18
Annabella wusste, wie kalt und Furcht einflößend die Betonzellen unterhalb von Segue sein konnten, vor allem der Geruch von den eingesperrten Geistern. In dem Verhörraum, in dem Adam Dr. Powell festhielt, bis Annabella und Custo sich umgezogen hatten, stank es besonders widerlich. Das Gesicht grün vor Ärger richtete Dr. Powell den Kittel über ihrer Bluse, rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum, schlug die Beine übereinander und stellte sie wieder auf dem Boden ab. Die Frau wirkte trotzig und verschüchtert zugleich.
Annabella saß in dem benachbarten Beobachtungsraum und kämpfte mit ihrem Gewissen: Im Grunde hatte sie die Frau in die Zelle verfrachtet. Doch Adam tat das Richtige: Lieber handelte er übervorsichtig und entschuldigte sich später dafür. Was bedeutete, dass Annabella ihm wohl seine herzlose Festnahme verzeihen musste. Verdammt.
Custo stellte ein paar gezielte Fragen und nickte Adam kaum merklich zu. Verräterin.
Rätsel gelöst. Stellte sich die Frage, warum. Eine Antwort darauf zu bekommen, konnte dauern und erforderte starke Nerven sowie ein sorgfältiges Verhör. Annabella und Adam mussten warten, bis Custo fertig war, bevor sie die wahre Geschichte erfuhren.
Entspannt widmete sich Custo einer ausgiebigen Befragung und achtete sorgfältig darauf, Dr. Powell nicht darauf zu stoßen, dass er ihre Gedanken lesen konnte; ansonsten würde die Ärztin sich an einen »glücklichen Ort« zurückziehen. Dann würde er nichts Nützliches aus ihr herausbekommen. Gedankenlesen schien ziemlich schwierig zu sein. Was Annabella anging, war das ein recht kleiner Trost.
Ihr Magen knurrte. Die Abenteuer bekamen ihrer Tänzerdiät jedenfalls hervorragend. Das chinesische Essen war köstlich gewesen, aber sie hatte es bereits vor Stunden verbrannt und spürte schon wieder unglaublichen Hunger. Die Ernsthaftigkeit der Situation und Adams steife Haltung hielten sie jedoch davon ab, etwas zu sagen. Jetzt war eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt. Egal, sie kämpfte seit ihrem vierzehnten Lebensjahr gegen ihren Appetit. Sie konnte noch etwas länger warten.
Annabella konzentrierte sich darauf, wie Custo die Gedanken der Ärztin erforschte. Er streifte ein paar Themen am Rande – Hintergrund, Erziehung, die Entscheidung, in Segue anzufangen – und fragte dann gezielt nach der Verbindung zu den Geistern, die die Ärztin weiterhin leugnete.
»Custo hat mir erzählt, dass du auf Dr. Powell gekommen bist«, sagte Adam, hielt den Blick aber auf die Scheibe gerichtet. Selbst von der Seite wirkte er krank, gestresst und unglücklich. »Ich hätte selbst darauf kommen müssen, aber ich dachte …« Er brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. »Vor ein paar Jahren haben die Geister unseren Sitz in Sweet Virginia angegriffen. Ein Verräter hatte unsere Waffen gestohlen und unsere Flucht sabotiert. Ich dachte, dass nur Spencer daran beteiligt gewesen wäre, aber es sieht so aus, als habe er eine Komplizin gehabt. Talia hat uns damals allen das Leben gerettet, einschließlich Gillian. Ich bin vollkommen schockiert, dass sie versucht, ihr zu schaden.« Adam wandte Annabella jetzt sein Gesicht zu. »Danke. Wenn sie Talia etwas angetan hätte …«
»Aber das hat sie nicht«, erwiderte Annabella schnell. »Talia ist in Sicherheit. Die Babys ebenso. Und du hast deine Verräterin. Alles kommt in Ordnung.«
Armer Adam, der werdende Vater. Er musste sich Vorwürfe machen, dass er in Anwesenheit der Ärztin geplappert hatte. Wirklich dumm. Er liebte seine Frau wohl sehr, wenn er ganz vergessen hatte, dass Talia nicht die einzige Person im Raum gewesen war.
»Wusstest du, dass Custo Jazzgitarre spielen kann?«, fragte Annabella, um ihn abzulenken.
Adam blinzelte und nickte kurz. »Ich habe ihn einmal spielen hören. Ich musste mich verstecken, damit er mich nicht sieht. Er war sehr gut.«
»Er ist unglaublich«, korrigierte Annabella. In ihrer Gegenwart nannte niemand Custos Spiel einfach nur »sehr gut«. Ein Talent erkannte ein anderes Talent: der Mann, ihr Engel, war ein Genie.
Adam zog forschend und zugleich mitleidig die Augen zusammen. »Du liebst ihn.«
Annabella wollte sein Mitleid nicht. Sie wollte die Ausweglosigkeit ihrer Situation nicht auswalzen, schließlich entstand Liebe aus Hoffnung. Ihre Verbindung mit den Zwielichtlanden hatte ihr gezeigt, dass alles möglich war.
»Er liebt mich auch«, erklärte sie trotzig. Sie sagte es weniger zu Adam als zu sich selbst. Gab es, abgesehen von dem Wolf, eine Zukunft für sie und Custo? Er hatte nichts gesagt, und sie hatte sich nicht getraut zu fragen.
»Wenn er dich mit zu dem Loft genommen hat, muss er dich lieben. Ich selbst habe es nicht geschafft, noch einmal dorthin zu gehen, seit das passiert ist. Ich sehe ihn zwar jetzt hinter dieser Scheibe sitzen, aber der Schmerz ist noch zu frisch.«
In Annabellas Hals bildete sich ein Kloß. Adam war der Einzige, mit dem sie wahrscheinlich je darüber sprechen konnte, und vielleicht bot sich eine solche Gelegenheit nie wieder. »Die Einschusslöcher haben mich …« Sie fand nicht das richtige Wort. »Sie waren so hässlich und so grausam. Ich kann mir nicht vorstellen …«
»Wäre Custo durch einen Schuss gestorben, hätte er Glück gehabt. Das ist ein schneller Tod.« Adam biss die Zähne zusammen, die kleine Ader an seiner Schläfe trat hervor. »Aber nein, Spencer, dieser Scheißkerl, musste ihn foltern. Ihn zugrunde richten. Natürlich hat Custo, dieser dumme selbstlose Kerl, alles ausgehalten, damit Talia und ich flüchten konnten.«
Gefoltert? Ihre Brust schnürte sich zu.
Annabella musterte Custos Gesicht, er durchbohrte Dr. Powell mit seinem Blick. Wenn er mit der Ärztin fertig war, musste sie ihn noch einmal überall lieben, bis das heftige Gefühl nachließ, das diese Information in ihr ausgelöst hatte.
»Er hat mich vom ersten Tag an beschützt«, sagte Adam, »hat immer das Schlimmste übernommen. Meine Schlachten geschlagen.«
Annabella lächelte schwach. »Er hat etwas Ähnliches über dich gesagt.«
Adam schwieg und starrte in den Raum, in dem Custo die Ärztin mit einer Frage nach der anderen festnagelte. Schließlich sagte er: »Danke jedenfalls. Sag Bescheid, wenn ich irgendetwas für dich tun kann.«
Annabellas Magen knurrte erneut, aber damit würde sie ihn nicht belästigen. Nachdem der Wolf immer noch nicht wieder aufgetaucht war, konnte sie genauso gut ihre Mutter anrufen und die Standpauke hinter sich bringen.
»Hast du ein Telefon?« Bei ihrem Telefon war schon lange der Akku leer, es lag als glänzender Klotz in ihrer Trainingstasche.
Adam reichte ihr ein schmales Mobiltelefon. Sie starrte auf die Oberfläche und versuchte herauszufinden, wie man den obermodernen Bildschirm einschaltete. Vielleicht konnte sie dann wählen. Natürlich nur, wenn sie hier unten ein Netz bekam. Adam griff zu ihr herüber und betätigte einen Knopf. Das Gerät leuchtete auf.
Ja, Adams Telefon fand ein Netz. Vermutlich hatte es ein Vermögen gekostet.
Feige, wie sie war, hörte sie zuerst ihre Nachrichten ab. Vier Stück.
Die erste stammte von ihrer Mutter, die beunruhigt war, weil sie sie nach der Vorstellung in ihrer Garderobe verpasst hatte. Zudem sorge sie sich, weil sie gehört habe, dass es hinter dem Gebäude zu einem Zwischenfall mit Geistern gekommen sei. Zum Glück sei niemand verletzt worden. Dann schlug sie einen Bogen zu Annabellas »Verabredung« vom Vortag und fragte sich laut, ob sie den Jungen wohl kennenlernen würde. Zu Deutsch: Wie sehr gefällt er dir? Annabella gefiel der Junge sehr, aber ihre Mutter würde sobald keine Details erfahren. Löschen.
Es folgten zwei Nachrichten von Venroy, eine Erinnerung an den Empfang und anschließend ein Tadel wegen ihres frühen Abgangs. Da war nichts zu machen. Sie konnte sich nur entschuldigen und bereuen und bis zur nächsten Vorstellung in zwei Tagen die Wogen glätten. Löschen.
Die nächste Nachricht stammte wieder von ihrer Mutter, die lachte und sagte: »Das musst du dir anhören!« Es folgte ein statisches Rauschen, dann ein dumpfer Ton, und schließlich ertönte in der Ferne ein Jaulen, das sogleich wieder erstarb. Bei diesem Geräusch gab es kein Vertun.
Ein hohes, lang gezogenes Heulen, das langsam abfiel, nur um wieder anzusteigen und sich zu halten.
Annabella umklammerte das Fenstersims vor sich. Der gesamte Sauerstoff schien aus dem Raum verschwunden. Ihr Kopf hämmerte. Alles um sie herum drehte sich.
Wieder hörte sie ihre Mom, die lachend sagte: »Das macht er schon seit Stunden. Die Hunde in der Nachbarschaft drehen allesamt durch. Es klingt, als wäre er direkt unter meinem Fester, aber ich kann nichts sehen. Ich habe den Tierschutzverein angerufen und hoffe, dass ich heute Nacht noch etwas Schlaf bekomme. Ruf mich an, wenn du kannst. Alles Liebe.«
Eine monotone weibliche Stimme fragte Annabella, ob sie die Nachricht löschen, speichern oder noch einmal abspielen wollte.
»Alles okay?«, fragte Adam.
»Ich muss zu Hause anrufen.« Mit fahrigen Händen nestelte Annabella an dem Telefon herum, um das Gespräch mit der Mailbox zu beenden, und rief ihre Mutter an.
Es klingelte einmal, zweimal, dreimal …
»Hallo?«
Oh, Gott sei Dank. Tränen brannten in Annabellas Augen. »Mom! Geht es dir gut?«
»Ich bin müde«, erwiderte sie. »Hast du meine Nachricht gehört?«
»Ja«, krächzte Annabella. Der Wolf. Jaulte. Vor dem Haus ihrer Mutter. Sie hatte verstanden.
»Der verdammte Hund hat mich die ganze Nacht wach gehalten. Erinnerst du dich noch an deinen? Der dir von der Probe nach Hause gefolgt ist!?«
»Ja«, sagte sie wieder. Es war derselbe Hund. Der Wolf. Er hatte aufgehört, Annabella zu verfolgen, und stattdessen ihrer Mutter einen Besuch abgestattet. Ihrer Mom.
Annabella brauchte Custo. Sie blickte durch die Scheibe zu ihm, aber er sah nicht zu ihr. Er war ganz auf Dr. Powell konzentriert.
Ihre Mom fuhr fort: »Ich muss eingedöst sein, denn ich habe ihn im Haus gesehen, in meinem Schlafzimmer, aber es war gar kein Hund.«
Ein Wolf.
»Ich habe schon lange keinen Albtraum mehr gehabt, bei dem ich hinterher das Licht anlassen musste. Ich wusste nicht, dass mir das überhaupt noch passieren kann. Meine Albträume haben aufgehört, nachdem ihr Kinder da wart. In meiner Vorstellung war nur noch Platz für die Realität, in der ich für die Sicherheit und für die Gesundheit meiner Kinder sorgen musste. Als dein Bruder seinen Führerschein bestanden hat … mir wird immer noch übel, wenn ich daran denke. Aber das verstehst du erst, wenn du eigene Kinder hast.«
»Ich glaube, ich verstehe es jetzt, Mom.« Diese Art von Angst empfand man, wenn man jemanden liebte.
»Der Tierschutzverein ist jedenfalls nicht gekommen, aber der Hund ist weg. Und dein Bruder hat mir den Rest meines guten Kaffees geklaut, ich werde ihn wohl umbringen müssen.«
Der Wolf hatte sich letzte Nacht nicht vom Kampf mit Custo erholt. Er war damit beschäftigt gewesen, ihre Mutter zu schikanieren. Auch wenn Annabella es nicht sehen wollte, lag es auf der Hand: Solange sie nicht nachgab, würde der Wolf wieder töten, und zwar jemanden, der ihr nahestand. Custo konnte nicht überall gleichzeitig sein, und wenn er es versuchte, würde er selbst umgebracht werden. Dafür war seine Schusswunde Beweis genug. Es blieb keine Zeit, einen anderen Weg zu finden, den Wolf zu fangen, oder ihn zurück in die Zwielichtlande zu treiben.
»Ach, und Marne vom Pretty Ballerina Tanzstudio hat angerufen und gefragt, ob du vorbeikommen und mit ihren Fortgeschrittenen sprechen würdest. Sie sagt, du wärst ein Vorbild für sie.« Die Stimme ihrer Mutter war voller Stolz.
Mit dem Tanzen aufzuhören, um der Bedrohung durch den Wolf ein Ende zu machen, schien entsetzlich, aber denkbar.
»Süße?«
Zuzulassen, dass der Wolf ihrer Mom oder ihrem Bruder oder Custo etwas antat … Darüber musste sie gar nicht erst nachdenken.
Annabella räusperte sich, um ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. »Ja, Mom. Ich bin da. Hör zu, ich muss los.«
Custo hatte sich für Adam geopfert, der für ihn so etwas wie seine Familie darstellte. Annabella konnte sich für ihre Mom und für ihn opfern. Ganz einfach. Egal, wie groß ihre Angst war – und ihre Panik wuchs stetig –, sie musste sie verdrängen. Sollte ein Teil ihres Gehirns warnend aufschreien, was es bereits tat, würde der Rest dennoch das Nötige tun. Sie brauchte lediglich etwas Durchhaltevermögen, und das hatte sie ihr Leben lang geschult.
»Was ist mit Marne?«
»Sag ihr zu, Mom« antwortete Annabella. Es war egal. »Ich muss jetzt wirklich los. Alles Liebe.«
Sie musste von Adam und Custo fortkommen, die sich von der zunehmend fahriger werdenden Dr. Powell ablenken ließen:
»Ich weiß nicht, worauf du anspielst mit …«
»Ich muss in meinen Notizen nachsehen …«
»Nein, ich habe nie Informationen weitergegeben …«
Es gab keinen besseren Zeitpunkt. Leise schlich Annabella zur offen stehenden Tür.
Wenn sie zögerte, verstrich die Gelegenheit ungenutzt, also war Annabella mit drei leisen Schritten aus der Tür und stand im Flur.
Jeden Augenblick würden Custo oder Adam ihre Abwesenheit bemerken. Sie musste aus Segue entkommen, irgendein vertrautes Tanzstudio suchen und dort vielleicht ein bisschen Talent entfachen, um die Grenze zu überschreiten. Sie hätte in der Nacht der Galavorstellung mit dem Wolf gehen und diesen Albtraum beenden sollen, bevor er richtig angefangen hatte.
Während sie durch den unterirdischen Tunnel rannte, wurde sie von Videokameras verfolgt. Sie hörte jemanden schreien, blieb aber nicht stehen.
Selbst dann nicht, als sie den Wolf an ihrer Seite spürte, der neben ihr herlief.
Natürlich war der Wolf bei ihr und wartete darauf, dass seine Falle zuschnappte. Er musste da sein, wenn sie schon begriff, dass er einen Köder gefunden hatte, mit dem er sie umstimmen und bewegen konnte, sich der Sicherheit ihrer Beschützer zu entziehen.
Sie hatte nicht an den riesigen, codegesicherten Ausgang gedacht und war überrascht, das schwere Metalltor offen vorzufinden. Sie rannte hindurch, als es sich gerade wieder schloss. Der Wolf sprang in einem Schattenschleier hindurch.
Auf der anderen Seite stand Zoe allein in dem weitläufigen Tunnel und wirkte gelangweilt und wichtig. Ungeschminkt und in den gleichen übergroßen Trainingsanzug aus Segue gekleidet wie Annabella, sah sie seltsam aus.
Annabella stolperte und blieb stehen. Der Wolf kauerte knurrend neben ihr, bereit, Zoe den Hals aufzureißen.
Das Mädchen schien sich nicht darum zu scheren. »Da entlang«, sagte sie und machte eine mürrische Geste. »Abigail meint, das wäre die einzige Möglichkeit. Bei allem anderen würden eine Menge Menschen sterben.«
Zoe deutete auf einen nicht weiter bezeichneten Betondurchgang.
»Ist das der Weg nach draußen?«, fragte Annabella, die glaubte, sie befänden sich tief unter der Erde. Der große gelbe Aufzug befand sich auf der anderen Seite von Zoe.
»Ein Lager«, sagte Zoe.
»Abigail will, dass ich in einen Lagerraum gehe? Wieso?«
Zoe zuckte mit den Schultern. »Der Code lautet 852137. Sie hat die ganze Nacht gebraucht, um das herauszufinden, während du unterwegs warst und ein bisschen gevögelt hast. Abigail ist das auch nicht entgangen; die Festnahme-Position hat ihr am besten gefallen. Sie meint, das wäre verdammt heiß, aber die Nummer, bei der Custo dein Bein hochgehoben hat …«
Der Wolf knurrte tief in seiner Brust.
Annabella errötete. Bei der Vorstellung, dass ein Voyeur Custo und sie letzte Nacht beobachtet hatte, wurde ihr übel. Aber wenn Abigail das gesehen hatte …
»Mach schon«, sagte Zoe.
… wusste sie vielleicht auch einen Weg, aus Segue herauszukommen.
Annabella hatte keine Ahnung, wie sie sich den Code gemerkt hatte. Aber das kleine Licht sprang auf Grün, das Schloss klickte. Sie griff den Hebel und drückte. Der Wolf drängte sich an ihr vorbei, und sie folgte ihm in die Dunkelheit.
Die Tür schloss sich mit einem bedrohlichen leisen Klicken, Angst ergriff sie. Sie war mit dem Wolf allein im Dunkeln. Sie spürte sein struppiges Fell an ihrem Körper, seine Schnauze an ihrem Schritt. Sein schnelles Keuchen und ihr ersticktes Atmen erfüllten den Raum. Ein Schrei drängte ihre Kehle hinauf. Sie biss die Zähne zusammen und unterdrückte ihn, kalter Schweiß trat auf ihre Haut.
Licht, schlug ein halbwegs vernünftiger Teil ihres Gehirns vor.
Zitternd tastete sie nach einem Lichtschalter, fand ihn und legte ihn um. Dann sackte sie gegen die kalte Betonwand hinter sich und versuchte sich daran festzuhalten, um ihre schwachen Nerven zu stärken.
Der Wolf wich einen Schritt zurück und musterte sie, dann bellte er. Es war ein unbestimmtes Geräusch, aber sie verstand den Befehl. Tanze!
»Das geht hier nicht. Ich versuche, einen anderen Ausweg zu finden«, erklärte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Custo hatte ihr erklärt, sie müsse lernen, die Magie zu beherrschen. Aber dazu blieb jetzt keine Zeit mehr.
Das Tier knurrte wütend, während sie sich in dem voll gepackten Raum umsah, der wenig Platz bot. Es gab keinen Ausweg. Es roch metallisch und zugleich staubig alt, aber deutlich besser als in den Geisterzellen. Neben ihr standen hohe Paneele, die mit weißen Laken abgehängt waren und die Kartons und Kisten dahinter verdeckten. Vielleicht gab es dort oben einen Fluchtweg. Andernfalls war sie gefangen. Custo und Adam würden sie jeden Augenblick finden. Und der Wolf angreifen.
Annabella brachte so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den knurrenden Wolf und bewegte sich Stück für Stück auf die Kisten zu. Sie erklomm einige davon, sah aber nichts als weitere Kisten, deren Holz nicht sehr stabil wirkte. Wo ging es nach draußen?
Wieder bellte der Wolf. Vor Angst zitternd drehte sie den Kopf in seine Richtung.
Er stand vor einem der größeren Paneele. Das Laken war herabgefallen.
Annabella reckte den Hals, um zu sehen, was ihn störte. Es war eines von Kathleens Gemälden, das das weite Jenseits der Zwielichtlande zeigte.
Annabella kletterte herunter und riss die Tücher von den anderen Paneelen. Unter allen verbargen sich Kunstwerke von Kathleen. Drei Gemälde erinnerten stark an die, die sie in Adams Wohnung gesehen hatte. Sie untersuchte sie genauer und stellte fest, dass es dieselben Bilder waren. Es gab keinen Zweifel.
Wieso waren sie hier? Wieso verbannten sie Kathleens Kunst und verschlossen sie in den unterirdischen Gängen von Segue?
Der Wolf drückte sich an ihre Beine und drängte sie vorwärts. Sein Schwanz strich über ihre Schenkel, sein Knurren vibrierte auf ihrer Haut. Sie zuckte zusammen, als sie daran dachte, was sie wohl erwartete. Ihr Körper verspannte sich, aber nicht aus Lust. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. Sie wollte den Wolf nicht mehr, nicht auf diese Weise. Überhaupt nicht. Sie liebte Custo. Der Wolf mochte sie ausgetrickst haben, damit sie ihm in das Schattenreich folgte, aber er konnte sie nicht wirklich erreichen. Nicht nach ihrer Nacht mit Custo. Dieses Wissen war so befriedigend, dass sie daraus neue Kraft schöpfte, obwohl sich ihr Magen verkrampfte und in ihr ein Beben aufstieg.
Annabella wandte sich wieder dem großen Gemälde zu. Es zeigte ein schattiges Wäldchen, alterslose Bäume erstreckten sich nach oben über die Grenzen der Leinwand hinaus. Obwohl die Landschaft von Dunkelheit durchzogen war, hatten die Stämme, die knorrigen Äste, die herabhängenden dunkelroten Blätter eine ganz eigene Leuchtkraft, einen Schimmer von Magie. Sie entstammten Kathleens Fantasie, sie hatte sie mit dem Pinsel auf die Leinwand gebannt. Wenn Annabella zuließ, dass ihre Augen den Fokus verloren, konnte sie beinahe sehen, wie sich die Zweige bewegten.
Oh.
Abigail hatte ihr einen Weg nach draußen gezeigt. Den mit der wenigsten Gewalt verbundenen, wie Zoe gesagt hatte.
Tränen brannten in Annabellas Augen; sie wollte nicht gehen. Blanke Panik ergriff sie. Ein Teil von ihr wollte sich wie ein kleines Kind hinter Custo oder ihrer Mutter verstecken. Aber sie musste für sie sorgen. Sie musste tun, was notwendig war.
Das Knurren des Wolfes wuchs und entlud sich in einem Bellen.
Heiße, nasse Tränen rannen über Annabellas Wangen. Sie musste nicht tanzen; direkt vor ihr befand sich ein anderes Transportmittel. Es erforderte lediglich eine veränderte Wahrnehmung, die Verschmelzung von Realität und Fantasie, schon gewannen die Bäume an Tiefe, berauschendem Duft und Kontur. Das Schattenreich befand sich immer in der Nähe.
Für Mom. Custo. Und alle anderen.
Sanft legte Annabella ihre zitternde Hand auf die Leinwand und wünschte sich hinüberzutreten. Die Magie durchströmte sie, rauschte erregend durch ihr Blut und überlief ihren Körper.
In ihrer Brust erwachte ein intensiver Impuls, sie gab sich ihm hin und ließ sich von ihm treiben. Der Wolf keuchte an ihrer Seite. Im einen Augenblick war sie in Segue, im nächsten in …
Custo lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schüttelte den Kopf über Dr. Powell. »Du sagst uns nicht die Wahrheit, Gillian, nicht die ganze jedenfalls. Wir haben Beweise, dass du mit jemandem außerhalb von Segue Kontakt aufgenommen hast.«
Ihre verbalen Äußerungen interessierten ihn nicht; er konzentrierte sich auf das mentale Durcheinander im Kopf der Ärztin, das wie ihre Zusammenarbeit mit den Geistern verwirrend und konfus war.
Er kann nichts wissen von … Ich bin doch so vorsichtig gewesen.
Er würde sie nicht gehen lassen, bis er alles aus ihr herausgequetscht hatte. Aber verdammt, es fühlte sich gut an, mit dieser Frau in einem Raum zu sitzen und über sie Bescheid zu wissen. Sie war die Verräterin, die so schwer zu fassen war. Ihretwegen war er in die sterbliche Welt zurückgekehrt.
Custo beugte sich wieder nach vorn, stützte sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab und verschränkte die Hände, damit er nicht in Versuchung geriet, die Frau zu schütteln, um an Antworten zu kommen. »Hör zu, Adam vertraut dir, was Talia angeht. Er wird verstehen, wenn man dich manipuliert oder genötigt hat, Informationen weiterzugeben.« Eine Lüge. Custo war ziemlich sicher, dass Adam Dr. Gillian Powell für den Rest ihres unglückseligen Lebens einsperren wollte. Vielleicht wäre er sogar versucht, die Knochen der Ärztin einem dieser stinkenden Geister vorzuwerfen und beiden zu geben, was sie wollten.
Dr. Powell presste die Lippen aufeinander und bewahrte ihr Geheimnis für sich.
»Wie hast du Kontakt zu den Geistern aufgenommen?«
Talias Telefon. »Ich habe doch gerade gesagt, dass ich keinen Kontakt mit den Geistern hatte.«
Adam musste Talias Anrufliste durchgehen. »Welchen Vorteil hast du davon?«
Den letzten Becher Unsterblichkeit. Ich will nicht sterben. Bin einmal ganz kurz davor gewesen. »Das habe ich dir bereits gesagt. Ich weigere mich, die Frage noch einmal zu beantworten. Ich verlange einen Anwalt.«
Unsterblichkeit? War das immer noch möglich?
Adam hatte ihm von der Spucke des Dämons erzählt, die lebende Tote schuf, eine Perversion des Heiligen Grals. Anscheinend war immer noch etwas davon übrig, vielleicht hatte man sie vom Boden der Styx, einem Schiff, gekratzt. Jeder war verführbar; wer wollte nicht jung bleiben, für immer leben? Offenbar hatte Spencer Gillian in Segue angeheuert, sie umgarnt. Ihr Erlebnis mit dem Tod hatte ein Übriges getan. Anscheinend hatte sie vergessen, wie grausam das Leben als Geist war.
»Wir sind hier fast fertig«, sagte Custo. »Ich weiß, dass das unangenehm ist, aber ich muss diese Fragen stellen. Das ist Routine. Heute Morgen habe ich gerade eine Einheit Soldaten verhört.«
Sie wand sich auf ihrem Stuhl.
»Was wollen die Geister?«
Dr. Powell musterte ihre Fingernägel – Talias Babys. Die Geister wollen Talias Kinder –, dann sah sie auf, blickte ihn mit unschuldigem Blick an und zuckte die Schultern.
Custo drehte den Kopf zur Seite, damit sie seinen angewiderten Ausdruck nicht sah. Die Frau war eine Bedrohung, schlimmer als die Geister, denn als Mensch musste sie noch einen Funken Menschlichkeit in sich tragen. Talias Babys waren etwas Besonderes, wie Talia selbst, aber Kinder zu rauben, war einfach mehr als widerlich. Und dabei zu helfen, nicht weniger verwerflich. Zumindest war jetzt klar, welche Gefahr Talia und ihren ungeborenen Kinder drohte.
Custo lächelte die Ärztin schief an. »Wann hattest du zum letzten Mal Kontakt mit den Geistern?«
Gestern. Am Turm. Ich musste den Geistern davon berichten. Aber sie sagte: »Ich hatte nie irgendeine Form von Kontakt mit den Geistern.«
Custo wurde ganz ruhig, kalte Angst kroch sein Rückgrat herauf. »Und wieso hast du ihnen dann von dem Turm berichtet?«
Dr. Powell biss die Zähne zusammen, verschränkte die Arme und sah ihn voller Misstrauen an.
Richtig. Letzteres hatte sie nicht ausgesprochen. Jetzt hatte er es vermasselt. Mist.
Custo rieb sich über den Schädel, um seine Durchblutung anzuregen. Er musste nachdenken, einen Weg finden, das wieder einzurenken. Wahrscheinlich musste er auf ganz andere Themen ausweichen und sich von …
Da brach ein Alarm los und hallte ohrenbetäubend laut von den Betonmauern wider.
Custos Konzentration war dahin. Sein Blick zuckte zu dem Beobachtungsfenster, aber von dieser Seite aus konnte er nicht hindurchsehen. Dann suchte er nach Adams Gedanken, um herauszufinden, was geschehen war.
Doch Adam befand sich nicht mehr in dem Beobachtungsraum. Er war außerhalb des Warteraums und dachte intensiv Annabella ist weg. Annabella ist weg.
Custo schoss hoch und stürzte zur Tür. Er schlingerte um die Ecke. Als er den Hauptflur erreichte, rannte er.
Wie hatte ihm entgehen können, dass Annabella verschwunden war? Es hatte keine alarmierenden Schreie gegeben, keine Kampfgeräusche. Das hätte er bemerkt. Hatte man sie überwältigt? Er war zu sehr von dem Verhör abgelenkt gewesen, hatte sich ganz auf eine Sache, auf eine Person konzentriert und womöglich für einen Augenblick den Rest der Welt vergessen. Einen unglücklichen Moment lang.
Er lief an einem Soldaten vorbei, schrie, »Nehmt Dr. Powell fest«, und rannte weiter.
Im Rhythmus mit seinem hämmernden Herzen tönte jeder Schritt Anna, Anna, Anna, Anna.
Custo las Adams Gedanken, damit er auf die Situation vorbereitet war. Er konnte Adam kaum verstehen, der sich ermahnte, dass er keine Frauen schlagen dürfe.
Als Custo einen großen Keller betrat und Adam im Streit mit Zoe vorfand, verstand er den Grund. Der gelbe Aufzug fuhr herunter und brachte eine Einheit Soldaten, die auf den Alarm reagiert hatten.
»Du meinst, der Wolf war bei ihr?«, fragte Adam harsch.
Zoe wickelte eine Haarsträhne um ihren Finger. »Ja.«
»Aber du willst nicht sagen, wohin sie gegangen sind?«
»Nein.«
Wütend erhob Adam die Stimme. »Warum? Annabellas Leben ist in Gefahr.«
»Weißt du, ich glaube, dein Ton gefällt mir nicht«, sagte Zoe, während sie eingehend ihre Haarspitzen untersuchte.
Auch Custo hätte sie am liebsten geschlagen, aber er ballte die Hände zu Fäusten und zwang sich, freundlich zu sein. »Bitte. Annabella bedeutet mir alles. Sag mir, wohin sie gegangen ist.«
Zoe seufzte schwer. »Wie spät ist es?«
»7.14 Uhr«, erwiderte Adam präzise.
»Ich glaube, das reicht«, sagte Zoe. Sie blickte zu Custo, deutete jedoch auf eine graue Tür. »Sie ist dort drin.«
Natürlich war die Tür mit einem Code gesichert. Custo kämpfte mit seiner Verzweiflung, während Adam eine Zahlenkombination eingab.
Die Tür ging auf. Das Licht brannte, der Raum war vollgestellt mit Kisten und Lagermaterial. Keine Spur von Annabella und dem Wolf.
Vor ihm standen Kathleens Bilder. Sie wirkten zum Leben erwacht, auf allen Gemälden wirkten die Zwielichtlande dynamisch und lebendig. Das größte stellte den dunklen Wald als eine gefährliche Höhle dar, die kraftvoll pulsierte. Wie die Schatten bewegten sich auch die Bäume, hier kam jeder unsichere Reisende vom Weg ab und verschwand.
Zumindest war sie nicht allein in dem Wald verloren, der Wolf befand sich bei ihr. Bitter, darauf hoffen zu müssen, dass gerade der für ihre Sicherheit sorgte.
Abrupt drehte sich Custo zu Adam um. »Die Geister wollen Talias Babys, aber ich konnte nicht herausfinden, wieso. Ich weiß, dass Dr. Powell den Geistern von dem Turm erzählt hat. Du musst Luca warnen.«
Adams Blick erkaltete, er biss die Zähne zusammen und nickte knapp. »Geh und hol dein Mädchen.«
Custo griff bereits nach der Magie und durchbrach die Grenze zwischen der sterblichen Welt und dem Jenseits. Beängstigende Euphorie durchströmte seinen Körper, während seine Sinne taub wurden und seine Fähigkeit, die Gedanken anderer zu lesen, erstarb.
Der Wald war endlos, es gab weder Wege noch Grenzen.
Wie sollte er sie hier jemals finden?