5

Annabella knurrte der Magen, während sie darauf wartete, dass die beiden Turteltauben ihren Streit beendeten und sie verdammt noch mal aus ihrem Betongefängnis entließen. Der große wütende Adam schaffte es, sich zu beherrschen, obwohl er Talia, deren schwangerer Bauch gefährlich hervorstand, am liebsten geschüttelt hätte. Die zwei Babys und ihre arme Mutter hatten noch zwei Monate vor sich. Wow.

Ganz bestimmt pochte die Ader an seiner Schläfe, als er auf sie hinabstarrte. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«

Talia lehnte sich zurück und stupste ihn mit ihrem dicken Bauch an. »Ich bin schwanger, nicht krank.«

Annabella musterte die offen stehende Tür; vielleicht konnte sie versuchen zu fliehen.

»Das ist nicht der Punkt, Talia, das weißt du ganz genau. Segue hat Vorschriften für «

»… Vorschriften für Geister«, fiel Talia ihm ins Wort. »Sie ist kein Geist, deshalb gibt es keinen Grund, sie einzuschließen.«

»Hast du sie berührt?« Adams Stimme sank um einige Oktaven.

Annabella fragte sich, was das zur Sache tat, hütete sich aber, die Situation noch zu verschlimmern, indem sie die Frage laut aussprach.

»Und was, wenn sie einer gewesen wäre?«, stieß er hervor.

»Sie ist keiner.«

Adam schloss die Augen und zählte lautlos vor sich hin eins, zwei, drei, vier Als er die Augen wieder öffnete, richtete er seine Aufmerksamkeit auf Annabella. Sie wich einen Schritt zurück.

»Anscheinend sind Sie kein Geist.«

Talia grinste triumphierend, als hätte sie einen Kampf gewonnen und legte einen Arm um Adams Taille. Gegen ihren Willen war Annabella beeindruckt. Sie ergänzten sich. Der finstere, wütende Adam und die sanfte, kleine Talia.

»Sehen wir zu, dass Sie es heute Nacht bequem haben«, sagte Talia. »Sie haben morgen einen großen Auftritt vor sich und müssen sich ausruhen.«

Einen Moment. »Ich bleibe nicht hier.« Sie hatten sie gegen ihren Willen hierher verschleppt und in diese stickige Zelle gesteckt, und jetzt dachten sie, sie würde in diesem Höllenloch schlafen? Nein, nein. »Auf keinen Fall. Wenn Sie mir freundlicherweise meine Taschenlampe wiedergeben könnten, dann fahre ich nach Hause.«

»Wenn Sie von einem Schattenwesen verfolgt werden, ist dies hier der sicherste Ort für Sie.« Talias Augen waren voller Sorge.

Auch Adams stahlharte graue Augen wirkten etwas weicher, als er etwas widerwillig mit den Schultern zuckte. »Es könnte auch sein, dass Sie durch Ihre Anwesenheit in Segue zum Ziel für Geister geworden sind.«

»Na, toll. Sie wollen mir also sagen, dass ich mich in noch größerer Gefahr befinde, weil ich die Hilfe von Ihrem Freund angenommen habe. Ich möchte mit Custo sprechen.«

»Das ist nicht möglich«, erklärte Adam in gleichgültigem, kompromisslosem Ton.

»Oh, das denke ich aber doch«, widersprach Annabella. Ihre Stimme bebte vor Wut. Vielleicht hatte sie nicht die Nerven besessen, die schwangere Frau anzuschreien, aber Adam konnte das aushalten. »Ich will Custo sehen, und zwar sofort.«

»Das ist nicht sicher.«

»Er hat mich deutlich besser behandelt als Sie.«

Adams Augen funkelten. »Custo ist vollkommen abgeschottet, und das wird er auch bleiben. Geister dürfen keinen Besuch empfangen.«

Verzweiflung strömte heiß durch Annabellas Körper. »Sie sind doch anscheinend ein kluger Kopf. Aber irgendwie verstehen Sie mich nicht.«

Adam zog die Augen zusammen, aber das war ihr egal.

»Er. Hat. Mich. Gerettet.« Sie betonte jedes Wort, für den Fall, dass er schwer hörte.

»Custo bleibt abgeschottet. Sie sind herzlich eingeladen, hier die Nacht zu verbringen, während wir uns um Ihr Problem kümmern, aber es steht Ihnen auch frei zu gehen.« Adam machte eine Geste in Richtung Tür.

Arme Talia. Dieser Kerl war unmöglich. Annabella machte auf dem Absatz kehrt, um die Zelle zu verlassen. Gehen? Nun, genau das würde sie tun.

»Bleiben Sie«, sagte Talia und griff nach ihrem Arm. »Nur für heute Nacht.«

Annabella versuchte, sie nicht böse anzusehen. »Ich will das alles nicht. Ich will mein altes Leben zurück.«

»Ich glaube, es gibt kein Zurück«, sagte Talia und schüttelte dabei langsam den Kopf.

Offenbar wusste Talia nichts von der Kraft der Verdrängung. Eine Menge Probleme erledigten sich von selbst, wenn Annabella sie einfach ignorierte und an etwas anderes, etwas Besseres dachte. Es war eine Gabe.

»Eine Nacht«, wiederholte Talia.

Annabella holte tief Luft und seufzte, ihre Wut löste sich in Luft auf. Sie brauchte Schlaf das konnte sie nicht leugnen. Und wenn sie ihr halfen, den Wolf loszuwerden, so wie Custo es ihr versprochen hatte, nun dann. Es gefiel ihr nicht, aber okay. »Eine Nacht.«

Talia löste sich aus Adams Griff und ging zur Tür. »Auf der Krankenstation haben Sie es bequem. Dort gibt es eine Reihe Einzelzimmer, und es ist immer jemand dort, der Ihnen notfalls helfen kann. Ich bezweifle, dass irgendein Wolf, ob aus Schatten oder aus was auch immer, Sie dort belästigt.«

Als sie durch die Tür traten, ließ Adam den Frauen den Vortritt.

Annabella folgte Talia aus der Zelle und fand sich in einem Betongang mit diversen ähnlichen Zellen wieder. In regelmäßigen Abständen waren uniformierte Wachen postiert Panzer schützten ihre Oberkörper, und sie trugen Helme, die ihre Gesichter verdeckten. Vor der Brust hielten sie eine Art Maschinengewehr im Anschlag. Gut, dass sie nicht versucht hatte zu fliehen. Wo zum Teufel war sie?

»Lassen Sie sich von denen nicht stören«, sagte Talia über ihre Schulter hinweg, während sie den Gang hinunterliefen. »Es sind gute Kerle.«

Gute Kerle, richtig. Wenn das gute Kerle waren, mussten die bösen Kerle aber richtig gruselig sein.

Zu dritt erreichten sie ein riesiges Schiebetor aus vernietetem Metall; es war groß genug, dass ein Fahrzeug hindurchpasste. Adam betätigte eine Tastatur, und das Tor ruckte zur Seite, wobei der ohrenbetäubende Lärm von Metall auf Metall durch den Gang hallte. Dahinter befand sich ein langer, erleuchteter Tunnel, der an eine Industrie-Unterführung erinnerte. Eine gelbe gestrichelte Linie ordnete den beiderseitigen Verkehr, aber jetzt herrschte Leere. Trotz der hohen Betondecke vermittelte der Gang ein höhlenartiges Gefühl, als befänden sie sich weit unter der Erde. Trotz all des Platzes und ausreichend Luft kämpfte Annabella mit einem wachsenden klaustrophobischen Druck.

»Ein umgebauter Schutzbunker der Regierung«, erklärte Talia. »Er ist so konstruiert, dass er allem standhält. Für die Beherrschung der Geister bestens geeignet, aber ich finde ihn trotzdem furchtbar.«

»Ich glaube, ich auch«, entgegnete Annabella und schluckte schwer. Sie liebte es gemütlich weiche Kissen, ägyptische Laken, warme Farben, kuschelige Überwürfe auf den Sofalehnen und Schnickschnack auf jeder freien Fläche. Hier war es so kalt, hart und leer wie in einem Grab. »Leben Sie hier?«

Talia lachte, aber es klang gezwungen. »Vorübergehend. Der Hauptsitz von Segue liegt in West Virginia. Er wurde erst kürzlich renoviert und ist sehr luxuriös.«

Das bezweifelte Annabella.

Sie erreichten einen schweren gelben Lastenaufzug und stiegen hinein, es handelte sich um einen offenen Fahrzeugaufzug. Annabella tat es Adam und Talia gleich, trat vom Rand zurück und hielt sich am Geländer fest. Talia lehnte sich an Adams Brust. Langsam bewegte sich der Aufzug durch eine Öffnung in der Decke in eine andere Etage.

Im oberen Stockwerk herrschte reger Betrieb: mit jaulendem Motor transportierte eine Art Bahn Kisten voller Material. Menschen in Laborkitteln, an deren Brust oder Taille ein Ausweis baumelte, schritten zielstrebig durch den Tunnel. Wie in der Etage darunter standen bewaffnete Posten Wache. Schwitzende, muskulöse Männer in Tanktops und kurzen Hosen joggten in perfektem Gleichschritt hinter einem Soldaten her durch die gesamte Etage.

Adam blickte hinunter zu Talia. »Hast du keinen Wagen genommen?«

»Mir war nach Gehen«, erwiderte sie. »Ich habe den ganzen Tag gesessen.«

»Du solltest sitzen.«

»Mach mir keine Vorschriften.«

Annabella folgte dem zankenden Paar aus dem Gang in eine niedrige, moderne Eingangshalle, in der einige zielstrebig wirkende Menschen in Laborkitteln und weißen Hemden ihrer Arbeit nachgingen worin auch immer diese bestand. Mit einer Sache hatten Custo und Adam recht: Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich hier der Wolf einschlich. Hier starb jede Fantasie, selbst Albträume. Bei den ganzen Sicherheitscodes, Ausweisen und Soldaten schien allein die Vorstellung von einem Schattenwolf lächerlich.

Sie erreichten eine doppelte Glastür mit der Aufschrift KRANKENSTATION und wollten gerade eintreten, als Adam von einem aufdringlichen Mann aufgehalten wurde, der ihm etwas ins Ohr flüsterte.

Adam hörte zu und drehte sich dann zu Talia um. »Hast du etwas dagegen, wenn du dich allein um sie kümmerst? Ich habe etwas zu erledigen.«

»Überhaupt nicht. Wir sehen uns später auf dem Zimmer.« Talia griff nach seinem Hemd und küsste ihn auf den Mund. Adam strich mit der Hand durch ihre Haare und blähte die Nasenflügel, als würde er ihren Duft einatmen. Als er sie losließ, hatten die Stressfalten in seinem Gesicht nachgelassen. Annabella empfand diese schlichte Geste als schmerzlich. Obwohl Adam und Talia sich stritten, hatte ihre Verbindung etwas sehr Wahrhaftiges und Verlässliches. Es handelte sich nicht um die schmalzige Liebe aus dem Märchen, sondern um die dauerhafte Variante. Die, bei der ein Paar die Höhen und Tiefen des Lebens miteinander teilte. Das war bei Annabellas Eltern anders gewesen, bei jeder Beziehung, die sie kannte. Daraus hatte sie den Schluss gezogen, dass es so etwas nicht gab. Aber hier war sie. Hier in diesem bedrückenden Bunker. Ganz echt. Wenn es die »wahre Liebe« gab, dann war sie das.

»Bitte überanstrenge dich nicht«, sagte Adam sanft und ging die Halle hinunter.

Annabella schluckte heftig, packte ihr neu erworbenes Wissen beiseite, um sich später damit zu beschäftigen, und folgte der watschelnden Talia auf die Krankenstation. Zischend schlossen sich die Schiebetüren hinter ihnen. In der Mitte des Eingangsbereiches stand ein langer weißer Tresen, hinter dem ein großer breitschultriger Pfleger Dienst tat. »Geht es Ihnen gut, Dr. Thorne? Machen die Babys Schwierigkeiten?«

»Ich bin nicht meinetwegen hier, Rudy«, antwortete Talia. »Ich bin wegen Misses Ames hier. Sie braucht ein Einzelzimmer und muss sich richtig ausschlafen. Können Sie mir helfen, sie unterzubringen?«

»Die Fünfzehn ist frei«, sagte Rudy. Er blickte zu Annabella. »Brauchen Sie etwas zum Einschlafen?«

Daran hatte sie nicht gedacht. Vielleicht war es eine gute Idee, etwas zu nehmen. Eine Schlaftablette konnte sie für acht bis zehn Stunden ausschalten, sie würde erfrischt aufwachen und war bereit für den größten Tag ihres Lebens. Ohne das war ihr Ausruhen vermutlich zum Scheitern verurteilt.

»Ja«, sagte sie. »Haben Sie etwas Leichtes? Etwas, das mich schlafen lässt, aber nicht gleich ins Koma versetzt?«

»Ich sehe, was ich tun kann. Die Fünfzehn ist direkt dort drüben.« Rudy deutete den Gang hinunter. »Brauchen Sie sonst noch etwas für die Nacht? Kontaktlinsenmittel oder irgendetwas anderes?«

Annabella blickte zu Talia. »Nicht, wenn ich meine Tasche zurückbekomme.« In der sich zufällig ein alter, zerquetschter Schokoladenproteinriegel befand. Ihr Abendessen.

»Natürlich. Adam ist sorgfältig.« Talia stieß einen tiefen Seufzer aus. »Gehen Sie in Ihr Zimmer. Ich erledige einige Anrufe und lasse sie Ihnen gleich bringen. Sie werden umgehend im Bett liegen und schlafen.«

»Danke«, sagte Annabella. Das Wort fühlte sich komisch an. Wieso um alles in der Welt bedankte sie sich bei ihr? Dafür, dass sie ihr die Tasche wiedergab, die sie bei ihrer Entführung konfisziert hatten? Verrückt. Andererseits hatte Talia sich ihr gegenüber ausschließlich freundlich verhalten. Und was war mit Custo? Verhielten sie sich ihm gegenüber auch freundlich?

Annabella schüttelte sich, um einen klaren Kopf zu bekommen. Sie war zu müde, um nachzudenken und konnte ohnehin nichts tun. Sie würde schlafen und sich morgen um alles kümmern. Also drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zu jener Tür, über der ein Zettel mit der Nummer fünfzehn hing.

Sie fasste die Klinke und trat ein. Ein kleiner und ordentlicher Raum. In der Mitte der gegenüberliegenden Wand stand ein mit weißen Laken bezogenes Krankenhausbett, am Fußende lag eine zusammengelegte beige Decke. Schräg gegenüber vom Eingang befand sich eine weitere Tür. Sie war nur angelehnt. Durch den Spalt sah Annabella den glänzenden Rand einer Toilette, die ein eigenes Bad versprach. Nicht luxuriös, aber sauber.

Okay. Hier konnte sie sich eine Nacht ausruhen. An Rudy, dem zum Pfleger gewordenen Linebacker, kam nichts vorbei. Vielleicht stellte das tatsächlich die beste Lösung dar.

An der Konsole über dem Bett befand sich ein Oberlicht. Annabella ging darauf zu und suchte nach dem Schalter, um für etwas zusätzlichen Schutz zu sorgen. Während sie an der Lampe herumfummelte, wurde die Tür hinter ihr geschlossen.

Die Schlaftablette? Ihre Tasche?

Sie drehte sich um und entdeckte einen Soldaten. Er hatte einen Bürstenhaarschnitt und einen breiten Kiefer. Seine kräftigen, von der Sonne gebräunten muskulösen Arme wurden von einem engen ärmellosen T-Shirt betont. Er trug sackartige Tarnhosen, die in schwarzen Stiefeln steckten. Keine Tasche.

Als er nichts sagte, fragte sie zwangsläufig: »Ja?«

Er legte den Kopf extrem auf die Seite, neigte das Kinn etwas nach unten und ließ sie nicht aus den Augen.

Vielleicht war der Kerl verwirrt. »Rudy, der Pfleger am Empfang, hat mir den Raum zugewiesen«, erklärte sie.

Lautlos schlich der Soldat einen Schritt nach vorn. Das Licht der Bettlampe fiel auf sein Gesicht, beleuchtete einige alte Aknenarben auf seinen Wangen und seine gelben Augen.

Ein Schaudern überlief Annabellas Körper, ihr Herz klopfte laut. Sie ließ die Hand auf das Kopfteil des Krankenhausbettes fallen und drückte die Klingel, um den Pfleger zu rufen.

Der Soldat schlich noch einen Schritt auf sie zu und zog dabei leicht die Schultern nach unten.

Ihr Herz hämmerte zweimal laut, bevor es anfing zu rasen und in ihrem Kopf pochte. Der Soldat kam ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht, woher.

Er atmete ein paarmal kurz durch die Nase ein. »Ich kann nicht mehr so gut riechen.«

Annabella presste sich flach gegen die Wand und die Konsole und sah aus dem Augenwinkel, wie das Licht hell über ihre Schultern strömte. Eigentlich hatte sie es gleich gewusst, als sie ihn gesehen hatte, aber erst jetzt begriff sie. »Der Wolf.«

Er schlich weiter auf sie zu, zog die Oberlippe hoch und bleckte die Zähne. Seine gelben Augen färbten sich schwarz, die Iris von tiefen, wogenden Schatten verdeckt.

»Wer? Wie? Ich verstehe das nicht.« Hysterie kroch wie Galle ihre Kehle hinauf.

»Was bist du?«, fragte der Wolf mit leiser heiserer Stimme und einem tiefen Knurren in der Brust. Erneut legte er den Kopf auf die Seite und kam näher.

Annabella klammerte sich an das Bettgeländer und überlegte, ob sie darübersteigen oder im Licht stehen bleiben sollte, wo sie geschützt war. So viel taugte der Schutz allerdings nicht mehr der Wolf stand jetzt im Dämmerlicht des Raumes. »Was bist du?«, fragte sie zurück.

Er dachte über ihre Frage nach.

»Ich bin ein Jäger.« Er neigte den Kopf zu der nackten Haut an ihrem Hals. »Du und der andere, ihr seid in mein Gebiet eingedrungen.«

Sie zog den Kopf zur Seite, aber er streifte dennoch ihre Wange. Sie spürte seinen heißen Atem in ihren Haaren und an ihrem Ohr.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Was willst du von mir?« Ihre Fragen wurden von Schluchzen unterbrochen. Obwohl sie den Körper so anspannte, dass es schmerzte, ließ ein heftiges Schaudern sie unter ihm erzittern.

Er stöhnte, es war beinahe ein Knurren, bevor er antwortete. »Dieser Körper will in deinen eindringen. Dich ausfüllen. Sitzt dort deine Magie?«

»Oh, bitte nicht.« Tränen liefen über ihre Wangen. Ihre Knie drohten nachzugeben.

»Aber wieso strahlst du? Wieso gehorcht die Magie dir? Wie erleuchtest du die Schatten?« Seine tiefe Stimme klang äußerst verwundert.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, keuchte sie.

Heiße, feuchte Zähne zerrten an ihrem Ohrläppchen. »Zeig es mir noch einmal.«

»Dir was zeigen?«, wimmerte sie und drängte ihre Arme zwischen ihre Körper, um ihn wegzustoßen.

»Wie du unsere Welten verbindest.« Seine Hand umfasste ihren Po, und er drängte sein Becken gegen ihres. »Aber du fühlst dich so gut an, ich will fast nicht zurück.«

»Bitte geh zurück«, flehte sie. »Du gehörst nicht hierher.«

»So kann ich es schon noch ein bisschen mit dir aushalten.« Er knurrte wieder. »Es fühlt sich so gut an.«

»Geh zurück.«

Seine andere Hand glitt über ihre Taille. Er umfasste ihre Brust. »Ich bleibe. Ich glaube, ich kann unsere Welten selbst ein wenig verbinden.«

Annabellas nächster Atemzug löste sich in einem ängstlichen hohen Wimmern auf. Ein Geräusch, das eine andere Person machte. Eine Person, die zuließ, dass ihr Schlimmes angetan wurde. Eine Person, die nicht daran dachte, sich zu wehren. Nicht sie.

Als ihr das bewusst wurde, blitzte kalte Wut in ihrem Kopf auf, breitete sich in ihrem Körper aus und krampfte ihren Magen zusammen. Durch ihren Entschluss gewannen ihre Beine an Kraft. Zitternd drehte sie sich um, sodass ihr Körper sich perfekt an den des Wolfs schmiegte. Er presste sich erfreut an sie. Dann zog sie fest und schnell das Knie nach oben und setzte dabei all ihre Kraft und Geschicklichkeit ein.

Er stieß einen gellenden Schrei aus, wich zurück, taumelte ein paar Schritte und hielt sich die Lenden. Als er das Gesicht hob, war er kreidebleich, die kaum sichtbaren Adern um seine Augen färbten sich vor Schmerz und Überraschung tiefschwarz.

Annabella verließ ihre Ecke, aber er schnitt ihr den Weg zur Tür ab. »Hilfe!«, schrie sie. Sie hatten gesagt, hier sei sie sicher. Wo war Rudy?

»Wieso hast du das getan?«, knurrte der Wolf und richtete sich langsam auf.

»Bleib, wo du bist, oder ich mache das noch einmal.«

Plötzlich wirkten seine Augen traurig, verstört. »Aber wir könnten es so gut haben «

Wenn er noch einmal »gut« sagte, würde sie ihm seine »Brücke« abreißen und ihm in den Hals schieben.

Es klopfte höflich an der Tür, dann ging sie auf, und Talia steckte den Kopf herein. »Ich habe Ihre Tasche.«

Verdammt, nicht Rudy. Die schwangere Talia. Annabella durfte nicht zulassen, dass der einzigen netten Person in diesem Laden und ihren Babys ihretwegen etwas geschah. »Gehen Sie, Talia. Sofort.«

Der Kopf des Wolfes zuckte zur Tür.

Talias Miene verriet Angst. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, aber sie lief nicht weg. Mit hartem Gesichtsausdruck stieß sie die Tür ganz auf.

»Das ist der Wolf, Talia, lauf!«

Aber Talia hörte nicht auf sie, sie hatte den Blick auf den Soldaten gerichtet. »Du bist ein Wesen aus dem Schattenreich?«

»Ja«, murmelte er leise. »Was bist du?« Er zog das du zu einem Wolfsheulen in die Länge.

»Eine Todesfee«, erwiderte sie.

Todesfee? Was zum Teufel war das? Das ergab alles keinen Sinn, aber es blieb keine Zeit für Erklärungen. Nicht, wenn der Wolf auf Talia zuschlich.

»Wolf«, rief Annabella spitz, »du willst mich.«

»Und ich kriege dich«, erwiderte er über seine Schulter hinweg.

Der Raum verfinsterte sich merklich, die Schatten gewannen eine Textur, wurden dichter und legten sich auf den Raum. Das Licht über dem Bett schien nur noch schwach. Annabella hielt die Luft an, bis ihre Lungen brannten.

»Geh zurück ins Schattenreich«, befahl Talia. Die Dunkelheit peitschte um sie herum, der Raum füllte sich mit kinetischer Energie.

»Nein!«, bellte der Wolf mit menschlicher Kehle.

»Du sollst zurückgehen, habe ich gesagt!« Talias Stimme klang auf einmal so durchdringend, dass es in den Ohren schmerzte.

Der Wolf taumelte, zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag erhalten, und löste sich wie ein Mottenschwarm in eine flackernde dunkle Wolke auf. Die Schatten sammelten sich in einem dunklen, dichten Pulk, rasten an Talia vorbei, verschwanden im Flur und lösten sich in den dunklen Flecken auf, die das gedämpfte Licht bildete.

Einen Augenblick konnte Annabella überhaupt nichts denken. Ihr Körper verlangte nach Sauerstoff, und schließlich stieß sie die Luft aus, stützte sich an der Wand ab und atmete tief ein. Beinahe sackte sie zusammen, aber Talia kam ihr zuvor. Sie krachte mit voller Wucht auf die Knie. Annabella schoss nach vorn und fing Talia auf, bevor sie auf ihren dicken Bauch fiel.

»Oh, Gott. Sind Sie okay?« Annabella legte ihre Arme um sie und wollte ihr auf das Bett helfen, aber Talia stöhnte. Bis Hilfe kam, musste der Fußboden genügen.

»We…«, Talia schnappte nach Luft, »…hen.«

Das war nicht gut. Nicht, wenn sie noch zwei Monate vor sich hatte. »Hilfe!«, schrie Annabella den Flur hinunter. Zu Talia sagte sie: »Alles wird gut.«

Talia hob eine Hand, ihre Fingerspitzen waren voll Blut. Angsterfüllt sah sie Annabella an.

»Tief durchatmen«, sagte Annabella, wobei sie selbst übertrieben ein- und ausatmete für den Fall, dass Talia vergessen hatte, wie das ging. »Sie kommen wieder in Ordnung.«

»Meine Babys.«

»Die auch. Sie sind ja schon auf der Krankenstation.« Annabella half ihr, sich auf dem Boden aufzusetzen. »Wahrscheinlich müssen Sie sich nur richtig ausruhen. Und von ihrem Mann bevormunden lassen.«

Talia lächelte schwach. Sie blickte den Flur hinunter. »Sie haben gesagt, er wäre ein Wolf.«

»Das dachte ich.«

»Talia!« Eine Männerstimme.

Annabella blickte auf und sah Adam den Flur hinunterstürzen. Bevor Annabella überhaupt blinzeln konnte, kniete er bereits hinter Talia.

»Der Wolf ist in Segue«, keuchte Talia. »Aber im Augenblick ist er verschwunden.«

»Wo bist du verletzt?«

»Der Wolf hat sie nicht angerührt«, sagte Annabella. »Ich glaube, es ist der Schock.«

Talia schüttelte weinend den Kopf. »Ich habe die Schatten benutzt, aber durch die Schwangerschaft bin ich nicht so stark. Ich konnte ihn nicht ganz verbannen.«

Wieder Schatten. Annabella hatte gedacht, Schatten wäre ein Ort, aber jetzt schien es sich um mehr zu handeln. Etwas, das man benutzen und lenken konnte. Es war eine verrückte Vorstellung, aber sie hatte es mit ihren eigenen Augen gesehen: Talia hatte den Raum verdunkelt, ihn mit wirbelnden Schatten gefüllt, die ihr gehorchten, und als sie den Wolf angeschrien hatte, eine seltsame Energie verströmt.

»Schhh.« Mit den Lippen berührte Adam ihre Haare und rang offenbar um Fassung. »Liebes, du kommst wieder in Ordnung. Die Babys auch.« Er nahm sie in die Arme und stand auf. Annabella wich zurück, damit er Talia auf das Bett tragen konnte.

Jenseits des Raums hörte Annabella Schreie, am Eingang zur Krankenstation brach ein Tumult los.

Ein Arzt. Talia brauchte einen Arzt.

Annabella rannte den Flur hinunter und griff die erste Person in einem weißen Kittel. »Talia braucht einen Arzt.«

»Ich bin aus der Forschung.« Der Mann reckte den Kopf und sah sich um. »Wo ist Powell?«

»Ich bin hier«, antwortete eine weibliche Stimme. Eine Frau mittleren Alters, gekleidet in eine Stoffhose und blassrosa Seidenbluse, schoss hinter dem Empfangstresen nach oben. Annabella sah dahinter und entdeckte Rudy, der mit offenen Augen und starrem Blick auf dem Boden lag. Tot.