19
Annabella stand inmitten des dunklen Waldes. Beim Übergang ins Schattenreich hatte sich ihre Trainingskleidung in das lange Tutu aus Giselle verwandelt. Sie wusste nicht, ob sie selbst das bewirkt hatte oder der Wolf oder eine andere unbekannte Macht aus dem Schattenreich. Wenigstens war sie nicht nackt.
Der Wolf trieb sie durch die Bäume, wie Hände griffen die Zweige nach ihren Tüllröcken, bis der Stoff in Fetzen an ihren Knöcheln herabhing. Das enge Leibchen war deutlich aufwendiger verziert, als es dem Bauernmädchen aus der Geschichte entsprach. Besetzt mit scharfen Diamanten riss es ihr die Arme auf, während der Wolf sie durch den Wald hetzte. Sie hatte keine Ahnung, wohin.
Die Blätter um sie herum zitterten, das Rascheln hörte sich an wie Worte. Forschend blickte Annabella über ihre Schulter zurück, was in den dunklen Schatten zwischen den alten Baumstämmen lauerte. Sie konnte die rhythmischen Silben nicht verstehen.
– gehörtnicht, gehörtnicht, gehörtnicht –
Die Luft roch intensiv nach Erde und Pflanzen und war von einem fremdartigen Duft durchzogen, der Annabellas Sinne verwirrte und in ihrem Kopf brannte, ihre Erschöpfung und ihren Hunger steigerte und ihre bereits schlechte Stimmung noch verstärkte.
Sie hasste die Natur. Hasste Erde. Hasste aus ganzer Seele die krabbelnden Tiere, die an solchen Orten lebten. Aber sie würde sich damit abfinden.
Der Wolf hatte bekommen, was er wollte – sie waren zusammen in den Zwielichtlanden. Mehr würde sie ihm nicht geben. Sie gehörte Custo. Der Wolf war gefangen und nur das zählte. Alle, die ihr etwas bedeuteten, waren in Sicherheit.
– gehörtnicht, gehörtnicht, gehörtnicht –
Die flüsternden Stimmen folgten ihnen auf eine Lichtung, eine Wiese, auf der bunte Schmetterlinge schillerten, die nach oben stoben, als sie und der Wolf das Feld betraten.
In der Mitte stand eine große schlanke Gestalt, die menschlich aussah, aber kein Mensch war. Sie war blass wie das Mondlicht, hatte feine lange Haare, die ihr bis zur Taille reichten, und große schwarze Katzenaugen. Sie bewegte sich majestätisch, wobei ihr Kleid sie seltsam umfloss. Eine Königin. Annabella spürte ihre Eifersucht wie einen falschen Ton, einen schlechten Geruch oder eine unangenehme Berührung.
»Sie gehört nicht hierher, Jäger«, erklärte die Frau, ihre Stimme klang wie ein Seufzen im Wind.
Der Wolf nahm die Gestalt eines Mannes an, der am ganzen Körper mit Fell bedeckt war, sich nach vorn krümmte und eine kurze Schnauze hatte. Echt nicht ihr Typ.
»Sie gehört mir«, knurrte er. »Meine Gefährtin.«
Lieber fahre ich zur Hölle, dachte Annabella. Aber die Frau wirkte so abweisend, dass Sarkasmus nicht angebracht schien. Der Wolf befand sich momentan zu sehr in der Defensive, sie sollte ihn lieber nicht verärgern. Es war klüger, sie hielt ihre große Klappe.
»Sie ist eine Gefahr für uns alle.« Mit einem kühlen, durchdringenden Blick musterte die Frau aus dem Totenreich Annabella. »Du weißt, wozu sie in der Lage ist.«
»Ich habe sie unter Kontrolle«, sagte der Wolf.
»Und wenn nicht?«
»Ich schaffe das.« Seine Stimme strahlte Zuversicht aus. »Es ist ganz einfach.«
Custo hatte gesagt, er sei noch nie einer so komplizierten Frau wie ihr begegnet. Darauf baute sie.
Die Frau kniff die Augen zusammen. »Wenn du es nicht kannst, kriege ich deinen Pelz. Sie gehört nicht hierher.«
– gehörtnicht, gehörtnicht, gehörtnicht –
Jetzt verstand Annabella. Sie, wer auch immer »sie« waren, wollten sie hier nicht haben. Die Frau aus dem Totenreich fürchtete Annabellas Gabe und gönnte sie ihr nicht. Du weißt, wozu sie in der Lage ist.
Wozu bin ich in der Lage? Unter den richtigen Umständen – im Kostüm auf der Bühne und mit einem bewundernden Publikum – konnte sie sich die Seele aus dem Leib tanzen und vielleicht etwas bewirken. Einen Weg freimachen. Aber das war hier nicht von Bedeutung und nützte ihr nichts. Denn sie befand sich in den Zwielichtlanden. Sie konnte nicht einfach dreimal die Hacken zusammenschlagen und sagen, nirgends ist es so schön wie daheim. Erstens besaß sie keine glitzernden roten Zauberschuhe, und zweitens sah die Eiskönigin vor ihr eindeutig nicht wie Glinda, die gute Hexe des Nordens, aus. Sie war ziemlich sicher, dass sie in Oz festsaß.
– gehörtnicht, gehörtnicht, gehörtnicht –
Selbst, wenn sie sie hier nicht wollten.
Erst als die Frau sich umdrehte und auf die dunklen Bäume zuglitt, bemerkte Annabella die Lichtschimmer, die sie umgaben, als würde sie von einem Gefolge geschützt.
Annabella drehte sich um. Wieder war sie mit dem Wolf allein.
Das Flüstern verstummte nicht: gehörtnicht, gehörtnicht, gehörtnicht. Vielleicht würden sie ihr irgendwann helfen. Wenn sie sie jemals sehen, mit ihnen sprechen konnte.
Plötzlich streckten die Bäume ihre Zweige wie große knochige Hände in den Himmel hinauf. Annabella schlang die Arme um ihren Kopf und duckte sich. Sie richtete sich erst wieder auf, als sie bemerkte, dass die Zweige eine gewölbte Decke bildeten. Sie stand in einem großen, offenen Raum, der mittelalterlichen Halle eines märchenhaften Schlosses. Die Stämme um sie herum verschmolzen zu Wänden, an denen auf großen Wandgemälden der erste Akt aus Giselle dargestellt war. Prinz Albrecht umwirbt das Bauernmädchen, obwohl er bereits einer anderen versprochen ist. Als er ihr das Herz bricht, indem er seine erste Verlobung einlöst, stirbt Giselle und wird eine Wili. Keine sehr romantische Geschichte.
»Tanz mit mir«, forderte der Wolf und richtete sich auf. Er trug jetzt das Kostüm von Prinz Albrecht und sah lächerlich aus. Er hatte wieder Jaspers Gesicht angenommen.
Egal mit welchem Gesicht er sich ihr zeigte, Annabella wusste, was er war. Und hatte zum letzten Mal mit ihm getanzt.
Annabella würde nicht seine Fantasie umsetzen. Sie wandte den Blick ab.
»Du hast mich geliebt.«
Darauf ging sie gar nicht ein. Das war in der Aufführung gewesen, in der die Schatten ihren Verstand getrübt hatten. Jetzt war ihr Verstand ganz in Ordnung.
»Und jetzt?« Jasper verwandelte sich erneut, wuchs, wurde kräftiger und nahm auf einmal Custos Gestalt an. Annabellas Herz machte einen Sprung.
Ein mieser, fauler Trick. Sehr wölfisch. Die Wut tat ihrer Angst überaus gut. Sie traute sich, auch diese Gestalt zu ignorieren.
»Du wirst ihn vergessen«, behauptete der Wolf. »Die Erinnerung hält hier nicht lange. Endlich wirst du mir gehören.«
Ganz sicher nicht. Nicht in einer Million Jahren. Sie gehörte bereits jemand anders und würde ihn nicht aus ihrem Herz vertreiben. Sie musste die neue Realität ertragen, Augenblick für Augenblick, bis … ja, bis wann eigentlich? Bis ans Ende der Welt? Bis die leisen Stimmen sagten, ›der Ausgang ist hier‹? Egal. Sie hatten beide eine lange Wartezeit vor sich.
Der Wolf verneigte sich wie Prinz Albrecht im Ballett und löste sich dann in schleichende Dunkelheit auf, seine Schatten ließen sie allein.
Wenn er sie einschüchtern wollte, hatte er sich getäuscht. Es war wundervoll, allein zu sein. Allein konnte sie nachdenken und sich auf das vorbereiten, was auf sie zukam. Sie hoffte, dass er sie für immer in Ruhe ließ.
Sie blinzelte, und ein Festmahl stand vor ihr. Auf dem reich gedeckten Tisch fand sich jede nur denkbare Köstlichkeit.
Sie blinzelte noch einmal. Das Essen war immer noch da.
Das Festmahl entpuppte sich als wahres Sonntagsessen, es gab gegrilltes Fleisch mit Beilagen ebenso wie große Körbe voller perfekt gereifter Früchte – Orangen, Granatäpfel, dicke Weintrauben. Um sie herum standen köstliche mit Creme gefüllte Backwaren, die sie so gern mochte und sich wegen des Tanzens versagte. Napoleons, Eclairs und Käsekuchen. Verführerische, berauschende Gerüche.
Annabella lief das Wasser im Mund zusammen, ihr Magen knurrte, und sie war vollkommen erschöpft.
Die Auswahl sah so verdammt gut aus.
Aber sie stammte von ihm. Sie würde das Essen nicht anrühren. Irgendetwas daran war nicht richtig.
Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Die unsterblichen Feen brauchten vermutlich nichts zu essen, aber sie war ein Mensch. Sie würde sterben, wenn sie nichts zu sich nahm. Aber sie war noch nicht bereit, diese Grenze zu überschreiten. Die Eiszicke hatte offen gesagt, dass Annabella gefährlich war. Dass sie etwas anrichten konnte. Und die gruseligen Stimmen schienen ihr zuzustimmen.
Vielleicht gab es noch Hoffnung.
Wie sollte sie bei Kräften bleiben, wenn sie hungrig war? Wie konnte sie den Wolf bekämpfen, wenn ihr Blutzuckerspiegel sank? Ein niedriger Blutzucker machte sie immer reizbar und schwach. Wie konnte sie auf alles vorbereitet sein, wenn sie nicht aß? Sie musste etwas essen.
Annabella griff nach einem Stück Schokolade, aber die flüsternden Stimmen hielten sie zurück.
Leise, schüchterne und vielschichtige Stimmen.
– Persephone, Persephone, Persephone –
Sie ergaben keinen Sinn. Annabella steckte die Schokolade in den Mund. Das Stück schmolz auf ihrer Zunge und fühlte sich fantastisch an, wie Samt, es schmeckte dunkel wie die Sünde, wie Sex. Ihr gesamter Körper kribbelte. Wieso hatte sie ihr ganzes Leben lang getanzt, wenn sie stattdessen hätte essen können?
Die Stimmen wimmerten und wurden lauter, als wollten sie sie warnen.
– Persephone, Persephone, Persephone –
Annabella achtete nicht auf sie. Sagten sie womöglich »köstlich«?
Sie tauchte den Finger in ein Napoleon und leckte die Creme ab. Fabelhaft. Ihr Herz hämmerte und auf ihrer Haut breitete sich eine angenehme Kühle aus. Das Gefühl drang in ihre Venen ein, ihre Zellen sangen, ihr Blick verschwamm. Ja, Baby.
– Persephone –
Sie brauchte eine Gabel und einen Teller. Schon war beides da, das Besteck bestand aus schwerem Gold, der Teller trug einen goldenen Rand.
– verloren, verloren, verloren, verloren, verloren, verloren –
Annabella machte sich an die Arbeit. Das Festmahl war köstlich, dekadent. Und egal, wie viel sie aß, sie wurde nicht satt, noch ein Wunder, das sie dem Zauberessen verdankte. Sie arbeitete sich den Tisch hinunter und ließ sich schließlich – fast zufrieden, aber noch nicht ganz – auf den großen Sessel an dessen Ende fallen. Die kühle Luft auf ihrer Haut wurde noch kälter, ihre Kopfhaut kribbelte. Das viele Essen machte ihr den Kopf angenehm schwer, die Früchte schienen ihr immer noch süß und verlockend. Vielleicht noch ein letztes Stück …
Als sie nach dem vollen Korb griff, bemerkte sie dahinter eine Reihe Türen, die in einem weiten Rund angeordnet waren.
Was befand sich dort?
Sie vergaß die Früchte und stand auf, was für ihre vibrierenden Muskeln, Knochen und Nerven eine Herausforderung darstellte. Sie trat hinaus auf die Waldlichtung.
Aber sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand und warum sie dort war.
Sie befand sich in einem merkwürdigen Zustand. Schwerelos, als würde sie mit wehenden Röcken auf Luftströmen dahinschweben.
Es herrschte ewige Nacht. Zwischen den hohen Baumstämmen blitzten schwache Lichter auf. Sie wollte ihnen gerade folgen, als ihr Blick auf ein mit Blumen geschmücktes Grab fiel.
Wie traurig. Wem gehörte es?
Sie tippelte vorwärts, streifte die Grashalme und musterte den Grabstein.
Giselle. Das war ihr Grab.
Kummer wallte in Annabellas Herzen auf, und sie verschränkte die Arme über der Brust. Sie hatte Liebe und Leben verloren, war zur Wili geworden und musste bis in alle Ewigkeit durch die Nacht geistern.
Hinter ihr ertönte ein Geräusch, sie drehte sich um.
Albrecht, ihre Liebe, war gekommen, um ihr Lebewohl zu sagen.
Vielleicht verlängerten die Sterne den Augenblick und sie konnten ein letztes Mal tanzen, bis zum Morgengrauen.
Entweder verfolgte ihn dieser Baum, oder Custo lief bereits zum dritten Mal an seinem knorrigen Stamm vorbei. Beides war möglich, also ging er weiter und achtete auf jedes Geräusch und jede Bewegung, die ihn zu Annabella führen konnten. Er sah nur den riesigen leuchtenden Wald, der aus übereinanderliegenden Schattenbahnen erwuchs, und hörte flüsternde Stimmen, die sich über seinen Weg lustig machten. Was würde er für einen Beutel Brotkrumen geben. Er kam nirgends an und hatte es mehr als satt.
»Annabella!«, rief er in regelmäßigen Abständen. Wenn ein anderes Schattenwesen käme, würde er die Kreatur festnageln und nach dem Weg fragen, aber bis auf die leisen Stimmen schien der Wald gänzlich unbewohnt.
Als er bewusst kehrtmachte, nahm er zum ersten Mal eine Bewegung wahr. Er stürzte darauf zu und krabbelte auf eine Anhöhe aus dicken Wurzeln, um besser zu sehen.
»Annabella!«, rief er in den Wald hinein.
Plötzlich stand er vor einem bewaffneten Mann in einem graugrünen Tarnanzug. Custo blieb stehen. Es war Adam, der ihn mit zusammengebissenen Zähnen und entschlossenem Blick ansah, als wollte er sagen: »Ich weiß, was zu tun ist.«
»Was machst du hier?«, fragte Custo, teils wütend, teils besorgt. Adam sollte Luca vor den Geistern warnen.
»Ich bin dir gefolgt, um dir zu helfen«, sagte Adam, »und ich habe Annabella gefunden.«
Custos Herz machte einen Sprung. Adam traute er zu, dass er sich in diesen wandelnden Wäldern zurechtfand. Niemand anderem hätte er das geglaubt. »Bring mich zu ihr.«
»Hier entlang.« Adam verfiel in einen vorsichtigen Laufschritt, verlangsamte das Tempo an unübersichtlichen Stellen und prüfte unsicheres Gelände, bevor es betrat.
Custo hielt sich dicht hinter ihm. »Wie hast du mich gefunden?«
»Das hätte jeder geschafft. Du machst einen Höllenlärm.« Sie drangen tiefer in die Schatten vor, die einzelnen Lagen ließen sich nicht mehr unterscheiden. Kaum merklich verlangsamte Adam das Tempo, schien aber kein Problem mit der intensiven Dunkelheit zu haben.
Das war gut, denn Custo wollte so schnell wie möglich zu Annabella und konnte an nichts anderes mehr denken. Er musste ihm einfach nur folgen.
»Hat der Wolf Annabella in seiner Gewalt?«, fragte Custo und ahnte die Antwort bereits.
»Ja. Ohne Hilfe bin ich nicht an sie herangekommen.«
Sie erreichten eine tiefe Schlucht und balancierten über einen umgefallenen Baumstamm, rechts und links von ihnen gähnte ein schwarzes Loch. Als sie den Wald auf der anderen Seite erreichten, perlte Schweiß auf Custos Haut.
»Wie weit noch?«, fragte Custo. Sollte Adam einer Spur folgen, konnte Custo sie nicht erkennen.
»Wir sind gleich da«, antwortete Adam.
Aber es hörte sich nach noch vielen gleichgültigen Bäumen an.
Und verdammt, wenn der nicht genauso aussah wie der knorrige Stamm von vorhin.
Der knorrige Stamm.
Schockiert blieb Custo stehen, Angst ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Das Flüstern um ihn herum verstärkte sich und aus dem Augenwinkel sah er schlanke Gestalten, die ihn beobachteten und rasch wieder hinter den alten Bäumen verschwanden. Wahrscheinlich waren sie die ganze Zeit da gewesen.
Adam eilte ein paar Schritte voran, dann drehte er sich um. »Was ist los?«
Custo schluckte heftig. »Was bist du?«
Er wäre Adam noch stundenlang gefolgt, ewig.
Wie dumm.
Der Mann vor ihm konnte nicht Adam sein. Das hätte Custo gleich wissen müssen. Adam wäre niemals durch das Gemälde in die heimtückischen Zwielichtlande gekommen und hätte Talia und die Babys zurückgelassen. Für nichts und niemanden. Adam würde Luca vor den Geistern warnen, auch wenn der ihm zuvor seine Hilfe versagt hatte.
Das Flüstern schwoll zu lautem, ohrenbetäubendem Zirpen an. Es hörte klang, als hielten sich Grillen in den Blättern versteckt.
»Komm schon«, sagte Adam und wollte weiterlaufen. »Der Wolf hat sie in seiner Gewalt.«
Obwohl Custo daran zweifelte, gab er sich einen Ruck, machte kehrt und ließ Adam stehen. Er leugnete seine Anwesenheit. Die wohlriechende Luft gewann an Dichte und bildete einen Widerstand, während Custo sich von jahrelanger Freundschaft und Vertrauen losriss. Was er als überaus quälend empfand, jede Faser seines Körpers rebellierte.
Das war nicht Adam. Es musste ein Trick, ein Spiel oder ein Test sein. Aber es war nicht Adam.
Custo preschte voran. Es spielte keine Rolle, in welche Richtung er lief, solange die Bäume und die Schatten mit seinem Verstand spielten. Er musste einfach weitersuchen. Irgendwo hier war Annabella. In seinem Kopf musste er den Kurs halten, nicht in dem Wald, dann würde er sie finden.
Die Bäume öffneten sich etwas. Custo lief schneller und stieß prompt auf ein neues Hindernis.
Sein Vater. In einem eleganten Anzug, aus dem die weißen Ärmel seines Hemds hervorlugten, stand Evan Rotherford vor ihm. Die Manschettenknöpfe der Familie Rotherford, die Custo niemals gehören würden, funkelten, obwohl es kein Licht gab.
Custo erkannte in seinem Vater einen weiteren Test, aber er musste dennoch tief durchatmen, ehe es ihm gelang zu fragen: »Was willst du?«
»Ich will meinen Sohn zurück«, erklärte sein Vater und streckte die Hand aus.
Die Jahre voller Verbitterung und Wut ließen sich in einem einzigen Wort zusammenfassen, das Custo auf der Zunge brannte. Nein. Sein Vater hatte ihn jahrelang verleugnet. Er durfte sich nicht einfach umstimmen lassen. Nicht jetzt, nie. Sein Vater sollte zur Hölle fahren.
Custo schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. Sein Hass ließ ihn erstarren. Custo war festgewachsen, und die Wurzeln reichten bis tief in seine Seele hinein.
Aber das hier war genauso wenig sein Vater wie Adam zuvor Adam gewesen war. Es handelte sich um einen Trick, den er knacken musste, ansonsten kam er nicht weiter.
Denk an Annabella.
Annabella war seine Zukunft so wie dieser Mann seine Vergangenheit.
Wieder fühlte sich die Luft wie ein Widerstand an, der sich Wandel, Einsicht und Klarheit entgegenstellte. Custo atmete mühevoll ein, und als müsste er etwas Widerliches schlucken, arbeitete er mit Zunge und Zähnen daran, das Nein zu verwandeln. Mit einem scharfen Zischen stieß er ein »Ja« hervor und ergiff zum ersten Mal in seinem Leben die Hand des alten Mannes.
Überrascht zuckte sein Vater zurück, aber Custo hielt ihn fest. Die Illusion löste sich auf, und in Custos Griff zitterte eine Fee. Sie erstrahlte bleich und schön im Mondlicht. Wie ein Schleier bedeckte ihr langes Haar den unteren Teil ihres Gesichtes, aber aus ihren Augen sprach Schmerz.
Das nahm er ihr nicht ab. Er hatte eine Fee gefangen und würde sie nicht loslassen.
»Wo ist sie?«, fragte Custo scharf.
»Sie gehört nicht hierher«, sagte die Fee und starrte ängstlich auf ihre Hand, an der er sie festhielt. Er ließ sich nicht erweichen.
»Hör auf, mich zu verarschen und zeig mir, wo sie ist«, erwiderte Custo. Die Frau hatte schlanke kalte Finger, die ein taubes Gefühl verursachten.
»Es entspricht nicht unserer Natur, etwas zu verraten«, antwortete sie hochmütig.
»Selbst, wenn ihr sie loswerden wollt?« Das war typisch für die Zwielichtlande, in denen der Wahnsinn stärker war als die Vernunft.
– gehörtnicht, gehörtnicht, gehörtnicht –
»Sie tanzt mit dem Wolf und gehört ihm.« Die Fee senkte die Lider und verzog angewidert den Mund, ganz offenbar gefiel ihr diese Verbindung überhaupt nicht.
»Sie gehört mir«, widersprach Custo. »Ich hole sie mir zurück. Hilf mir, sie zu finden.«
»Das kann ich nicht«, zischte sie, als gefiele ihr das selbst nicht.
Die schwere Luft geriet in Bewegung, der Wind strich durch die Blätter und heulte wie … Geigen. Ein neuer Windstoß trug tiefere Töne herüber und ging in die Eröffnungstakte von Giselles Tanz als Geist über.
Annabella.
Custos Herz schlug aufgeregt. Er drückte die Hand der Fee. »Ist das wieder ein Trick?«
»Vielleicht«, antwortete sie mit einem schiefen Grinsen.
Custo spähte in die dunklen Bäume, die ihm wie große Wachposten Weg und Blick versperrten. Die Zwielichtlande widersetzten sich der Logik, also musste er seinem Herzen folgen.
Und das wollte durch diese Bäume.
Er ließ die Fee los. Mit Lichtgeschwindigkeit entriss sie ihm ihre Hand und hinterließ mit ihren Nägeln einen langen, tiefen Schnitt in seinem Handteller.
Schmerz schoss durch Custos Hand, sein Blut strömte auf den Waldboden. Als er aufblickte, stellte er fest, dass die Fee gegangen war. Sie hatte ihre Rache bekommen und war verschwunden. Er fasste sein Handgelenk und wartete darauf, dass das heilende Brennen einsetzte.
– Blut, Blut, Blut, Blut, Blut –
Doch im Schattenreich folgte kein Brennen. Custo spürte, wie sein Blut herabtropfte. Er riss einen unförmigen Streifen Stoff aus seinem Hemd und band die Hand fest ab, um die Blutung zu stoppen. Doch dafür blieb keine Zeit. Annabella befand sich in der Nähe.
Custo lief auf die Musik zu. Als er eine Bewegung aufblitzen sah, verlangsamte er seinen Schritt und schlich vorsichtig weiter, um sich in einem dunklen Wäldchen zu verstecken und zu beobachten, wie Annabella mit … Jasper tanzte? Die blonden Haare, die lächerlichen Strumpfhosen und das fast weibliche Hemd gehörten Jasper. Custo konnte sein Gesicht nicht sehen, vermutete aber, dass es die hübschen Gesichtszüge des Jungen trug.
Die Lüge ließ sich leicht durchschauen, doch Annabella schien ihr verfallen zu sein. Der Mann, das Wesen, das sie hielt, konnte nur der Wolf sein. Seine Hände waren überall auf ihrem Körper, er hob Annabella hoch, drehte und umarmte sie. Der Wolf hatte sie gerade wieder abgesetzt, als er den Kopf neigte und Witterung aufnahm. Er hielt Annabella an der Hüfte fest, hob jedoch die Nase und witterte erneut. Er war abgelenkt. Er roch etwas.
– Blut, Blut, Blut, Blut, Blut –
Custo blickte auf seinen Verband und erinnerte sich, wie die Fee ihn mit ihren Fingerspitzen verletzt hatte. Sie hatte ihm geholfen, so gut sie konnte. Sie wollte, dass Annabella verschwand.
Custo presste die Wunde an seinen Körper, damit der Wolf an ihm vorbei in Richtung des blutdurchtränkten Waldbodens lief. Mit einem großen Sprung verwandelte sich Jasper in ein geiferndes Tier mit gelben Augen auf der Jagd nach Frischfleisch. Als er zwischen den Bäumen verschwand, stürzte Custo zu Annabella.
Sie verharrte verloren in einer wunderschönen Pose und wartete auf Albrechts Rückkehr. Ihr Gesicht leichenblass, ihre Lippen grau und ihre Alabasterhaut von einem feinen Netz aus Schatten überzogen. Als sie den Blick hob, sah Custo, dass ihre Iris und die Pupillen vollkommen schwarz waren und ins Leere blickten, als sei sie blind.
Vorsichtig ging er auf sie zu. »Annabella?«
Sie antwortete nicht.
»Annabella, ich bin es. Custo.« Er griff ihre Schultern und schüttelte sie sanft. Ihnen blieb keine Zeit. Sie musste ihre Magie herbeirufen und sie zurückbringen. Der Wolf konnte jeden Augenblick zurück sein.
»Annabella, ich weiß, dass du da bist«, sagte er. »Komm schon, Liebes. Kämpfe. Ich brauche dich.«
Sie schien kein Wort zu hören und in einer zerbrechlichen, inneren Traumwelt verloren zu sein.
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und strich mit den Daumen über ihre Wangen, die sich kalt anfühlten. Er zog sie an sich und küsste so gefühlvoll wie möglich ihre reglosen Lippen. All seine Hoffnung, seine Liebe und sein Mut flossen in sie hinein. Keine Reaktion.
»Ich liebe dich, Bella. Ich brauche dich hier. Bitte.« Er war versucht, sie zu schlagen, aber etwas sagte ihm, dass sie womöglich zusammenbrechen würde, anstatt zur Besinnung zu kommen.
»Erinnerst du dich an Jacks Wohnung, Süße? Das chinesische Essen? Als ich dir gesagt habe, dass du mir gehörst?«
Sie zuckte ganz leicht mit den Augen.
»So ist es gut. Komm zurück zu mir, Liebes«, sagte er mit rauer Stimme. Ein Universum an Emotionen erfüllte seine Brust, bis sie beinahe explodierte. »Komm zurück, und mach einen ehrlichen Mann aus mir.«
Wieder dieser abwesende Blick. So viel zum Bekennen unsterblicher Liebe. Verdammt.
Okay, denk nach. Er lehnte seine Stirn gegen ihre und atmete heftig aus.
– erkommt, erkommt, erkommt –
Custo wurde streng. Er schüttelte sie stärker. »Wach auf, Annabella. Du kannst das kontrollieren. Das ist deine Gabe. Du besitzt das Talent, die Schatten zu nutzen. Setz es ein, um uns nach Hause zu bringen. Kämpfe um dein Leben. Willst du nicht tanzen?«
Nun drehte sie sanft den Kopf.
»Genau, tanzen«, sagte Custo.
»Ich habe mit Albrecht getanzt, aber er hat mein Herz gebrochen, und ich bin gestorben.«
Custo erkannte die Geschichte von Giselle. Jetzt verstand er: Sie hatte sich in dem Ballett verloren. Er versuchte krampfhaft, sich an die Einzelheiten zu erinnern. Giselle stand als Wili, als Geist, aus dem Grab auf. Als der trauernde Albrecht kam, befahl die Königin der Wilis, er müsse bis zu seinem Tod tanzen. Giselle entschied sich, mit ihm zu tanzen, um ihn durch die Nacht bis zum Morgengrauen zu geleiten.
Oh, dieser listige Wolf.
– erkommt, erkommt, erkommt –
Im Schattenreich war immer Nacht, es herrschte ewige Dunkelheit. Und Annabella war darin gefangen.
Sehr schlau.
Aber Custo war schlauer als der Wolf: Er kannte den Unterschied zwischen Giselle, dem Charakter aus dem Ballett, und Annabella, der Erzählerin, die die Magie spann.
»Du hast bereits mit Albrecht getanzt, Annabella«, sagte Custo. »Was geschieht als Nächstes?«
Kein Wunder, dass die Fee Annabella unbedingt loswerden wollte. Deren Macht war mehr als beachtlich, sie war beängstigend.
»Was geschieht als Nächstes, Annabella? Erzähl die Geschichte.«
– erkommt, erkommt, erkommt –
Annabella hob den Kopf und lauschte auf die morgendlichen Glocken, die laut durch den immer dunklen Wald hallten.
– erkommt, erkommt, erkommt –
Custo ersparte sich den Blick über seine Schulter, sein Körper war voller Hoffnung, selbst als er hörte, wie der Wolf über die Lichtung preschte.
»So ist es gut, Liebes«, ermunterte er sie, und seine Augen füllten sich vor Stolz mit Tränen. »Erzähl uns die Geschichte, Bella. Lass die Sonne aufgehen.«