10
Eine Glocke verkündete den hereinbrechenden Morgen. Als die Musik leiser wurde, beugten sich die Wilis nach vorn, neigten die Köpfe zur Seite und lauschten aufmerksam. Das Licht auf der Bühne nahm eine gelbliche Färbung an, denn die Sonne fiel durch die Schatten der Bäume. Giselle hatte den mit einem Fluch belegten Albrecht durch die dunkle Nacht geleitet. Sie umarmte ihn ein letztes Mal, bevor sie in ihr Grab zurückkehrte.
Komm. Jetzt. Wolf zog sie zu einer Lücke in den Bäumen; das war in der Choreografie nicht vorgesehen.
Ja, erwiderte Annabella. All ihre Träume konnten und würden wahr werden, und sie musste sich noch nicht einmal anstrengen. Wenn sie das Schattenreich zurückwies und die Magie nicht mit jeder Faser ihres Seins willkommen hieß, würde sie den Rest ihres Lebens unglücklich sein.
Komm, sagte Wolf wieder, diesmal mit einem sexy Knurren. Zuvor hatte sie das Geräusch geängstigt, jetzt erregte es sie; er kannte sie wie kein anderer Mann; er wusste, dass ihre Leidenschaften unendlich waren und nichts auf Erden sie befriedigen konnte.
Sie gehörte in die Zwielichtlande, wollte ewig tanzen.
Aber … Sie blickte in den Zuschauerraum – die Menschen schienen verzaubert, gebannt, es war, als hielten sie kollektiv den Atem an. Das Licht der Bühne fiel auf ihre Gesichter und brachte ihre Augen zum Leuchten.
Nur noch eins … nur noch ein Augenblick hier …
Annabella wollte ihren Applaus haben. Sie hatte hart genug dafür gearbeitet. Siebzehn Jahre lang hatte sie ihren Körper für das Ballett geschunden. Sie wollte sich mit dem Ensemble zusammen verbeugen und die vielen Vorhänge, die stehenden Ovationen und die Rosen in ihren Armen erleben. Sie wollte dabei sein, wenn diese Menschen aufstanden und »Bravo« riefen. Ganz gleich, ob man sie deshalb als Diva betrachtete. Wenn sie in das Schattenreich ging, war dies der einzige Zeitpunkt, an dem sie Anerkennung für ihre Arbeit ernten konnte.
Das Orchester spielte die letzten Töne des Liebesliedes. Wenn Giselle in ihrem Grab verschwand, müsste Albrecht mitten auf der Bühne zusammenbrechen, aber Wolf blieb stehen und streckte Annabella seine Hand entgegen, um sie in einer seltsamen Umkehr der Geschichte in seine Welt zu ziehen.
Sie würden glücklich bis in alle Ewigkeit im Schattenreich zusammenleben, aber Giselle war eine Tragödie.
Und Annabella bestand auf ihrer Verbeugung.
Komm, forderte er sie wütend ein weiteres Mal auf.
So endet das Ballett nicht. Annabella ignorierte seine ausgestreckte Hand und stellte sich vor, dass das Publikum seine Geste als Ausdruck seiner letzten Hoffnung und Sehnsucht interpretierte.
Der Vorhang fiel. Im Zuschauerraum herrschte Totenstille. Dann brach tosender Applaus und Jubel aus, einzelne Worte waren in dem Tumult nicht zu verstehen. Der Boden der Bühne vibrierte von den Rufen und ließ ihren Körper erbeben. Es war mehr als wunderbar und die Verzögerung allemal wert.
Venroy schritt auf die Bühne, Tränen liefen über sein Gesicht. Er ergriff ihre Hände und sagte: »Großartig, Annabella! Jasper! Perfekt!«
Unglaubliche Freude durchströmte Annabella, es war kaum auszuhalten. Der Thomas Venroy. Weinte. Ihretwegen.
»Kind«, fuhr Venroy fort. »Eine Bravura-Vorstellung. Du hast all meine Erwartungen übertrof…«
»Komm her!«, schnappte Wolf und zerrte Annabella an ihrem Ellbogen fort.
Venroy stutzte und schluckte seine überbordenden Gefühle hinunter, als hätte man ihn geohrfeigt.
Annabella blickte Wolf finster an. Das war nicht nötig. Und außerdem wollte sie unbedingt hören, was Venroy zu sagen hatte.
»Natürlich«, sagte Venroy etwas gefasster. »Dafür ist später noch Zeit. Es gibt so viel zu tun, zu organisieren …« Er schlich davon und bedeutete den Wilis, auf der Bühne einen Halbkreis zu bilden.
»Ich will mich noch verbeugen«, sagte Annabella stur zu Wolf.
Es hatte sie Jahre voller Willenskraft gekostet, an diesen Punkt zu gelangen; sie würde nicht einfach so darauf verzichten.
Wolf blickte sie finster an und knurrte unzufrieden, trat aber vor und ergriff ihre Hand. Fest.
Der Vorhang hob sich. Das Publikum tobte vor Begeisterung.
Annabella schüttelte Wolfs Hand ab und neigte sich in eine Grande Révérence. Auf diese Art bedankte sich eine Primaballerina bei ihrem Publikum. Jede Ballettklasse, an der sie jemals teilgenommen hatte, hatte mit einer Grande Révérence geendet. So war es Sitte. Aber, wie für ein Ensemblemitglied üblich, hatte sie nach allen Vorstellungen bislang immer nur einen einfachen Knicks machen dürfen. Das war nun vorbei. Sie verneigte sich tief vor dem Publikum.
Der Applaus toste als stürmischer Wind durch die Zwielichtlande. Sie spürte, wie er über ihre Haut strich und sie zum Strahlen brachte. Das Beste aus beiden Welten.
Sie richtete sich auf und verneigte sich noch einmal zur anderen Seite. Wie oft hatte sie von diesem Augenblick geträumt? Unzählige Male. Sie hatte vor allen möglichen Spiegeln geübt – im Studio, in der Umkleide, im Badezimmer, im Kaufhaus, sogar im Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt. Danke, vielen Dank … und euch dort drüben, euch danke ich auch. Und wie könnte ich die auf den Balkonen vergessen? Danke schön. Das war noch viel schöner, als sie es sich je vorgestellt hatte. Sie könnte sich daran gewöhnen.
Sie blickte nach links und rechts, um das Ensemble zu vereinen, dann verneigten sich alle gemeinsam. Sie machte eine bedeutungsvolle Geste zu ihrem Partner und würdigte seinen Part; Wolf starrte sie an, die Schatten pulsierten deutlich in seinen Augen.
Ja, ja. Er musste eben noch ein bisschen warten.
Wieder fiel der Vorhang, aber die Schreie aus dem Publikum ließen nicht nach. Eher nahm der Schattenwind noch zu. Das bedeutete weitere Vorhänge.
Ein Bühnentechniker gab von der Seite ein Zeichen, dass er die Vorhänge wieder aufziehen werde, damit sie und Wolf hinaustreten und sich noch einmal an dem Applaus laben konnten. Danke. Blumen für mich? Ein Strauß mit zwei Dutzend langstieligen dunkelroten Rosen lag auf ihrem wiliweißen Arm. Eine weitere tiefe Verneigung. Vielen Dank.
Annabella und Wolf wichen zurück, und der Vorhang schloss sich. Sie lauschte aufmerksam auf den Applaus des Publikums. Würde es noch weitere Vorhänge geben? Und wenn, wie viele? Wenn das Publikum mitmachte, würde sie sich die ganze Nacht verbeugen.
Annabella blickte zu dem Bühnentechniker und wartete auf ein weiteres Zeichen, aber Wolf packte sie von hinten und grub seine Hände in ihre Schultern. Diese albernen Männer von Segue stürmten auf die Bühne. Was hatten sie vor?
Sie brauchte noch ein paar Minuten. Hörst du denn nicht? Das Publikum wollte mehr.
Aber Wolf zerrte sie ein paar Schritte zurück, sein Atem strich heiß über ihren Nacken. Als Wolf sie mit sich in die Bäume zog, machten die Tänzerinnen ihnen Platz.
»Annabella!«, rief eine raue Männerstimme über das Tosen jenseits des Vorhangs hinweg.
Ihre Aufmerksamkeit richtete sich jäh auf Custo, der von der Seite der Bühne hervortrat. Er taumelte schwer atmend auf sie zu, sein Gesicht weiß und seine Stirn blutverschmiert.
Wolf knurrte in ihrem Rücken, sein Griff um ihre Schultern verstärkte sich schmerzhaft.
»Ich lasse nicht zu, dass er dir wehtut«, keuchte Annabella ihm über ihre Schulter hinweg zu. Sie sah den verwirrten Bühnentechniker mit gequältem Blick an.
»Wir müssen gehen«, raunte Wolf in ihr Ohr. »Sofort.«
»Du kannst sie nicht haben«, erklärte Custo. Sein Blick fiel auf Wolf.
Oh, das war schlecht. Sehr, sehr schlecht. Vielleicht war es an der Zeit hinüberzugehen …
»Es ist okay«, entgegnete Annabella Custo. »Ich will mit ihm gehen. Du brauchst dir um mich keine Sorgen mehr zu machen. Das ist es, was ich will.«
»Du weißt nicht, was du tust«, widersprach Custo, während er näher kam. Er breitete die Arme aus, als wenn er sie zugleich beschwichtigen und packen wollte. »Du darfst ihm nicht vertrauen.«
Wolf riss sie heftig an sich.
»Er wusste nicht, dass er jemanden verletzt«, antwortete Annabella. »Er ist nicht von hier. Er wollte mir nie etwas antun.«
»Er benutzt dich als Schutzschild.«
»Du verstehst einfach nicht.« Sie blickte zu der Öffnung zwischen den Vorhängen. Das Publikum war jetzt lauter und rechnete jeden Augenblick mit ihrem Erscheinen. Vielleicht noch einmal, wenn Custo nur den Mund halten und aus dem Weg gehen würde.
»Ich verstehe sehr wohl. Ich habe es selbst erlebt«, sagte Custo mit leiser, eindringlicher Stimme. Er krümmte sich unnatürlich nach vorn, als wenn er Schmerzen hätte. Aber wie war das möglich? Er war ein Engel. Sorgenvolle Linien bildeten sich um seine Augen und seinen Mund. »In den Zwielichtlanden kannst du nichts und niemandem trauen, vor allem nicht dir selbst.«
Wieso machte Custo ihr alles kaputt? Es war ihre Entscheidung. Ihr Leben.
»Annabella«, sagte Venroy scharf. »Was hat das zu bedeuten?«
Die Blicke der Tänzerinnen waren ebenfalls auf sie gerichtet.
Komm, sagte Wolf.
Sie musste jetzt hinübergehen. Das war die einzige Möglichkeit. Aber schade um den Applaus.
Sie blickte Custo entschuldigend an – vielleicht würde er sie eines Tages verstehen – und streckte Wolf hinter ihrem Rücken eine Hand entgegen.
»Wo ist Jasper?«, fragte Custo.
Jasper? Annabella spürte, wie er ihre Hand ergriff. Aber nein, das war ja Wolf. Aber Jasper presste seinen Körper gegen ihren; Jaspers Stimme bat sie, mit ihm zu gehen. Das konnte nicht stimmen. Jasper war schwul und liebte seinen Partner; er hatte sie nie begehrt. Es musste Wolf sein. Aber Wolf hatte behauptet, dass er niemandem etwas angetan hatte. Dann musste die Hand, die sie hielt, Jasper gehören. Aber er knurrte wie Wolf. Doch wo war Jasper? Er hielt ihre Hand.
Annabellas Kopf schmerzte. Sie konnte nicht klar denken. Das musste aufhören.
Aufgebracht blickte Venroy zu den dreien und schob Myrtha hinaus, um den Applaus entgegenzunehmen. »Was ist hier los?«
Custo machte eine entschiedene Geste, um ihn zum Schweigen zu bringen. Venroy murmelte etwas von Sicherheitsdienst und verschwand.
»Genau, Annabella«, sagte Custo eindringlich. »Wo ist Jasper, dieser hübsche Junge, der gern mit seinen Muskeln prahlt, damit sie jeder sehen kann?«
In ihrem Kopf blitzte ein Bild auf – von Jasper in einer typischen Pose. Wann immer er sie zum Lachen bringen oder ihr die Nervosität nehmen wollte, schob er mit einem anzüglichen lustigen Grinsen seine Hüfte nach vorn, um seinen Körper voll zur Geltung zu bringen. Der echte Jasper, der mit ihr stundenlang zusätzlich geprobt hatte, bis der Pas de deux vollkommen war. Der von heißem Sex mit vielen Partnern geredet hatte, aber seit mehr als drei Jahren seinem Geliebten treu war. Wo war er?
Wenn sie nur einen Augenblick klar denken konnte, würde sie vielleicht alles verstehen. Irgendetwas stimmte nicht, aber sie konnte nicht herausfinden, was. Sie wusste nur, dass ihre Träume im Schattenreich real waren, ebenso das Tanzen, aber was wäre sie für ein Mensch, wenn sie nur an sich selbst dächte? Was war mit Jasper?
Als sie sich von Wolf losriss, fühlte es sich an, als würde sie in der Mitte auseinandergerissen.
Custo schoss vor, schob sie aus dem Weg und stürzte sich auf Wolf, der aufschrie.
Als ihr der beißende Geruch von verbranntem Fleisch in die Nase stieg, fiel sie hin. Es stank wirklich übel. Der Schmerz des Aufpralls beförderte sie zurück in die Wirklichkeit und wischte den magischen Schimmer des Schattenreichs von ihren Augen. Irgendeiner von diesen Schlägern aus Segue packte sie und hielt sie zurück.
»Nein, noch nicht, Annabella! Bewahre den Zauber!«, schrie Custo.
Aber ihre Muskeln verkrampften sich, ihre Knochen schmerzten, und mit ihrem Nacken stimmte etwas nicht. Als sie unsanft aus ihrem märchenhaften Hoch in der Realität landete, stieß sie die Luft aus, und mit ihr entwich die letzte körperliche Euphorie. Sie fühlte sich müde und alt. Was war los mit ihr?
Vor ihr fand eine heftige Prügelei statt. Sie hob den Blick. Custo packte Wolf, aber in Gestalt von Jasper. Der Gestank nahm den unangenehmen Geruch verbrannter Haare an. Die Kontrahenten rollten auf den Vorhang zu und verfingen sich mit ihren Körpern im Samt.
Als Myrtha sich nach der letzten Verbeugung langsam von der Bühne zurückzog, wäre sie beinahe über die beiden gestolpert.
»Anna«, keuchte Custo, »hol den Zauber zurück! Wir brauchen die Schatten!«
Wie? Das Atmen schmerzte. Ihr fehlte die Energie zu weinen. Sie hatte keine Magie mehr in sich. Annabella sah, wie die Tänzerinnen des Ensembles aufgeregt schnatterten, konnte sie aber nicht hören. Was erwartete Custo von ihr – sollte sie wieder aufstehen und tanzen? Sie glaubte nicht, dass sie aufstehen konnte.
Und außerdem flüsterte eine leise heimtückische Stimme in ihr, dass sie keine zweite Chance mehr bekam, die Grenze zu überschreiten, wenn sie half, Wolf zu verbannen.
Heftig kämpfend rollten Custo und Wolf auf die offene Bühne. Die Zuschauer hielten hörbar den Atem an. Vereinzelte Schreie verrieten ihr, dass die beiden soeben in den Orchestergraben gefallen waren. Als ein metallisches Klirren ertönte, zuckte sie zusammen, und in ihren Ohren klingelte es.
Sie senkte den Kopf und fing an zu weinen. Als Adam kam, zog der Mann aus Segue sie auf die Füße und zerrte sie von der Bühne.
»Im Orchestergraben«, erklärte der Kerl, der sie aufrecht hielt, während ein anderer schrie: »Macht den Weg frei!« Aber sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach und was sie taten. Und es war ihr auch egal. Sie versuchte mit aller Kraft, Halt zu finden, aber die Realität glitt ihr aus den Fingern.
Die Zwielichtlande befanden sich außer Reichweite. Custo verprügelte Wolf auf offener Bühne. Und Jasper war weg. Sowohl ihr Leben als auch ihre Träume lösten sich gerade in nichts auf.
Annabella verließ sich nicht darauf, dass es sich hier um Stimmungsschwankungen handelte. Sie hatte gerade die Vorstellung ihres Lebens gegeben. Sie wusste, so glücklich sie auch vor kaum zehn Minuten gewesen war, das Tief würde nicht lange auf sich warten lassen. Was hatte sie denn gedacht? Es war naiv zu glauben, diese Art der Euphorie währe für immer. Und sie wusste, dass sie noch nicht am Tiefpunkt angelangt war. Nicht annähernd. Dort befand sie sich erst, wenn man Jaspers Leiche gefunden hatte.
»Wo ist sie?«, fragte Custo und schob einen Agenten aus dem Weg. Der Idiot wühlte in einem Erste-Hilfe-Kasten, um ihn zu verbinden. Er brauchte keine medizinische Hilfe. Sein Körper stand in Flammen, er heilte von allein.
Custo wollte zu Annabella. Er musste sie sehen, bevor Luca ihn wer weiß wohin zerrte.
Ging es ihr gut? War sie verletzt? Wusste sie, wie knapp sie einer Katastrophe entgangen war? Er ließ seinen Geist durch das Theater gleiten, aber er war zu angespannt, um sich auf einzelne Personen zu konzentrieren.
Als Custo gesehen hatte, wie dieses … dieses Wesen … Annabella in seinen Fängen gehalten hatte, hätte er den zum Wolf gewordenen Japser am liebsten in Stücke gerissen. Dem Geruch nach zu urteilen hatte Custo ihn zumindest verletzt, ihn heftig verbrannt. Custos Berührung hatte dieselbe Wirkung wie Talias Stimme – sie zwang den Wolf zurück in die Schatten. Im einen Augenblick war er noch greifbar gewesen, im nächsten hatte er sich in Schatten aufgelöst. Wie gern hätte er ihn persönlich zurück in die Zwielichtlande gebracht.
Er entdeckte Annabella in ihrer Garderobe, ihre Miene angespannt. Schmale rosa Spuren in ihrer weißen Schminke und zwei rote Flecken unter ihren Augen verrieten ihm, dass sie geweint hatte.
Bleib, wo du bist, dachte sie, sagte jedoch nichts, als sie ihn sah. Komm bloß nicht in meine Nähe.
Also blieb Custo an der Tür stehen. Adam, der selbst etwas angeschlagen war und blutete, saß neben ihr.
Er stand auf und kam auf Custo zu. »Venroy, der Direktor, war hier und hat ein paar Worte zu dem ›Eifersuchtsdrama‹ auf der Bühne gesagt. Das wird zwar einige Folgen haben, aber er will trotzdem, dass Annabella und Jasper morgen Abend an dem Empfang teilnehmen.«
»Man hat Jasper gefunden? Lebend?« Custo konnte es nicht glauben.
»Er lag ausgekühlt in seiner Garderobe, aber er kommt wieder in Ordnung. Ich habe ihm erklärt, dass er trotz der Drogen, die er intus hatte, eine eindrucksvolle Vorstellung abgeliefert hat.« Adam zuckte mit den Schultern. »Etwas Besseres ist mir nicht eingefallen, aber er nimmt jetzt Glückwünsche entgegen. Deshalb gehe ich davon aus, dass er sich entschieden hat, es zu glauben. Er verfügt über ein beträchtliches Ego.«
Forschend blickte Custo zu Annabella. Sie grämte sich mit Schuldgedanken. »Aber es ist jemand gestorben«, fuhr Adam fort.
»Wer?«
Adams Miene wurde ernst. »Ein Mann namens Peter Wells, Annabellas Nachbar. Ich habe einen Anruf von einem Informanten bei der New Yorker Polizei erhalten. Deshalb bin ich heute Abend so spät hier gewesen. Die Polizei will sie in Zusammenhang mit dem Mord verhören.«
»Zufall?«
»Nein«, entgegnete Adam, »das glaube ich nicht. Ich habe in Segue eine Untersuchung eingeleitet, nachdem ich am Tatort gehört habe, welche Maßnahmen die Polizei ergreift. Wir geben den Geistern die Schuld und schließen die Sache schnell ab.«
»Mir ist übel«, unterbrach Annabella. Sie griff den Mülleimer zu ihren Füßen und würgte.
Custo eilte zu ihr und strich mit der Rückseite seiner Finger über ihren Nacken, dann ließ er die Hand auf ihrer Schulter ruhen und drückte sie. »Alles wird gut.«
»Aber nicht für Peter«, sagte sie und schüttelte seine Hand ab. Rühr mich nicht an, dachte sie, während sie sich abwandte und anfing, ihre Schminkutensilien in ihrem Werkzeugkasten zu verstauen. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie nicht sehr schnell vorankam.
»Du hast ein Team zur Verfügung, um sie zurück nach Segue zu bringen«, fuhr Adam fort. »Ich räume hier auf.«
Wenn das doch nur so einfach wäre. Custo zog Adam mit sich in den Flur. »Adam, ich weiß nicht, ob ich kann. Es ist jemand hier, um mich zu holen, um mich dorthin zurückzubringen, wo ich herkomme. Ich werde versuchen, mit ihm zu verhandeln, aber ich glaube nicht, dass er auf mich hört. Wahrscheinlich war es das für mich.« Er fand es schrecklich, darum zu bitten, aber er zwang sich dennoch dazu. »Ich muss dich eventuell bitten, dich, so gut du kannst, um Annabella zu kümmern, bis Talia in der Lage ist, den Wolf zu vernichten.«
Talia würde erst in Wochen niederkommen. Welchen Schutz konnte Segue Annabella vor einem Wesen bieten, das sie in den Schatten verfolgen konnte?
Adams Miene verfinsterte sich noch mehr. »Dein Cousin?«
Na, wunderbar. Custo verspannte sich und nickte. Luca war in gewisser Weise ein Verwandter. Wahrscheinlich ein Großonkel soundsovielten Grades oder so ähnlich.
»Er hat mich gebeten, dir das hier zu geben.« Adam reichte ihm eine schneeweiße Visitenkarte, die an einer Ecke mit Blut befleckt war. In feiner Schrift stand DER WEIßE TURM darauf. »Er hat gesagt, dass du morgen früh um neun Uhr dort sein sollst.«
»Ist Luca weg?« Custo konnte es nicht glauben. Auf der Karte befand sich keine Adresse. Wahrscheinlich stand er auch nicht im Telefonbuch. »Und die anderen?«
Adam zuckte mit den Schultern. »Verschwunden, als der letzte Geist erledigt war. Sie haben nicht auf meine Fragen reagiert. Und mir auch sonst keine Beachtung geschenkt, sondern mir lediglich diese Karte gegeben.«
Erst vor wenigen Stunden hatte Custo Luca um eine weitere Nacht gebeten, und Luca hatte sie ihm gewährt. Hätte er um eine Woche bitten sollen? Um ein Jahr? Hundert Jahre? Hätte es eine Rolle gespielt? Welch schrecklicher Gedanke.
Und so unwichtig.
Custo blieb eine einzige Nacht, aber er besaß keine Chance, den Wolf zu finden. Annabella war emotional und körperlich über ihre Kräfte gegangen. Er konnte nicht einmal seine Unsterblichkeit nutzen, um im Geisterkrieg zu helfen, weil er an ihrer Seite bleiben musste, falls der Wolf zurückkehrte.
Er blickte noch einmal auf die blütenweiße, wenn auch befleckte Karte. Der Weiße Turm. Was für ein bombastischer Name für eine Ansammlung von Engeln. Das war genau der Grund, weshalb er nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Absolut nichts.
Gut, er würde sie einfach abzocken, nicht hingehen. Er hatte sich bereits so viel zuschulden kommen lassen, auf eine Sache mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. Er hatte tausendmal gelogen; sie mussten damit rechnen. In seinem letzten Leben war er ein Dieb gewesen, hatte immer nach dem Vorteil gesucht. Nun, er würde so viele Augenblicke stehlen wie möglich. Wenn er Annabella verlassen musste, wüsste sie, dass er sich mit dem Himmel angelegt hatte, um bei ihr zu bleiben.
»Er ist wie du, oder?«, fragte Adam überaus wachsam. »Er und die anderen, die bei ihm waren.«
»Ja«, erwiderte Custo. Aber er wusste nicht, welches Privileg es ihnen gestattete, auf der Erde zu leben. Auf der Erde zu leben. Er wusste nicht, wie man das beantragte, oder ob er aufgrund seiner Flucht aus dem Himmel und der Folgen dafür vielleicht überhaupt nicht infrage kam. Wie immer bedauerte er seine Entscheidungen.
»Ich würde dich morgen gern begleiten«, sagte Adam.
Na klar. Der große Bruder Adam musste immer alles ganz genau wissen.
»Ich will herausfinden«, fuhr Adam fort, »ob sie bereit wären, im Kampf gegen die Geister mit Segue zu kooperieren. Ich würde alles dafür tun, damit Talia von dieser Aufgabe erlöst ist.«
Custo fröstelte. Talia. Wie hatte er sie vergessen können? Talia trug ein unvorstellbar schreckliches Joch. Sie musste die Grenze zwischen den Welten zerreißen, um stinkende Tote hinüberzudrängen.
Er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um Adams Gedanken zu folgen, aber sie waren nicht allzu schwer zu erraten. Adam hatte selbst erlebt, dass die Engel in der Lage waren, Geister zu zerstören, ohne dabei in Gefahr zu geraten.
Custo legte eine Hand auf seinen schmerzenden Bauch. Ein Engel riskierte bei dem Kampf gegen die Geister vielleicht Schmerzen und anschließend ein paar Unannehmlichkeiten, aber ansonsten wenig. Was hatte Adam denn noch an Möglichkeiten, nachdem der Schattenmann eindeutig nicht gewillt war, ihm zu helfen? Keine. Adam brauchte die Engel, und er benötigte Custo, um sie zu finden.
Der Weiße Turm war für einen Sterblichen unmöglich zu finden, selbst für den gut vernetzten Adam mit dem reinen Herzen. Zum ersten Mal in seinem Leben war Custo in der Lage, Adam zu helfen, ihm die Verbindung zu verschaffen, die er so dringend in diesem Krieg gegen die Geister brauchte.
Annabella bewegte sich und zog Custos Aufmerksamkeit auf sich. Sie benutzte eine Art Creme, um die Schminke aus ihrem Gesicht zu entfernen. Die Haut unter der weißen Farbe war beinahe bleich. Ihre Gedanken kreisten um Peter, Jasper und Wolf. Der Name Wolf war neu, und es gefiel Custo nicht, dass Annabella und das Tier sich offenbar nähergekommen waren.
Vielleicht konnten die Engel ja auch Annabella vor dem Wolf retten. Wieso hatten sie es nicht schon getan? Er würde gern hören, was sie dazu sagten.
Custo räusperte sich, aber seine Stimme klang weiterhin angespannt. »Ich sage dir Bescheid, wenn ich den Turm lokalisiert habe. Das könnte etwas aufwendiger sein.«
Adam nickte. »Ich muss gehen. Ich kann die Geister schon fast von hier riechen.«
»Ich rufe dich an, wenn ich etwas weiß«, antwortete Custo. Er würde vermutlich die ganze Nacht mit seinem Geist durch die Stadt streichen und nach jenen glockenklaren Gedanken suchen, an der eine Gruppe von Engeln zu erkennen war.
So wollte er seine letzte Nacht eigentlich nicht verbringen.
Adam verließ sie, als sich der Flur gerade mit Leuten zu füllen begann. Custo zog die Tür zu und schloss ab – keine Gratulanten für Annabella –, dann drehte er sich zu ihr um, um zu sehen, wie weit sie gekommen war.
Sie hatte es geschafft, den Großteil der weißen Schminke sowie die spinnenhaften Wimpern aus ihrem Gesicht zu entfernen. Sie hatte sich in einen Morgenmantel gewickelt, doch an einem weißen Stoffbüschel an ihrem Knie erkannte er, dass sie darunter immer noch ihr Kostüm trug. Diese ganzen Haken und Ösen waren zu viel für sie, und sie hatte sicher niemanden um Hilfe bitten wollen.
»Wir bringen dich zurück nach Segue und stecken dich ins Bett«, sagte er.
Sie nickte und strich sich mit der Hand über das Gesicht. Dennoch sah er, wie sie das Gesicht verzog, als müsste sie weinen. Sie stand auf und zog den Morgenrock aus, damit Custo ihr aus dem Kostüm helfen konnte.
Während er mit seinen riesigen Händen die winzigen Haken öffnete, überlegte er, was er sagen sollte. Es erschien ihm zwecklos, ihr zu erklären, dass sie für Peters Tod nichts konnte. Sie würde erwidern, dass er nur tot war, weil der Wolf sie gewollt hatte. Vielleicht hätte sie sich vergeben können, wenn es ihnen gelungen wäre, den Wolf am Ende der Vorstellung zurück in die Zwielichtlande zu drängen, aber der Versuch war fehlgeschlagen.
Er musste es noch einmal anders versuchen.
»Vor fünf Jahren – nein, warte, es sind jetzt sieben Jahre«, sagte Custo so neutral wie möglich. Er wollte kein Mitleid. »Es war nach den ersten Auseinandersetzungen im Geisterkrieg. Da hatte es ein internationaler Waffenhändler auf Adams Kopf abgesehen.« Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und sprach weiter: »Ich habe ihn zuerst erwischt.«
Annabella riss die Augen so weit auf, dass Custo im Spiegel das gesamte Weiß um die Iris herum sehen konnte.
»Sein Name war Heinrich Graf. Ich habe seine Tochter dazu verführt, mir sein Reiseziel zu nennen, und dann gehandelt. Aber der erste Schuss ging daneben und erwischte einen unschuldigen Passanten. Ich habe auf offener Straße einen Arzt ermordet. Der zweite Schuss traf Graf. Adam weiß nichts davon. Ich war zu … feige, es ihm zu sagen.«
»Wieso erzählst du mir das?«, krächzte Annabella.
Er löste den letzten Haken, dann stand die Rückseite ihres Kostüms offen. »Der Unterschied zwischen dir und mir ist, dass ich diese Menschen eigenhändig umgebracht habe. Du hast niemandem etwas getan.«
Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Ich hätte ihn heute Nacht aufhalten können.« Meine Schuld.
»Wir finden einen anderen Weg. Du kennst dich jetzt besser.« Custo drehte Annabella zu sich herum.
Sie legte eine Hand auf ihre Brust. »Ich habe Schmerzen beim Atmen.«
»Versuche, daran zu denken, dass du heute Abend wundervoll warst. Nein, schüttele nicht den Kopf. Mach nicht schlecht, was du erreicht hast.«
»Es waren die Schatten … es war Magie.«
»Annabella, das warst du. Das warst alles du.« Custo griff ihre Hand. Wenn er ihr sonst nichts mehr geben konnte, bevor er am Morgen weg musste, wollte er zumindest, dass sie begriff, wie stark sie war. »Der Wolf kannte keine Choreografie. Er hat seine Hinweise allein aus deiner Fantasie bekommen.«
»Er wollte zurück«, sagte Annabella. Aber jetzt will er auch mich.
»Ich kann ihm nicht verübeln, dass er dich mitnehmen wollte.« Custo ballte die Hände zu Fäusten und erinnerte sich daran, wie der Wolf unter seinen Händen gebrannt hatte. »Dein Talent, deine Gabe, ist fantastisch.«
»Du hattest so recht, als du gesagt hast, ich dürfte mir nicht trauen. Ich kann es wirklich nicht.« Sie hob ihr Kinn und begegnete seinem Blick. Ihre Augen funkelten, ihre Gedanken flehten Bitte, hass mich nicht. »Ich wünsche mir die Magie, mit der er mich lockt, so sehr, dass ich in einem schwachen Moment wieder darauf hereinfallen werde. Selbst jetzt würde ich gern die Magie der Schatten spüren.« Mit ihm gehen. »Du musst mir versprechen, dass du das nicht zulässt.«
»Annabella …«
Der Ausdruck in ihren Augen wirkte entschlossen. Die Angst, die über ihrem Gesicht gelegen hatte, verschwand. So hatte ihn noch nie zuvor jemand angesehen. Noch nie hatte ihn jemand so gebraucht. »Bitte. Ich will mich nicht verlieren. Wenn du bei mir bist, passiert mir das nicht.«
Er hatte ihr vom ersten Augenblick an gesagt, dass sie ihm vertrauen sollte. Hatte ihr erzählt, dass er sie auf Schritt und Tritt begleiten werde und sie den Wolf zusammen zurück ins Schattenreich drängen würden.
Jetzt hatte Custo nicht den Mut, sie daran zu erinnern.