammenzog, dann bebte die Dunkelheit, die Schattenfäden rissen und ließen von ihm ab. Er fiel auf den Boden und landete mit dem Kopf in den Glasscherben. Durch einen roten Schleier blinzelnd sah Custo, wie der Tod durch die Nacht davonschritt und hinter dem Blaulicht der Polizei verschwand.

Custo stützte sich mit der Hand auf dem Boden ab. Sein Arm zitterte, als er sich in die Hocke hochschob. Er hob den Kopf und sah, wie der weibliche Geist mit ausgehaktem Kiefer und scharfen, ausgefahrenen Zähnen von hinten auf Adam zustürzte. Custo rang nach Luft und schrie: »Adam!«

Als eine Reihe Wilis wie weiße Pfeile über die Bühne flog, zog Giselle Prinz Albrecht an den Rand der Lichtung. Myrtha trat aus den Bäumen hervor und hielt zum Gedenken Rosmarinzweige in der Hand. Wie Giselle waren alle Wilis gestorben, nachdem sie von einem Mann betrogen worden waren, der ihnen zuvor seine Liebe versprochen hatte.

Die Musik unterstrich die Verurteilung, als Myrtha Albrecht in der Sprache des Tanzes verfluchte. Sie deutete auf ihn, du, sie kreiste die Hände über dem Kopf, wirst tanzen, und kreuzte die Handgelenke vor sich, bis zu deinem Tod.

Giselle eilte nach vorn, stellte sich zwischen ihren Geliebten und die Königin und breitete schützend die Arme aus.

Es war zu spät. Myrtha kannte kein Mitleid. Die Wilis sammelten sich wieder am Rand der Lichtung und verhielten sich den Liebenden gegenüber kühl und gleichgültig.

Giselle ging nicht zu ihnen. Wenn Albrecht tanzen musste, dann würde sie mit ihm tanzen. Gemeinsam würden sie die dunkelsten Nachtstunden überstehen, und mit ihrer Liebe würde sie ihn bis zum Morgengrauen tragen.

Sie tanzte auf Spitzen zur Mitte der Lichtung. Die Musik wurde tiefer, eine traurige Geige übertönte die Gefahr.

Annabella begann mit einem langsamen Développé zur Seite, dehnte ihre Gespenstergestalt bis an die Grenzen, strich mit der Hand durch die Luft und neigte sich in eine Arabesque. Ihre Bewegungen wirkten mühelos, knochenlos, als ob die Gesetze der Natur für sie nicht mehr galten.

Einen Augenblick verharrte Annabella und konzentrierte den Blick langsam auf ihre Umgebung. Die Bühne, die zweidimensionalen Bäume, das Publikum, solide Formen, überlagert von einer großen dunklen verzauberten Landschaft, dem Schattenreich.

Ihr Herz zog sich zusammen, ihre Angst schwächte den Zauber. Aber sie fasste sich wieder, denn sie wusste, dass ein Engel auf sie aufpasste.

Albrecht stützte sie bei einer sanften Drehung. Hatte die Promenade zuvor eine Herausforderung für ihre Geschicklichkeit und ihr Gleichgewicht dargestellt, fiel ihr die Bewegung jetzt leicht. Sie musste nicht darüber nachdenken oder sich anstrengen, sondern nur ihrem Gefühl nachgeben, dann kam die Magie von ganz allein.

So könnte es immer sein, sagte seine Stimme in ihrem Kopf.

Auf einmal fiel ihnen die Kommunikation genauso leicht wie die Bewegungen, die sie immer wieder geübt hatten. Offenbar hatte ihre Verbindung während der Aufführung eine neue Stufe erreicht.

Es ist ein Traum. Er kann nicht von Dauer sein, sagte sie sich selbst.

Albrecht hob sie in eine aufsteigende Spirale über seinen Kopf. Die Hebung war eine schwere Übung, bei der sie ihrem Partner absolut vertrauen musste; jetzt flog sie. Die Schwerkraft hatte keinen Einfluss mehr auf sie.

In den Zwielichtlanden ist alles möglich und vor allem bis in alle Ewigkeit. Lass uns ein bisschen hierbleiben.

Ja. Es gab einen bestimmten Grund, wieso sie in diesem Dazwischen bleiben musste, aber der Gedanke verblasste immer mehr. Sie brauchte nur zu tanzen, perfekt zu tanzen, und jemand anders wer? kümmerte sich um den Rest. Sorgte dafür, dass sie sicher nach Hause kam.

Sie verbog ihren Körper, um die Magie voll auszuschöpfen. Um zu sehen, wie hoch sie kam. Albrecht war bei ihr, seine Liebkosungen waren nicht mehr ganz bühnengerecht, aber sinnlich, ein Vergnügen, das tiefer ging als die oberflächlichen Berührungen, die sie immer wieder geübt hatten. Die Hitze in ihrem Rücken trieb eine Welle sinnlicher Lust über ihre Haut, die Hitze kam von ihm und erregte sie. Reizte sie.

Komm zu mir, lockte er stumm. Bleib hier bei mir im Wald.

Das ist nicht real.

Wie real es ist, bestimmst du. Seine tiefe, brummende Stimme mischte sich mit dem Rauschen ihres Blutes. Bleib.

Seufzend begab sich Annabella in die nächste Hebefigur, die Welt um sie herum drehte sich. Hatte sie nicht ihr ganzes Leben davon geträumt, sich so zu fühlen? Hatte sie nicht dafür gearbeitet und ihren Körper täglich gequält?

Bleib bei mir und tanze.

War das möglich?

Die erste Abfolge endete. Das Publikum brachte seine Begeisterung zum Ausdruck, so dass die Zweige der Bäume in den Zwielichtlanden zitterten. »Brava! Bravo!« Die Grenze zwischen den Welten bebte, wodurch die Rufe ohrenbetäubend und gedämpft zugleich klangen.

Annabella atmete tief ein und bereite sich auf ihr erstes Solo vor. Sie öffnete die Arme und vollführte eine Geste Richtung Albrecht, als würde sie ihm eine Handvoll Liebe schenken.

Der Tänzer begegnete ihrem Blick, seine Augen von Lust verhangen. Voller Schatten.

Annabella erstarrte.

Der Wolf.

Der plötzliche Schock brachte ihr wieder zu Bewusstsein, dass sie über einen Herzschlag verfügte und in der realen Welt auf der Bühne stand. Sie riskierte einen Blick zur Seite der Bühne und konzentrierte sich hinter den unzähligen Bäumen auf die Realität. Kein Engel erhellte die Schatten. Custo war weg.

Das Orchester wartete auf sie, während das Publikum sie mit tosendem Applaus bedachte.

Sie blickte zur anderen Seite der Bühne. Wo war er? Sie schaffte das nicht allein. Hatte er sie etwa im Stich gelassen?

Wieso suchst du nach ihm? Er kann dich nicht verstehen. Das verstehen.

Wie konnte Custo sie verlassen?

Tanze, flehte Wolf. Nach dem, was sie miteinander geteilt hatten, war er schlicht Wolf für sie, so viel mehr als jeder andere »Wolf«.

Seine Bitte löste in ihr den Wunsch aus, sich zu bewegen. Er deutete auf die Menge und nahm seinen Platz ein, um ihre Vorstellung anzusehen.

Aber wie konnte sie?

Du hast mich angegriffen. Wolltest mich vergewaltigen. Du hast jemanden umgebracht.

Wolf legte den Kopf schief. Ich wusste nicht, wer du bist und wie diese Welt funktioniert.

Das Publikum begann zu murmeln, man wartete auf sie.

Tanze, wiederholte Wolf. Du willst es, du willst mich.

In einer Schattenwelt, wo die Dunkelheit jede Sicherheit verdeckte, wusste sie ganz genau, dass das stimmte.

Custo beobachtete, wie Adam herumfuhr, seine Waffe hob und begleitet von einer Kakofonie widerhallenden Lärms den Rumpf des weiblichen Geistes durchlöcherte. Der Geist zuckte unter den mehrfachen Einschlägen und sackte dann in sich zusammen, um sich zu regenerieren.

»Was ist mit Annabella?«, schrie Adam.

Custos Glieder fühlten sich wie Gelee an, aber er schaffte es, aufzustehen und sich an der Mauer abzustützen.

Annabella.

Er torkelte zurück zum Eingang. Sie brauchte ihn. Genau in diesem Augenblick konnte der Wolf

Sein Blick verschwamm, als sich etwas von oben auf ihn stürzte. Ein Geist. Custo verlor die Orientierung, ihm wurde schwindelig. Der Geist packte ihn, krallte sich in seine Schulter und benutzte ihn als menschliches Schutzschild.

Doch Custo war kein Mensch. Neue Kraft strömte durch seinen Körper, obwohl der Griff des Geistes an seiner Schulter brannte. Er hatte keine Zeit für diesen Mist; Annabella war allein.

Custo griff hinter sich, packte den Geist am offen stehenden Kiefer und hievte die stinkende Kreatur über seine Schulter. Mit einer weiteren ohrenbetäubenden Salve erwischte Adam das Wesen mitten in der Luft. Der Geist zappelte immer noch, als er auf den Bürgersteig krachte, deshalb beugte Custo sich vor und brach dem Mistkerl das Genick, damit er länger brauchte, um sich zu erholen. Custo wischte sich die Hände an der Hose ab, aber der widerliche Gestank blieb.

Ein anderer Geist sprang auf ein Auto, riss mit markerschütterndem Lärm, bei dem jede normale Person taub geworden wäre, die Motorhaube heraus und kam die Straße hinunter.

»Custo!«, schrie Adam.

Custo konzentrierte sich auf den neuen Geist. Mit der Kühlerhaube als Schutzschild, konnte er sehr nah an Adam herankommen. Wenn Adam keine Waffe mehr hatte, war der Kampf vorbei. Verdammt, und der Geisterkrieg wahrscheinlich auch.

Der Geist schwang die Motorhaube wie ein verformtes Frisbee in Adams Richtung. Custo warf sich in die Schusslinie, das Metall krachte schmerzhaft gegen seine Rippen, hinterließ eine blutende Wunde und zwang ihn in die Knie. Flüssiges Kupfer strömte in seinen Mund. Jeder brennende, keuchende Atemzug fühlte sich an wie der letzte eines Ertrinkenden.

Wieder hallten Adams Schüsse durch die Nacht. »Custo! Sieh nur!«

Langsam hob Custo den Blick, blieb jedoch auf dem ersten zusammengebrochenen Geist liegen. Der Hals des Geistes, dem Custo das Genick gebrochen hatte, war verdreht, der Rest des Wesens verwandelte sich in graue fleischartige Asche. Seine Knochen schienen unter der ledernen Haut zusammenzubrechen. Bei dem Geruch, der von dem Wesen ausging, musste Custo würgen.

Der Geist war tot und würde sich nicht mehr erholen.

»Wie hast du das gemacht?«, schrie Adam.

Custo atmete ein, der Schmerz verwandelte sich in ein allgemeines Ziehen, mit dem sich seine Rippen wieder zusammensetzten.

Er hatte keine Ahnung, wie er das gemacht hatte. Wahrscheinlich irgendeine Engelsgeschichte, aber er konnte nicht bleiben, um es herauszufinden.

Wankend stand er auf und wischte sich mit dem Arm zitternd das Blut von Mund und Schläfe. Die paar noch übrig gebliebenen Geister glotzten ihn erstarrt aus riesigen Augen an und musterten verblüfft die Leiche ihres Freundes.

»Ich muss zu Annabella«, sagte Custo.

Ein Schuss ertönte. Etwas biss ihn in die Seite. Er blickte hinunter, als eine weitere glühende Kugel ihn am Arm erwischte und ihn zurück auf den Boden beförderte.

Sein Blick verschwamm, vor seinen Augen tanzten weiße Punkte. Warme Flüssigkeit breitete sich auf seiner Haut aus und klebte sein Hemd an seiner Seite fest, während eisige Kälte in seine Knochen kroch. Weitere Schüsse hallten durch die Luft, aber er war weder in der Lage ihre Quelle noch ihr Ziel zu orten. Er konzentrierte sich ganz auf das Brennen, das Heilung verhieß.

Aber es blieb aus.

Plötzlich wurde Custo am Arm nach oben gerissen. Seine Beine gaben nach, so dass er auf den Knien landete. Um ihn tobte ein Kampf, ein Schuss ertönte, Schreie. Er hörte, wie Adam rief: »Hier!« Aber Custo hatte keine Ahnung, mit wem er sprach.

Custo spähte in den trüben Himmel und blinzelte, um scharf zu sehen.

Luca blickte auf ihn herab. »Ich dachte schon, wir hätten dich verloren. Na gut, reiß dich zusammen, und setze deinen faulen Hintern in Bewegung.«

Luca ließ ihn los und tauchte in der Schlägerei ab. Schwach und hilflos beobachtete Custo den Straßenkampf, der um ihn herum tobte. In seinen Augen wirkte jede Bewegung wie ein eigenartiger bunter Regenbogen. Alles schien verformt. Er entdeckte Adam, dessen Miene zugleich angespannt und erfreut wirkte. Auch das schien ihm nicht richtig; Adam war immer besorgt, er konnte nicht glücklich aussehen. War der Schattenmann zurückgekehrt? Tote Geister füllten die Gasse mit ihrem Gestank. Der widerliche Geruch brannte Custo in der Nase.

Nein, nicht der Tod. Andere hatten sich dem Kampf gegen die Geister angeschlossen. Er kannte ihre Gesichter nicht, aber sie waren wunderschön, ihre Haut vollkommen, ihre Augen zu wachsam, um menschlich zu sein. Dann erkannte Custo sie: Engel. Einer hielt eine gefährlich aussehende kurze Klinge in der Hand, der Schaft am Griff wie ein Dreizack geformt. Custo konnte beinahe hören, wie sie singend durch die Luft flog. Eine tödliche Waffe gegen Geister.

Langsam nahm die Welt Gestalt an. Die verschwommenen Farben sammelten sich an den richtigen Stellen. Die Formen der Gebäude und Körper erhielten ihre Konturen zurück. Und ein heftiges Brennen tobte in seinem Magen. Endlich hatte der Heilungsprozess eingesetzt.

Annabella.

Custo öffnete seinen Geist, um sie zu suchen. Er fegte durch Tausende von Zuschauern, die Kreise der Scheinwerfer sammelten sich auf der Bühne, die Leute warteten in den Flügeln.

Custo suchte nach dem strahlenden Geist, der ihn zurück ins Leben geholt hatte, und fand gerade noch ein schwaches Flackern von ihm.